Leben
Der Medicus: Zu Besuch am Film-Set des Weltbestsellers in Marokko
- Text: Gaby Herzog; Foto: Universal Pictures
Endlich: Der Weltbestseller «Der Medicus» wurde verfilmt. Wir waren beim Dreh in Marokko dabei, Audienz bei Sir Ben Kingsley inklusive.
Mohammads Erfolgsformel ist erstaunlich einfach. «Je weniger Zähne du im Mund hast und je länger dein Bart ist, desto häufiger wirst du als Statist gebucht», verrät er, als er sich in der Drehpause neben mir auf den Stufen vor einem historischen Stadttor niederlässt. Es ist einer der wenigen Orte, an denen es am Set in den Atlas-Studios ein wenig Schatten gibt. Aber offenbar setzt die trockene Wüstenhitze meinem neuen Bekannten überhaupt nicht zu. Wie selbstverständlich trägt er in der glühenden Mittagssonne einen grauen Turban und einen schweren Mantel aus mindestens sechs Lagen grobem Leinenstoff. «Eine Ritterrüstung aus Metall ist sehr viel unbequemer», sagt er und grinst breit. Möglichst unauffällig erhasche ich einen schnellen Blick in seinen Mund und schlussfolgere: Der Mann ist ein Leinwandprofi. Nur noch ein letzter einsamer Schneidezahn, gelb, schief und erstaunlich lang, ist stehen geblieben.
Mohammad errät meine Gedanken. «‹Der Medicus› ist mein 39. Film», erklärt er. Er habe schon in «Gladiator», «Kingdom of Heaven» und in mehreren Bibelverfilmungen mitgewirkt, war Bettler, Christ, Soldat und Israelit. Mohammad ist 61 Jahre alt. Heute spielt er einen Mullah, einen islamischen Rechtsgelehrten. Vor zwei Tagen war er in einer anderen Szene Marktschreier, im echten Leben ist er Hirte. «35 Schafe, 7 Ziegen, 5 Kinder, davon 3 Jungs», zählt er stolz seinen Besitz auf, während Regisseur Philipp Stölzl Anweisungen ruft, um das Set vom Dreh zu «Medicus» für die nächste Aufnahme einzurichten. als in Europa oder Hollywood. Mohammad und die anderen Laiendarsteller verdienen rund 220 Dirham, umgerechnet zirka 24 Franken, pro Tag. 16 Stunden in praller Sonne oder bis in die tiefste Nacht sind im Lohn inklusive. Ein Knochenjob, aber das macht ihnen nichts aus. «Als Bauer bin ich Selbstversorger», sagt Mohammad. «Ich erwirtschafte kaum Geld. Dank der Statistenarbeit ist mein Lebensstandard gestiegen.»
Eisgekühlte Cola und ein Muskelmann
Dann schaltet er sein Smartphone aus und lässt es in seinem Umhang verschwinden. Am Set gilt nicht nur Telefonier-, sondern auch striktes Fotoverbot – vor allem wenn Schauspielstars anwesend sind. Unter einem schützenden weissen Sonnenschirm wird Ben Kingsley zur Probe geleitet. Die Kostümbildnerin zupft ihm den Turban zurecht, die Maskenbildnerin trägt frischen Puder auf, ein junger Mann bringt eilig einen Klappstuhl, falls der Star sich setzen möchte. «Diese Prominenten haben immer Sorge, man könnte ein Bild von ihnen auf Facebook posten», erklärt Mohammad. «Ich glaube, sie wollen nicht, dass man sieht, wie schrecklich sie schwitzen. Aber das ist ja kein Wunder, wenn man in jeder freien Minute gleich im klimatisierten Wohnwagen verschwindet und dort eisgekühlte Cola trinkt. Der ständige Temperaturwechsel ist für den Körper extrem anstrengend.» Der Set-Aufnahmeleiter gibt ein Zeichen, und Mohammad geht in Position. Er hockt sich im Schneidersitz auf ein Podest und legt eine Schriftrolle neben sich.
Ohne eine Miene zu verziehen, geht Ben Kingsley neben Tom Payne, dem jungen Medicus, auf die Knie. Hinter ihnen baut sich Muskelmann Karim auf. Auch ihn habe ich eben kennen gelernt. Er ist ein Nachbar von Mohammads Bruder. Wenn er nicht für eine Produktion gebucht ist, betreibt er einen kleinen Laden für Baumaterial. Die Leute kommen gern zu ihm, weil er immer die neusten Witze kennt und seine Frau guten Tee kocht. Als Statist lässt man ihn nur auf der Seite der Bösen mitspielen. Wohl wegen seines breiten Kreuzes und des markanten Kinns. Beides hat er von seinem Grossvater geerbt, den alle nur «Said den Baum» nannten. Knapp 26 Jahre nach der Buchveröffentlichung kommt der Weltbestseller (Originaltitel: «The Physician») von Noah Gordon an Weihnachten in die Kinos. Damals lasen rund 21 Millionen Menschen weltweit den Roman. Ganz besonders im deutschsprachigen Raum und in Spanien war der Historienwälzer beliebt. Es ist die Geschichte einer faszinierenden Reise im 11. Jahrhundert: Der Waisenjunge Rob Cole (gespielt vom britischen Nachwuchsstar Tom Payne) geht bei einem Bader-Chirurgen in die Lehre.
Hier entdeckt er sein Interesse für den Arztberuf und macht sich von England aus auf Richtung Isfahan. Dort will er bei Ibn Sina (Ben Kingsley), dem «Arzt aller Ärzte», studieren. In Europa ist die Heilkunst im dunklen Mittelalter noch von Religion und Aberglaube bestimmt. Man schwört auf Aderlass, Zaubermittelchen und Gebete. Doch selbst im damals so fortschrittlichen Isfahan gibt es ein Tabu: Operationen am offenen Körper. Rob und Ibn Sina widersetzen sich dem Verbot. Als sie dabei erwischt werden, sollen sie hingerichtet werden. Die marokkanische Filmstadt Ouarzazate am Fuss des Atlas-Gebirges ist ein beliebter Drehort für internationale Historienfilme. Die Region gilt als politisch recht stabil und sicher. «Immer wenn es warm und staubig aussehen soll, kommen die Filmteams hierher», erklärt Mohammad. Die Bedingungen sind ideal. Im Umkreis von hundert Kilometern gibt es jede gewünschte Naturkulisse: höchste Berge, dramatische Schluchten, Oasen, eine Wüste, aber auch einen See, der so gross ist, dass ein geschickter Kameramann einen Ozean daraus machen kann.
In der Einöde gibt es kaum Strassen oder Stromleitungen, die bei grossen Kamerafahrten das Panorama stören und später am Computer wegretuschiert werden müssen. Auch aufgrund des niedrigen Lohnniveaus sind die Produktionskosten um gut die Hälfte günstiger Karim legt den Krummsäbel an den Nacken von Ben Kingsley an. Als die Klappe fällt, holt er aus. Einen kurzen Moment später sausen Pfeile durch die Luft. Der Scharfrichter wird am Hals getroffen, gibt einen röchelnden Ton von sich und stürzt zu Boden. Mohammad springt auf und hüpft erstaunlich wendig über einen Mauervorsprung. Fünfzig Soldaten stürmen mit lautem Brüllen die Szene, zerren Medicus Rob und Ibn Sina mit sich. «Cut!», ruft der Regisseur. Sofort ist der Tumult beendet. Das ist Professionalität, die die Filmemacher schätzen. «Wir spielen alles und jeden», sagt Mohammad, «da gibt es nie Diskussionen.» Zumindest nicht bei den männlichen Rollen. Einheimische Komparsinnen, die bereit sind, leicht bekleidete Prostituierte zu spielen, waren in ganz Ouarzazate nicht aufzutreiben. Auch wenn mittlerweile fast 100 000 Menschen in der Wüstenstadt wohnen, «am Ende kennt man sich doch», sagt Mohammad.
Begegnung mit einem Sir
Erst in der Touristenstadt Marrakesch, 200 Kilometer entfernt, konnten die Filmemacher passende Statistinnen finden. Ansonsten unterstützen Einheimische und Behörden die Filmteams, wo sie können. Drehgenehmigungen werden ohne strenge Auflagen erteilt, an einer neuen Filmschule werden Kulissenbau und Technik gelehrt, immer mehr Handwerker siedeln sich an. Wenn für grosse Kampfszenen viele Pferde benötigt werden, reiten die Bauern auf ihren Pferden her. Nach einem Dreh müssen die Kulissen nicht zurückgebaut werden. Sie dürfen in der Steinwüste stehen bleiben und werden bei den nächsten Produktionen weitergebaut. Mit ein paar kleinen Veränderungen wird aus dem alten Jerusalem das Zentrum Roms, aus einem Marktplatz in Ägypten der Vorhof einer Moschee in Persien. Noch viermal wird die Kampfszene, die laut Skript in der grossen Moschee in Isfahan (sie liegt rund 5000 Kilometer von Ouarzazate entfernt) stattfindet, wiederholt. Dann ist Mittagspause. Mohammad und die anderen Statisten bummeln den Berg hinunter zum Catering-Zelt.
Ben Kingsley zieht sich in den Wohnwagen zurück und gibt Interviews. Oder passender: Er hält Hof. Mit gefalteten Händen sitzt er kerzengerade am Tisch, nickt nur leicht zur Begrüssung. «Vergessen Sie bloss nicht, ihn Sir zu nennen», hat mir die Maskenbildnerin noch zugeflüstert, «sonst schmeisst er Sie hochkant raus.» Seit Ben Kingsley von Queen Elizabeth zum Ritter geschlagen wurde, besteht er auf «Sir Ben». Er findet, das klinge wie ein Kosename für einen Freund. Für ihn sei der Titel eine «späte Umarmung» seiner Heimat England. Offenbar fühlte sich der Oscar-Preisträger viele Jahre von seinen Landsleuten schrecklich vernachlässigt und glaubte seine Arbeit nicht ausreichend gewürdigt. Er sagt, der Titel habe bei ihm einige Narben geheilt, die er seit seiner Jugend mit sich trage. «Aha», kommentiere ich etwas einfallslos. Ich bin den Umgang mit traurigen Rittern nicht gewohnt. Wer sein Verhalten für arrogant halte, verstehe ihn völlig falsch, versichert Sir Ben. «Wenn ich am Set bin, lebe ich in einer Blase. Da bin ich so hoch konzentriert, dass ich nichts anderes mehr wahrnehme. Nur zwischen ‹action› und ‹cut› fühle ich mich lebendig.»
Nach ein paar Minuten im 18 Grad kalten Wohnwagen bin ich durchfroren. Um zu untermauern, wie bodenständig er trotz Ritterschlag, Landsitz in der Nähe von Oxford und Topgagen geblieben ist, erzählt Sir Ben, dass er sich eigentlich gar nicht so gern mit Hollywoodstars umgibt. Am liebsten spricht er mit ganz normalen Menschen, mit seinem Gärtner zum Beispiel. Auch an der Supermarktkasse habe er schon unheimlich viel über das Leben gelernt, sagt er. Und am Set natürlich, weil er da ständig auf neue Leute trifft. Als nach 14 Minuten die Assistentin an der Tür klopft und signalisiert, dass die «Audienz» jetzt beendet ist, überlege ich kurz, wie es wäre, Sir Ben einmal mit Mohammad und Karim bekannt zu machen, die neben dem Catering-Zelt ein Mittagsschläfchen halten. Aber vielleicht ist es draussen einfach zu warm für einen englischen Sir.
— Ab 25. 12.: «Der Medicus» (Orig. «The Physician») von Philipp Stölzl. Mit Tom Payne und Ben Kingsle
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Wie es den Filmleuten gefällt: Das marokkanische Ouarzazate ist mal Jerusalem, dann altes Rom und hier grad Isfahan
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Warten, spielen, warten: Statist Mohammad (M.) mit seinen Kollegen