Eine Begegnung mit dem Spitzenchirurgen am Kinderspital Zürich
- Text: Frank Heer, Fotos: Ornella Cacace
Ohne Martin Meuli hätte die zweijährige Ella ihre ersten Tage nicht überlebt. Ihr Vater, annabelle-Reporter Frank Heer, sprach mit dem Spitzenchirurgen am Kinderspital Zürich über medizinische Fortschritte und Macht und Ohnmacht der Ärzte.
Die Stimme des Stationsarzts war ein fernes Echo. Sie wiederholte geduldig, was wir uns nicht vorstellen konnten. Ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern, aber an den Witz, den er mir vor der Geburt unserer Tochter erzählt hatte. Und als sie dann auf der Welt war, unsere Tochter, und mich eine Schwester nach ihrem Namen fragte, brachte ich nur Ella über die Lippen, obwohl sie Ella-Louise heisst. Es war, als hätte ich ein Gedicht nicht richtig aufgesagt. Später warteten wir im Zimmer der Geburtsklinik. Ohne unsere Tochter. Vor dem Fenster leuchtete ein goldener Herbsttag. Der Stationsarzt sagte, sie werde gerade geröntgt. Er war ernst und illustrierte den Sachverhalt auf einem Stück Papier. Er sagte, dass die Schwere der Operation davon abhänge, wo genau die Speiseröhre unterbrochen sei, das müsse man erst feststellen. Fehle nur ein kleines Stück bis zum Magen, sei es einfacher, fehle ein längeres Stück, werde es komplizierter.
Den Fachbegriff, den er benutzte, kann ich mir bis heute nicht merken: Ösophagusatresie. Dann rollten sie unsere Tochter in einem Glaskasten ins Zimmer, schwer verkabelt, umringt von Ärzten, und legten das winzige Ding in die Arme meiner Frau.Jemand machte ein Foto, dann kam Ella zurück in den Kasten und wurde aus dem Zimmer geschoben. Erst jetzt kam die Ohnmacht. Sie fühlte sich wie Trauer an. Vor der Klinik wartete die Ambulanz. Am nächsten Morgen, am 24. Oktober 2011, wurde unsere Tochter von Martin Meuli, Kinderchirurg und Chefarzt am Kinderspital Zürich, operiert. Ohne den Eingriff wäre sie verhungert. Anatomisch gesehen wurden die beiden Speiseröhrenstümpfe einfach zusammengenäht, eine fehlerhafte Verzweigung zur Luftröhre wurde abgetrennt. Technisch gesehen war es filigranste Feinmechanik, mit dem Risiko, einen grossen Schaden in Ellas Brustkorb anzurichten.
Eine kleine Narbe
Die Operation gelang problemlos, doch der Gesundungsprozess dauerte weit länger als erwartet. Nach vier Monaten durften wir unsere Tochter nachhause nehmen. Weil sie nicht wusste, wie man trinkt, wurde ihr die Milch durch einen Schlauch direkt in den Magen gepumpt. An Ostern 2013 konnte die Sonde entfernt werden. Ella isst heute am liebsten Hörnli mit Gehacktem, aber auch frische Erdbeeren oder Stocki.
Ich warte in Martin Meulis Büro. Auf seinem Balkon wachsen Reben. Den eleganten Konferenztisch hat er selbst entworfen. Auch die Lampe, die darüber hängt, und die Kunst an den Wänden. Er wird es mir erst erzählen, als ich ihn später danach frage. Ein früherer Versuch, ihn zu treffen, schlug in letzter Minute fehl, weil ein Notfall dazwischenkam. Vorsorglich haben wir das zweite Treffen auf den frühen Abend terminiert. Als der Chefarzt ins Zimmer platzt, herzlich und laut und strahlend, ist mir klar, dass meine Tochter in guten Händen war. An die Operation erinnert eine kleine Narbe unter ihrem rechten Arm.
ANNABELLE: Martin Meuli, Sie haben Ella an einem Montagmorgen operiert. Ist das für Sie etwa so, wie wenn der Bäcker zum Wochenstart den Ofen anwirft? Oder ich in der Redaktion den ersten Satz für einen Artikel schreibe?
MARTIN MEULI: Natürlich, es ist ein Beruf. Und eine Operation ist ja auch etwas Handfestes, Lineares, da zündet man vorher keine rituellen Kerzchen an, um sich vorzubereiten, sondern krempelt die Ärmel hoch, und los gehts. Ich arbeite gern mit meinen Händen. Selbst die schwierigste OP packe ich mit Leidenschaft an. Und ich kann dabei sogar Spass haben, genau wie der Bäcker in der Backstube oder Sie beim Schreiben einer Reportage.
Ich schreibe aber keine lebensrettenden Artikel. Passiert mir ein Kunstfehler, bekomme ich Leserbriefe. Passiert Ihnen ein Kunstfehler, kann es um Leben und Tod gehen. Wie gehen Sie mit diesem Risiko um?
Mit Respekt und mit dem Bewusstsein, dass Fehler menschlich sind. Sie passieren den Besten. Das Gegenteil zu behaupten, wäre realitätsfremd. Hätte ich deswegen vor jeder schwierigen Operation Angst, wäre ich im falschen Beruf. Ganz abgesehen davon: Die allermeisten Operationen am Kinderspital Zürich verlaufen sehr gut.
Um wie viele Jahre müssten wir die Zeit zurückdrehen, bis unsere Tochter an ihrem Geburtsgebrechen gestorben wäre?
Vermutlich bis in die Vierzigerjahre. Damals dürfte das erste Kind die Operation überlebt haben. Doch noch bis in die Sechziger- oder Siebzigerjahre war die Sterblichkeitsrate hoch.
Und heute?
Sehr tief. Am Kinderspital führen wir den Eingriff acht- bis zehnmal pro Jahr durch. Das Prozedere gehört zum Standardprogramm und gelingt in der Regel ohne Komplikationen.
Was wussten Sie über meine Tochter, als sie vor zwei Jahren im Operationssaal lag?
Ich kannte den genauen Sachverhalt und den Namen, mehr nicht.
Je kleiner die emotionale Bindung, umso sachlicher die Ausführung?
Nein, das würde ich so nicht sagen. Eine professionelle Distanz ist wichtig, aber Ihre Tochter war vielleicht ein oder zwei Tage alt, als wir sie operierten. Bei so einem jungen Wesen ist die emotionale Bindung selbst für Eltern noch eher abstrakt. Wenn ich ältere Kinder operiere, vielleicht sogar mehrmals, dann entwickelt sich oft eine tiefe und positive Beziehung, auch zu den Eltern. Man freut sich gemeinsam mit dem Kind und den Eltern, wenn alles gut gegangen ist. Oder es kann dabei helfen, einen schlimmen Befund zu erklären. Aber einen Einfluss auf meine chirurgische Arbeit hat die Nähe zu einem Patienten nicht.
Ella war am Tag der Operation 2.6 Kilogramm schwer und 47 Zentimeter gross. Kann man das Kunstwerk, das Sie an ihr vollbracht haben, mit der Arbeit eines Feinmechanikers vergleichen?
Die Operation an der Speiseröhre gehört sicher zu den ganz feinen chirurgischen Aktionen, weil die Kinder nur wenige Tage alt sind und alles entsprechend klein ist. Der Eingriff findet in unmittelbarer Nähe vieler lebenswichtiger Organe statt. Da ist Erfahrung gefragt, manuelle Begabung und technisches Geschick. Insofern passt der Vergleich mit der Feinmechanik teilweise.
Wie lange dauerte Ihre Arbeit an meiner Tochter?
So genau weiss ich das nicht mehr, vermutlich etwa zwei Stunden.
Wer war nebst Ihnen noch im Operationssaal?
Zwei weitere Chirurgen, nämlich ein erster und ein zweiter Assistent, eine technische Operationsassistentin, jemand, der für Materialtransporte zuständig ist, zwei Anästhesieärzte, eine Person von der Anästhesiepflege und vermutlich noch Zuschauer, also Medizinstudenten oder Lernende. Bei solchen Operationen ist das Interesse immer gross.
Weil sie besonders schwierig ist?
Wer das kann, ist sicher reif und gut. In der Kinderchirurgie ist sie so etwas wie eine Königsdisziplin.
Wie oft haben Sie sie schon durchgeführt?
Ich habe keine Strichliste, aber lassen Sie mich nachdenken … Zähle ich die Operationen mit, die ich in beratender Funktion begleitet habe, komme ich seit 1986 wohl auf etwa 180 bis 200 geflickte Speiseröhren.
Überwiegt eigentlich der Wunsch zu helfen oder der Ehrgeiz, ein komplexes medizinisches Problem zu lösen?
Es ist die Kombination von beidem. Natürlich geht es zuerst immer darum, einem Kind mit einem schweren Problem zu helfen. Deshalb habe ich auch ein fundamentales Interesse daran, eine komplizierte Operation erfolgreich durchzuführen. Eine Operation, die vielleicht nur wenige Kollegen auf diesem Planeten beherrschen, etwa auf dem Gebiet der pränatalen Chirurgie. Da muss und will ich sozusagen in der Champions League spielen. Das hat aber nichts mit selbstverliebtem Pfauentum zu tun, sondern mit dem Anspruch auf Sorgfalt und professionelle Höchstleistung.
Sie können mit einer Operation grenzenloses Glück auslösen. Oder grenzenlose Enttäuschung, wenn sie am Ende nicht den erhofften Erfolg gebracht hat.
Besonders frustrierend ist es dann, wenn wir zuversichtlich waren, ein Kind retten zu können, und dann stirbt es. Nicht weil Fehler passiert sind, sondern weil sich unerwartete Probleme einstellten, die sich schlicht als nicht lösbar erwiesen. Wenn man mit den Eltern hofft und bangt und man plötzlich merkt: Es geht eben doch nicht. Das sind Verzweiflungs- und Ohnmachtsmomente, die auch mir zu schaffen machen. Leben zu retten und Leben zu verlieren – das sind Triebfedern für die grössten Emotionen, die ein Mensch erfahren kann.
Den Moment, in dem Sie dachten, ich werfe das Handtuch, gab es nie?
Nie. Aber Momente, die mich emotional auf die Probe stellten, immer wieder. Situationen, in denen man mit der allerletzten Kraft der Verzweiflung und des Aufbäumens gegen ein Schicksal ankämpft und am Ende aufgeben muss. Wenn ein Kind stirbt und man dann einfach losheult mit den Eltern und den Assistenzärzten und sich fragt, warum um Himmels willen musste das nun passieren?! Ich erinnere mich an ein Kind, das mit schwersten Verbrennungen zu uns gekommen ist. Die ersten Operationen verliefen gut, und wir hatten bereits den Punkt erreicht, an dem wir überzeugt waren, dass das Kind bald über dem Berg ist. Und plötzlich stellten wir fest, dass sich auf den Herzklappen, in den Blutgefässen, einfach überall im Brustbereich eine Pilzinfektion entwickelt hatte, die nicht behandelbar war. Da hatten wir diese Riesenoperationen, alles schien gut zu gehen, und da kommt dieser verdammte Pilz und rafft ein blühendes Leben dahin. Dann tritt man vor die Mama und den Papa und die Schwester und muss ihnen das erklären, und sie brechen zusammen – in solchen Momenten bin auch ich emotional aufs Tiefste erschüttert.
Wie verarbeiten Sie so was ?
Das steckt man nicht einfach so weg. Trotzdem kann ich solche Erfahrungen nicht immer mit mir herumtragen. Das würde den stärksten Mann umhauen. Wissen Sie, am Kinderspital können wir praktisch alle medizinischen Register ziehen, die man heute überhaupt ziehen kann. Trotzdem kommen wir manchmal an den Punkt, an dem wir den Kampf verlieren. Aber selbst dann kam mir nie der Gedanke, jetzt hör ich auf, jetzt mag ich nicht mehr.
Sie haben als einer der weltweit Ersten Föten am offenen Rücken operiert. Sie nannten das «einen Blick in die Schöpfungskammer». Das klingt poetisch, aber auch nach etwas Verbotenem. Hatten Sie nie Skrupel, in den «Schöpfungsprozess» einzugreifen?
Nein. Und ich will das auch nicht banalisieren, im Sinn von: Ist doch nur eine Operation! Mami aufschneiden, Gebärmutter öffnen, Fötus in Position bringen, Rücken zunähen und dann das Ganze wieder rückwärts. Natürlich ist es viel mehr als das. Die Operation greift dem natürlich geborenen Leben vor. Doch wenn ich einem Kind im besten Fall zu einem Leben ohne Wasserkopf und Rollstuhl verhelfen kann, dann ist das doch grossartig.
Wo eine Schöpfungskammer ist, ist auch ein Schöpfer. Glauben Sie an Gott?
Es gibt Berufskollegen, die sich als radikale Atheisten outen. Zu dieser Gruppe gehöre ich nicht. Und dann gibt es die Kategorie der Tiefgläubigen. Zu denen gehöre ich auch nicht. Ich sehe mich eher bei den Skeptikern. Zwar weiss ich als Wissenschafter, dass menschliche Gefühle wie Trauer, Liebe, Freude, Ehrfurcht biochemische Reaktionen sind. Gleichzeitig frage auch ich mich in Momenten der Ergriffenheit, wenn sich einem plötzlich wundersame, unbeschreibliche Dimensionen auftun, etwa in der Musik oder in der Natur, ob da am Ende nicht mehr dahintersteckt als ein nüchternes Zusammenspiel von Molekülen.
Was denn?
Eine ultimative, finale Gnade, die uns erwartet, wenn wir sterben. Eine Art universelles Wohlgefühl, in das wir eintreten. Zumindest würde ich mir das wünschen. Ob man das nun Paradies nennt oder sonst wie, spielt keine Rolle.
Was haben Sie als Mensch durch Ihre Arbeit als Arzt gelernt?
Respekt vor dem Wundersamen. Das hat auch mit der Einsicht zu tun, dass der Tod eine unabwendbare Tatsache ist. Zwar wissen wir das, seit wir denken können, doch wenn man älter wird und beruflich immer mal wieder dem Tod begegnet, bekommt dieses Wissen eine sehr reale Fassung. Memento mori und Carpe diem – wir sind sterblich, geniessen wir den Tag! Vielleicht sind das die Leitmotive, die mich meine Arbeit gelehrt hat.
Multitalent
Martin Meuli (58) ist Chefarzt am Kinderspital Zürich. Neben dem Medizinstudium in Zürich nahm er Gesangsunterricht in Konstanz. 1987 entschied er sich für eine Oberarztstelle und gegen einen Ausbildungsplatz am Internationalen Opernstudio Zürich. «Es gibt Situationen, in denen mich der Gedanke an diese Zeit ein wenig melancholisch stimmt», sagt Martin Meuli. «Etwa, wenn ich am Radio etwas höre, das ich selbst gesungen habe. Dann überlege ich, wo ich heute wäre, hätte ich damals auf die Medizin gepfiffen.» Als Kinderchirurg spezialisierte er sich erst auf die Operation von Kindern mit schweren Verbrennungen. 2007 trennte er in Zürich erfolgreich siamesische Zwillinge. Heute widmet Meuli einen grossen Teil seiner Forschungstätigkeit der Fötalchirurgie. 2010 operierte er als einer der weltweit ersten Chirurgen einen Fötus am offenen Rücken (Spina bifida). Martin Meuli ist in in Chur aufgewachsen. Er ist mit Claudia Meuli verheiratet, Professorin und Chefärztin für Plastische, Wiederherstellungs- und Handchirurgie am Kantonsspital Aarau.
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«Man freut sich mit dem Kind und den Eltern, wenn alles gut gegangen ist»: Martin Meuli mit einer kleinen Patientin
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annabelle-Reporter Frank Heer mit Ella-Louise, die am Tag nach ihrer Geburt von Martin Meuli operiert wurde