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Mattress Girl: Chronik einer mutmasslichen Vergewaltigung

Leben

Mattress Girl: Chronik einer mutmasslichen Vergewaltigung

  • Text: Christoph Cadenbach; Illustrationen: Gregory Gilbert-Lodge

Ob Emma in jener Nacht 2012 in ihrem Studentenzimmer von Paul vergewaltigt wurde, wissen noch heute nur die beiden. Versuch einer Wahrheitsfindung.

Zu Beginn ein Test: Geben Sie den Namen Paul Nungesser bei Google ein, und bilden Sie sich eine Meinung über den jungen Mann.

Dass er nun einem Journalisten gegenübersitzt, hat mit diesen Suchergebnissen zu tun. Im Internet ist Paul, 23 Jahre alt, aus Berlin, ein mutmasslicher Vergewaltiger. Oder ein Vergewaltiger – in manchen Artikeln wird das mutmasslich weggelassen.

Die Geschichte hat im September 2014 weltweit Schlagzeilen gemacht. Eine Kunststudentin der Columbia-Universität in New York, Emma Sulkowicz, trägt seitdem eine Matratze mit sich herum, wann immer sie auf dem Campus unterwegs ist. Ein schweres blaues Ding, 22 Kilogramm, 90 mal 200 Zentimeter gross. «Carry that Weight» – Trage diese Last – nennt sie ihre Performance, denn auf einer ähnlichen Matratze wie dieser sei sie von ihrem Kommilitonen Paul im August 2012 vergewaltigt worden. Sagt sie.

Paul sagt, das stimme nicht. Für ihn ist es keine Kunstperformance, sondern eine Mobbingkampagne. In einem menschenleeren Seminarraum der Columbia-Architekturfakultät schildert er im Dezember 2014 seine Perspektive auf die vergangenen drei Jahre. Es ist eine detaillierte, konzentrierte Selbstentblössung. Gleich zwei Aufnahmegeräte laufen mit, denn auch Paul hat eins eingeschaltet. Er ist vorsichtig, misstrauisch. «Ich habe viele Vertrauensbrüche erlebt», sagt er.

Ein paar Tage zuvor eine andere Selbstentblössung: diesmal im Auditorium des Brooklyn Museum. Der Saal ist in warmes Licht getaucht, die 400 Plätze sind fast alle besetzt. In den Stuhlreihen: New Yorker Kunstpublikum und Studenten. Auf der Bühne: Emma Sulkowicz und Roberta Smith, Kunstkritikerin der «New York Times». Sie hat eine der ersten Rezensionen über Emmas Performance geschrieben, darin vergleicht sie das Projekt mit Werken berühmter Aktionskünstler wie Marina Abramovic und Tehching Hsieh. Auch führt sie die Analogie der Performance zum Kreuzweg von Jesus an. Roberta Smith ist ein Fan, wie die meisten anderen hier im Saal. Emma, 23 Jahre alt, wird es schon zu viel, wie sie sagt: «Fremde Leute halten mich auf der Strasse auf, fassen mich an, als wäre ich eine Heilige, und merken dabei nicht, dass ich genau das nicht will, weil sie in meinen privatesten Raum eindringen.»

Nachdem Emma mit ihrer Performance begonnen hatte, wurde sie das Gesicht einer nationalen Bewegung, einer neuen «sexuellen Revolution an den Universitäten», wie das «New York Magazine» in einer Titelstory über Emma schrieb. Hintergrund dieser Debatte ist die Annahme, dass sexuelle Übergriffe an den US-Universitäten beinah alltäglich sind. In manchen Artikeln sprechen die Autoren von einer «Vergewaltigungsepidemie», die vor allem an den Elitehochschulen grassiere. Tagsüber würden sich die Studenten in der Bibliothek und beim Sport messen, abends beim Trinken und Frauenabschleppen, bevorzugt in den Häusern der zahlreichen Studentenverbindungen.

Yes means Yes

Seit gut drei Jahren ist das Thema in den USA mehr und mehr in der Öffentlichkeit präsent, weil sich im ganzen Land Initiativen gegründet haben, um gegen diese beschriebene «Vergewaltigungskultur» anzukämpfen. Zwischenzeitlich hat sich selbst Barack Obama eingeschaltet und eine Taskforce im Weissen Haus installiert, die daran arbeitet, Studentinnen besser vor sexuellen Übergriffen zu schützen. In Kalifornien wurde im September 2014 ein Gesetz verabschiedet, das umgangssprachlich als Yes Means Yes bekannt geworden ist. Demnach sollen Universitäten ihre Studenten dazu verpflichten, vor einem möglichen Geschlechtsverkehr aktiv das beiderseitige Einverständnis abzuklären. Und Obamas Parteikollegin Hillary Clinton hat bei einem Auftritt die besondere Rolle von Emma in diesem Diskurs betont: «Ihr Anblick sollte uns alle verfolgen», sagte Clinton.

Paul sagt, er vergesse manchmal für einen Moment, dass er dieser Typ sein soll, der neben Emma im Zentrum der Aufregung steht. Hillary Clinton, Barack Obama, das ist die Dimension des Wirbels, in dem er steckt. Und so wie Emma zum Symbol für Vergewaltigungsopfer geworden ist, die den Mut gefunden haben, über ihre Verletzungen zu sprechen, ist Paul zum Symbol geworden für die mutmasslichen Vergewaltiger, die ihre Schuld nicht anerkennen wollen. Wenn ihm dieser Umstand dann wieder bewusst wird, spüre er ein Ziehen im Magen, das ihn schwindlig werden lässt, sagt er.

August 2011: Welcome to the greatest University of the World! Paul ist begeistert von diesem Gefühl, das ihm in den ersten Wochen an der Columbia vermittelt wird. Spätere Staatspräsidenten und Nobelpreisträger haben hier studiert. Das Selbstverständnis der Privatuniversität im Nordwesten Manhattans ist entsprechend selbstbewusst. An seinem Gymnasium in Deutschland hat Paul dieses positive Lernklima immer vermisst. Er war Klassensprecher, Schulsprecher, hat im Chor gesungen und fährt, seit er 14 ist, im Verein Rennvelo. Seine Mutter ist freiberufliche Lektorin, sein Vater Primarlehrer.
An der Columbia fängt Paul im ersten Semester gleich mit dem Rudern an und belegt Seminare in den unterschiedlichsten Fachrichtungen: Mathematik, Literatur, Bühnenbild. Sein Bachelor-Studiengang Liberal Arts kostet rund eine Viertelmillion Dollar, doch Paul hat ein Stipendium, das fast die gesamte Summe deckt.

Emma lernt er nach ein paar Wochen über gemeinsame Freunde kennen. Sie ist in Manhattan aufgewachsen und hat dort die Dalton School besucht, eine der angesehensten Privatschulen der USA. Ihre Eltern sind stadtbekannte Psychiater, ihr Vater hat sich auf das Coaching von Spitzenmanagern spezialisiert. Emma überlegte, Physik zu studieren, weil sie in der Schule darin besonders gut gewesen war, entschied sich dann aber schnell für den Schwerpunkt visuelle Kunst. Nebenbei ficht sie im Uni-Team und engagiert sich bei Alpha Delta Phi, einer Studentenverbindung, die als besonders liberal und locker gilt – eine Verbindung für Studenten, die Verbindungen eigentlich ablehnen. Auch Paul ist dort Mitglied. Es dauert bis zum Frühjahr, bis ihre Freundschaft enger wird.

Facebook-Kontakt

Zweimal haben sie in diesem Frühjahr Sex, das sagen beide, aber eine feste Beziehung entsteht daraus nicht. «Weil uns die Freundschaft wichtiger war und wir sie nicht riskieren wollten», sagt Paul. Als das erste Studienjahr vorbei ist, fliegt er für die Sommerferien nach Deutschland; sie schreiben sich öfter über Facebook in dieser Zeit.

Emma: Paulllll
Paul: emma. que pasa?
Emma: ahhhh, paul i miss you so much
Paul: word

Ende August 2012 kommt Paul nach New York zurück, und die beiden treffen sich nach einer Party wieder. Sie umarmen sich, küssen sich und gehen kurz darauf gemeinsam in Emmas Zimmer. Dies ist der Moment, an dem die Geschichte der beiden verschiedene Richtungen nimmt.

Emma sagt, dass Paul ziemlich betrunken gewesen sei. Sie hätten erst einvernehmlichen Sex gehabt, dann habe er sie plötzlich ins Gesicht geschlagen, gewürgt und anal vergewaltigt. Danach sei er aus dem Zimmer gerannt.

Paul sagt, er habe an diesem Abend höchstens zwei Cocktails getrunken. Der Sex sei ausnahmslos einvernehmlich gewesen, auch der Analverkehr. Er habe sie weder geschlagen noch gewürgt, und nach dem Sex seien sie gemeinsam eingeschlafen. Im Morgengrauen sei er aufgewacht und habe duschen wollen, deshalb sei er gegangen, ohne Emma zu wecken. Ein paar Tage später hätten sie über SMS und Facebook wieder Kontakt gehabt und sich in den Wochen darauf auch einige Male an Partys gesehen, dann aber zunehmend aus den Augen verloren.

Eine von fünf

Acht Monate später, im April 2013, zeigt Emma ihn bei der Uni an. Kurz darauf reichen auch zwei andere Studentinnen Beschwerde wegen sexueller Übergriffe gegen Paul ein.

An den US-Universitäten werden neunzig Prozent der sexuellen Übergriffe von Studenten begangen, die dies nicht zum ersten Mal tun oder nicht zum letzten Mal tun werden: So lautet das Ergebnis einer Studie, die von vielen Journalisten und den meisten Aktivisten angeführt wird, die sich mit der Vergewaltigungskultur an den Universitäten beschäftigen. Es ist die These von den Serientätern, der zufolge es besonders wichtig ist, diese Männer ausfindig zu machen und zu isolieren.

Eine andere, noch viel öfter zitierte Studie besagt, dass in den USA jede fünfte Studentin während ihrer Uni-Zeit sexuelle Übergriffe erlebt. Eine von fünf: Das erklärt den Begriff der Vergewaltigungsepidemie.

Die Journalistin Emily Yoffe hat sich diese Studien für das Magazin «Slate» einmal genau angeschaut. In ihrem viel beachteten Artikel «The College Rape Overcorrection» zeigt sie die Probleme auf.

Die Serientäterstudie wurde an einer einzigen Universität erhoben, an der überdurchschnittlich viele Teilzeitstudenten eingeschrieben sind. Diese Gruppe ist in der Regel deutlich älter als normale College-Studenten, und so waren auch die Studienteilnehmer nicht zwischen 18 und 24 Jahren alt, sondern zwischen 18 und 71 (das Durchschnittsalter lag bei 26.5 Jahren). Die Untersuchung ist nicht repräsentativ.

Über die Eine-von-fünf-Studie sagt das der Autor, Christopher Krebs, selbst: «Wir glauben nicht, dass ‹Eine von fünf› eine national repräsentative Statistik ist.» Sein Team hatte 5466 Studentinnen befragt, allerdings nur an zwei Universitäten. Als «sexuellen Übergriff» definierten sie alles von Vergewaltigungen bis zu «erzwungenen Küssen» und «begrapscht werden». Aber in kaum einem Zeitungsartikel, der diese Studie aufgreift, wurde diese weitreichende Definition benannt.

Debatten über mutmassliche Vergewaltigungen werden meistens laut und heftig geführt. Der Prozess in Deutschland gegen den Schweizer Wettermoderator Jörg Kachelmann war diesbezüglich wohl das anschaulichste Beispiel der vergangenen Jahre – und die «Zuger Sexaffäre» um Jolanda Spiess-Hegglin (Grüne) und Markus Hürlimann (SVP) das aktuellste. Aber je lauter eine Debatte ist, desto mehr gehen Differenzierungen verloren.

Glaubwürdigkeit zerstört

Es ist ein heikles Thema, auch für Journalisten, weil man durch Zuspitzung und Vereinfachung allzu schnell Partei ergreift. Manchmal auch durch zu wenig Distanz zu einem der Beteiligten. In den USA zum Beispiel wurde Anfang Dezember 2014 eine Reportage des «Rolling Stone» heftig kritisiert. Im langen Text erzählt die Autorin die Geschichte einer Studentin der UVA, einer Eliteuniversität in Virginia. Die Studentin soll an einer Verbindungsparty von sieben Kommilitonen vergewaltigt worden sein. Sie bat die Autorin, die mutmasslichen Täter während der Recherche nicht zu kontaktieren, und die Autorin hielt sich daran. Als ihre Reportage, die sich liest wie ein Roman von Tom Wolfe, schliesslich erschien, wurden schnell Zweifel laut. Am besagten Abend hatte vermutlich gar keine Party im Verbindungshaus stattgefunden. Die Glaubwürdigkeit der Geschichte war zerstört, obwohl es in der Traumaforschung anerkannt ist, dass Vergewaltigungsopfer sich an die Verbrechen oft nicht mehr richtig erinnern können. Mittlerweile hat der «Rolling Stone» die Geschichte offiziell zurückgezogen und sich dafür entschuldigt.

Heikel ist das Thema auch, weil man als Journalist schnell Vergewaltigungsmythen befördert – so bezeichnen Wissenschafter weitverbreitete Ansichten zu Vergewaltigungsdelikten, die fest im kulturellen Gedächtnis verankert, aber dennoch gefährlich falsch sind: Die Frau hatte sexy Kleider an, die wollte das doch. Oder: Eine Frau, die mit einem Mann schon oft im Bett war, wird dann doch nicht plötzlich von ihm vergewaltigt.

Dabei ereignen sich laut Bundesamt für Statistik rund die Hälfte aller – wohlgemerkt polizeilich registrierten – Vergewaltigungen in der Schweiz im häuslichen Bereich. In Deutschland ist der Täter in jedem zweiten Fall eines sexuellen Übergriffs explizit der eigene (Ex-)Partner oder ein Geliebter, wie eine Studie des deutschen Familienministeriums ergab (die nach wissenschaftlichen Ansprüchen tatsächlich repräsentativ ist).

Und heikel ist das Thema auch, weil man ahnt, dass man als Journalist schnell Zuspruch von der falschen Seite bekommt, wenn man zu sehr die Perspektive des Beschuldigten einnimmt: Zuspruch von Männern, die sich auf der Verliererseite des Lebens sehen und dafür Frauen, den Feminismus oder die Politik der Gleichberechtigung verantwortlich machen.

68 Prozent verzichten

Eine Traumatherapeutin, Spezialistin für die Betreuung von Vergewaltigungsopfern, betont deshalb gleich zu Beginn des Gesprächs, dass sie unter keinen Umständen namentlich im Text auftauchen möchte. Und sie weist darauf hin, dass man sehr vorsichtig sein müsse, wenn es um das Thema Falschbeschuldigungen geht. Denn dass die Frau lügt, weil der Mann ihre Gefühle nicht erwidert, ist noch so ein Mythos, der gern reproduziert wird. Genauso wie der Mythos, dass alle vermeintlichen Opfer die Wahrheit sagen. Über die tatsächlichen Falschbeschuldigungen gibt es kaum haltbares statistisches Material. In einer grösseren Untersuchung des US-Justizministeriums heisst es, dass 1995 acht Prozent der angezeigten Vergewaltigungsdelikte sich als unbegründet herausgestellt haben.

Allerdings kann jede Frau, die eine Vergewaltigung anzeigt, in den Verdacht geraten, alles erfunden zu haben. Vielleicht ist auch deshalb der Anteil der Frauen so gross, die auf eine Anzeige verzichten: In den USA liegt er laut dem Justizministerium bei 68 Prozent.

April 2013: «Lieber Herr Nungesser, in meinem Büro wurde eine Beschwerde gegen Sie eingereicht (…). Insbesondere wird behauptet, dass Sie in Handlungen verwickelt waren, welche die Definition von sexuellem Übergriff, nicht einvernehmlichem Geschlechtsverkehr erfüllen.» Innerhalb von zwei Wochen erhält er drei ähnlich klingende Briefe von seiner Uni. Paul sagt, er sei geschockt gewesen. Neben Emma haben ihn seine Ex-Freundin und eine Bekannte aus der Verbindung Alpha Delta Phi angezeigt.

Die Ex-Freundin sagt, Paul habe während ihrer Beziehung ihre angeschlagene psychische Konstitution ausgenutzt. Sie waren von Herbst 2011 bis Frühjahr 2012 ein Paar. Ihr sei es schon vor dieser Zeit nicht gut gegangen, sie habe an Depressionen gelitten, und Paul habe ihre Verwundbarkeit ausgenutzt, um sie zu manipulieren und mit ihr auch in Momenten zu schlafen, in denen sie das nicht gewollt habe.

Die Bekannte aus der Studentenverbindung sagt, Paul sei ihr an einer Party vor einem Jahr in ein ruhiges Zimmer gefolgt, habe das Licht ausgeschaltet, ihre Arme gegriffen und versucht sie zu küssen. Sie habe ihn weggestossen und sei rausgerannt.

Langwierig und retraumatisierend

In den USA werden Studierende dazu angeleitet, sexuelle Übergriffe bei den Universitäten zu melden, an denen spezielle Büros eingerichtet sind, welche die Anschuldigungen erst recherchieren und dann gegebenenfalls die Täter bestrafen. Diese Verfahren sollen polizeiliche Ermittlungen nicht ersetzen, sondern ergänzen. Allerdings steht die Polizei im schlechten Ruf, nicht angemessen mit Sexualverbrechen umzugehen. Die Ermittlungsverfahren gelten als langwierig und im schlimmsten Fall retraumatisierend, weil die Beamten nicht entsprechend ausgebildet sind. Universitäten seien sehr viel besser auf die Bedürfnisse der Opfer eingestellt, sie könnten zum Beispiel psychologische Hilfe bieten, Klausuren aussetzen und auch sehr viel schneller reagieren, um einen überführten Täter zumindest von der Uni zu werfen, damit das Opfer ihm nicht tagtäglich begegnen muss – so lautet die Argumentation von Aktivistengruppen.

Für Paul heisst das, er muss gegenüber einer Uni-Mitarbeiterin Aussagen zu den drei Anschuldigungen machen. Er hat einen Anwalt gesucht, der ihn berät; bei den Gesprächen darf der aber nicht anwesend sein.

Paul erklärt das Verhältnis zu seiner Ex-Freundin so: Erst habe er sich Hals über Kopf in sie verliebt, dann sie sich in ihn, als er schon wieder ans Schlussmachen gedacht habe. Aber er wollte sie zu dieser Zeit nicht noch mehr belasten, weil sie gerade ihre Psychopharmaka abgesetzt hatte. Die Beziehung sei schwierig gewesen, sie hätten auch Sex gehabt, aber einvernehmlichen, und irgendwann habe er sich dann doch getrennt, und sie sei richtig stinkig auf ihn gewesen. Später hätten sie sich jedoch ausgesprochen.

Im anderen Fall bestätigt er, dass er an der Party war – aber weder sei er der Frau in ein ruhiges Zimmer gefolgt, noch habe er sie angefasst oder versucht, sie zu küssen. «Da war nichts zwischen uns», sagt er.

Die Anzeige seiner Ex-Freundin wird nach ein paar Wochen von der Uni abgelehnt, weil es keine «hinreichenden Hinweise für einen begründeten Verdacht» gegen Paul gibt. Im anderen Verfahren gibt die Uni erst der Bekannten aus der Studentenverbindung recht und spricht eine Verwarnung gegen Paul aus, die geringste aller Sanktionsmöglichkeiten. Paul geht dagegen in Berufung und gewinnt.

Am längsten dauert das Verfahren im Zusammenhang mit Emma. Die Entscheidung fällt schliesslich Anfang November 2013, wenige Tage nach der Anhörung vor einer Kommission. Einzeln werden Emma und Paul in einen Raum gebeten und müssen die Fragen von drei unabhängigen Mitarbeitern der Universität beantworten.

Paul will ihnen während seiner Anhörung Facebook-Nachrichten zeigen, die Emma und er nach der betreffenden Nacht ausgetauscht haben.

Am 3. Oktober 2012, fünf Wochen nach der besagten Nacht, gratuliert er ihr zum Geburtstag. Sie schreibt zurück, dass sie ihn liebe und wo er sei.

Doch die Kommission ist nicht an diesen Nachrichten interessiert. Die Regeln für solche Anhörungen besagen, dass nur die konkrete Situation thematisiert wird, in der es passiert sein soll. Die Kommission geht also noch einmal den Abend durch: das Wiedersehen, die Küsse, den Sex. Sie sucht nach Unstimmigkeiten, wägt die Machbarkeit des Erzählten ab und entscheidet im November 2013 schliesslich, dass Paul «nicht verantwortlich» ist. Emma geht in Berufung und verliert.

Mattress Girl

Anfang Dezember steht dann plötzlich eine Journalistin der «New York Post», einer Boulevardzeitung, vor Pauls Studentenwohnheim, die von den Anschuldigungen gegen ihn weiss – und die Aufregung geht erst richtig los. In den kommenden Monaten spricht Emma mit dem Studentenmagazin «Blue and White» und der «New York Times», um ihre Version der Geschichte zu erzählen. Mitte Mai geht sie schliesslich doch noch zur Polizei und erstattet Anzeige gegen Paul. Eine Kopie dieser Anzeige, in der Pauls Name steht, gibt sie einem Journalisten des «Columbia Spectator», einer anderen Studentenzeitschrift. Die Medien veröffentlichen ihn, und der Name Paul Nungesser mit der Zuschreibung mutmasslicher Vergewaltiger verbreitet sich viral im Netz.

Mattress Girl – so wird Emma jetzt genannt. Von fremden Menschen, die sie auf der Strasse ansprechen, und Journalisten, die Artikel über sie schreiben. Emma findet das gar nicht lustig. «Ich bin eine Person mit einem Namen», sagt sie, «aber die machen mich zu einem Objekt.»

Es ist ein Sonntagmorgen im Januar 2015, Emma sitzt in einem französischen Bistro im West Village, Manhattan, und hat Eistee bestellt. Damals, erzählt sie, sei sie auf die «New York Post» und die anderen Medien zugegangen, weil sie nicht habe fassen können, dass die Uni ihr nicht glaubte; und weil sie das Verfahren für dilettantisch und ungerecht gehalten habe. Ein Kommissionsmitglied habe sie zum Beispiel gefragt, ob Paul Gleitcrème verwendet habe, denn Analverkehr ohne Gleitcrème sei ja schlecht möglich. «Ich musste denen tatsächlich erklären, dass Vergewaltigungen gewaltsam sind», sagt Emma. Dass sie nach der mutmasslichen Tat nicht direkt zur Polizei oder zum Arzt gegangen ist, hätten ihr natürlich viele Leute inzwischen vorgehalten. «Aber ich konnte es damals nicht mal als Vergewaltigung benennen. Ich habe mich nur gefragt, was das für eine verrückte, angsteinflössende Sache war. War er sauer auf mich? Hatte ich etwas falsch gemacht?»

Auf Facebook habe sie Paul so nett wie immer geschrieben, sagt sie. Die Kraft, ihn bei der Uni anzuzeigen, habe sie erst gefunden, als sie ein paar Monate später zufällig seine Ex-Freundin kennen gelernt habe, die ihr dann von ihren Erlebnissen mit Paul berichtet habe. Paul sagt dagegen, die drei Frauen hätten sich schon länger gekannt.

Aus der Anzeige, die Emma bei der Polizei gemacht hatte, ist nie eine Anklage gegen ihn geworden. Emma sagt, sie sei aus dem Ermittlungsverfahren ausgestiegen, weil sie die Beamten genauso ruppig und skeptisch erlebt habe wie befürchtet. Ausserdem hätte es bis zu einem Jahr dauern können, bis der Fall vor Gericht landet. Paul sagt, er habe freiwillig eine Aussage bei der Staatsanwaltschaft gemacht, und kurz darauf sei ihm mitgeteilt worden, dass kein Verfahren gegen ihn eröffnet werde.

Fragt man Emma, ob es nicht eine Form von Selbstjustiz war, Pauls Namen zu veröffentlichen, antwortet sie: «Leute, die das Selbstjustiz nennen und unfair finden, gehen davon aus, dass das System funktioniert, das Paul für unschuldig erklärt hat. Ich glaube, das System ist kaputt.»

Am ersten Tag des Wintersemesters im September 2014 hat sie dann mit ihrer Matratzen-Performance begonnen, und die Medien wurden noch viel verrückter auf ihre Geschichte. «Mir ist schon klar, dass viele nur aus Sensationsgier darüber berichten», sagt Emma. «Sie benutzen mich, aber das ist mir egal, solange das Thema dadurch in der Öffentlichkeit präsent ist.» Ausserdem wolle sie nicht eins der vielen schweigenden Opfer sein.

Ihre Popularität hat ihren Alltag verändert. Sie geht nicht mehr so viel mit Freunden aus, weil es immer passieren kann, dass fremde Menschen auf sie zukommen, um von ihren Vergewaltigungserlebnissen zu erzählen. «Das empfinde ich als sehr unangenehm, weil es mich an meine eigenen Erfahrungen erinnert.» Ihr Facebook-Postfach kontrolliert sie schon lange nicht mehr, weil es geflutet worden sei, von Presseanfragen und von Hassmails antifeministischer Spinner. Und natürlich gebe es Leute, die ihr vorwerfen, das alles nur wegen der Aufmerksamkeit zu tun, sagt sie. «Aber diese Aufmerksamkeit bedrückt mich, lähmt mich. Wer würde sich so etwas wünschen?»

Serial Rapist

Serial Rapist, Serienvergewaltiger, so wird er nun genannt. Im Mai 2014 haben Unbekannte diesen Begriff und seinen Namen an die Wände von mehreren öffentlichen Toilettenräumen der Columbia-Universität geschrieben. Die Studentenzeitschrift berichtete darüber. Paul sagt: «Ich habe fast alle meine Freunde an der Columbia verloren.» Wenn er ihnen jetzt zufällig auf der Strasse begegne, zögen sie schnell ihr Smartphone aus der Tasche und täten, als tippten sie ein SMS.

Paul meidet nun den weitläufigen Platz im Zentrum des Campus, wo sich zwischen den Vorlesungen die Studenten mit einem Kaffee in die Sonne setzen. Er lernt auch nicht mehr in der Bibliothek, sondern bleibt zuhause in seinem Zimmer, das ihm die Uni ausserhalb des eigentlichen Campus zur Verfügung gestellt hat, weil er sich im Studentenwohnheim nicht mehr sicher gefühlt habe, sagt er.

Im Netz findet man zahlreiche Drohungen gegen ihn, eine steht auf Emmas Facebook-Seite. Ende Dezember 2014 hat sie dort den «New York Times»-Artikel geteilt, in dem Paul das erste Mal spricht. Ein Freund von Emma kommentiert: «Er sollte besser schweigen oder Selbstmord begehen, bevor sich jemand darum kümmert.» Emma hat den Kommentar geliked.

Seit sie mit ihrer Performance begonnen hat, finden an der Columbia immer wieder Protestmärsche statt, um ihr Anliegen zu unterstützen. Initiiert werden die Aktionen von Aktivistengruppen wie No Red Tape oder Know Your Title IX. Die Medien berichten jedes Mal ausführlich, die Gruppen sind gut vernetzt und professionell. Know Your Title IX hat zum Beispiel einen Leitfaden für Journalisten herausgegeben, die über das Thema schreiben. Darin wird empfohlen, Opfer möglichst wörtlich zu zitieren, um so das abmildernde Adjektiv mutmasslich nicht benutzen zu müssen. In vielen Artikeln über Emma wird genau auf dieses Adjektiv verzichtet. In der Rezension der «New York Times»-Kritikerin Roberta Smith heisst es etwa: «Es ist so bestechend: Eine Frau, die es ablehnt, über die Verletzungen zu schweigen, die ihr widerfahren sind, trägt eine Matratze mit sich herum als Erinnerung daran, wo es stattgefunden hat.» Ganz so, als wäre Emmas Wahrheit die absolute Wahrheit. Paul sagt: «Ich hätte nie geglaubt, dass die Medien sich für eine solche Kampagne missbrauchen lassen.»

Ausser ihm und Emma weiss niemand, was in dem Zimmer im August 2012 passiert ist. Er wurde von der Uni in allen drei Fällen für unschuldig befunden (mittlerweile auch in einem vierten Verfahren, das erst Ende 2014 gegen ihn eröffnet worden ist, diesmal hatte ihn ein Kommilitone bei der Uni wegen eines angeblichen sexuellen Übergriffs angezeigt); Emma hat Pauls Namen an Journalisten weitergegeben. Diese Entscheidungen kann man nachvollziehen oder kritisieren. Aber die Medien hätten seinen Namen nicht veröffentlichen dürfen, schliesslich sind sie keine Richter.

Ohne Verurteilung bestraft

Selbst in seiner Heimat Deutschland hat Paul schon Konsequenzen gespürt. Er hätte als Kameramann im Mai 2014 bei einem Filmprojekt mitarbeiten sollen, erzählt er, aber dann habe der Regisseur ihm abgesagt, weil er von den Vorwürfen gegen ihn gelesen habe. Paul wird bestraft, ohne verurteilt worden zu sein. Und die Columbia-Universität befördere das Mobbing gegen ihn sogar, sagt Paul, weil sie Emmas Performance benotet. «Carry that Weight» ist ihre Abschlussarbeit.

Pauls Mutter sagt, dass ihr Sohn sehr darunter leide, dass trotz der Freisprüche bisher niemand öffentlich für ihn Partei ergriffen habe. «Das ist ein Gefühl von Rechtlosigkeit.» Pauls Vater sagt, er habe manchmal Angst, dass sein Sohn aus dieser Sache als Zyniker rausgehen könnte, als misstrauischer Mensch. Auch Emmas Eltern haben schon mit der Presse gesprochen.

Ein Problem von Vergewaltigungsopfern ist, dass sie die Verbrechen gegen sie nur sehr schwer beweisen können. Die Verurteilungsquote ist daher gering, in Deutschland lag sie im Jahr 2012 bei 8.4 Prozent der Fälle, die angezeigt wurden, wie eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen ergeben hat. In der Schweiz wurden 2014 wegen Vergewaltigung 463 Personen angezeigt und 85 verurteilt. Die Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu vergleichen, da die polizeiliche Kriminalstatistik (Anzeigen) und die Strafurteilsstatistik nicht miteinander verknüpft sind.

Ein Problem von Beschuldigten ist, dass der Zweifel immer an ihnen kleben bleibt, selbst wenn sie für unschuldig befunden werden.

Nachtrag: Emma hatte zu Beginn ihrer Performance angekündigt, die Matratze noch bis zum Ende ihres Studiums über den Campus zu tragen – oder bis Paul von der Uni verwiesen wird oder freiwillig geht. Aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Im Mai 2015 feierten beide ihren Abschluss an der Columbia. Emma brachte die Matratze mit zur Zeremonie. Es gibt ein Video, das zeigt, wie sie gemeinsam mit drei Kommilitoninnen das schwere Ding auf eine Bühne schleppt. Der Präsident der Columbia, Lee C. Bollinger, dreht sich genau in dem Moment weg, als Emma vor ihm steht. Eigentlich soll er jedem Studenten die Hand reichen. Emma geht ohne Handschlag an ihm vorbei. Die Zuschauer jubeln ihr zu. Das ist nicht mehr überall so.

In den vergangenen Monaten sind einige kritische Artikel über sie und ihre Performance erschienen, im Online-Magazin «The Daily Beast» zum Beispiel, mit dem Paul geredet hat. Auch den deutschen Printmedien «Focus» und «Zeit» hat er inzwischen Interviews gegeben. Und er hat eine Klage bei einem Gericht in New York eingereicht, in der er unter anderem der Columbia-Universität und deren Präsidenten Bollinger vorwirft, ihn nicht vor den öffentlichen Anschuldigungen und den Protestaktionen geschützt zu haben. Wann der Prozess beginnt, ist noch unklar, aber allein schon die Ankündigung dieses Verfahrens hat wieder einmal viele Schlagzeilen gemacht, genauso wie Emmas Auftritt an der Abschlussfeier.

Die jüngste Neuigkeit aus New York: Anfang Juni hat Emma ein neues Kunstprojekt auf einer Website vorgestellt. Es ist ein acht Minuten langes Video: Emma und ein junger Mann betreten ein schlichtes Zimmer, das nach Studentenwohnheim aussieht. Sie küssen sich, ziehen sich aus, haben Oralverkehr, Vaginalverkehr. Bis auf das Gesicht des jungen Mannes, das verpixelt ist, ist alles zu sehen. Der Sex wird dann immer brutaler. Der junge Mann schlägt Emma ins Gesicht, würgt sie, vergewaltigt sie und verlässt den Raum. Ein verstörender Film, von dem man ahnt, dass er oft angeklickt wird. Der Titel ist inspiriert vom grossen Surrealisten René Magritte: «Ceci n’est pas un viol» – dies ist keine Vergewaltigung.