Leben
«Manche Frauen haben die Fantasie, ihren Mann retten zu können»
- Text: Céline Geneviève Sallustio; Bild: Unsplash
Brigitte Kämpf ist Sozialarbeiterin bei der Beratungsstelle Frauen-Nottelefon in Winterthur. Wir haben mit ihr über häusliche Gewalt in Zeiten von Corona gesprochen und sie um Tipps für Betroffene gebeten.
annabelle: Brigitte Kämpf, gibt es seit dem Lockdown mehr häusliche Gewalt?
Brigitte Kämpf: Normalerweise melden sich etwa zwölf Betroffene pro Woche bei uns. In der Woche vom 16. März, als der Lockdown begann, wurde es auf einmal gespenstig ruhig. Der Stadtpolizei Winterthur ging es ähnlich: In der ersten Woche beobachteten sie unterdurchschnittlich viele Meldungen.
Können Sie sich diesen Rückgang erklären?
Ich denke, die Menschen sind durch die Krise so erschrocken, dass das Virus die Welt für einen Moment zum Stillstand gebracht hat. Inzwischen nehmen die Anfragen aber wieder zu. Ausserdem gehen wir von einer grossen Dunkelziffer aus.
Ist die Dunkelziffer durch den Lockdown noch höher als sonst?
Wir gehen stark davon aus. Die äusseren Umstände ermöglichen weniger Handlungsspielraum: Die ganze Familie ist jetzt zuhause, deshalb können Betroffene nicht ungestört zum Hörer greifen und eine Beratungsstelle kontaktieren.
Haben Frauen in der Krise eher ein schlechtes Gewissen, ihren Mann anzuzeigen?
Viele Opfer von häuslicher Gewalt schämen sich und denken, sie tragen eine Mitschuld. Die Corona-Krise macht es den Betroffenen nicht leichter, erst recht, wenn der Partner zur Risikogruppe gehört. Für manche Betroffene ist das Grund genug, sich nicht bei uns zu melden.
Was erleben die Frauen, die Sie anrufen?
Gewalt in unterschiedlichsten Formen. Das fängt bei einer Ohrfeige an und geht über schwere Prügeleien bis hin zu Morddrohungen oder sexueller Gewalt.
Hat die Corona-Krise die Gewaltmuster verändert?
Schwer zu sagen. Generell ist es wichtig, zwischen zwei Gewaltformen zu unterscheiden: dem systematischen Gewaltverhalten und dem spontanen Konfliktverhalten. Bei Letzterem stehen sich zwei gleich starke Partner gegenüber, deren Meinungsverschiedenheiten ausarten. Bei dieser Form suchen Frauen seltener unsere Beratung.
Wie sieht das Machtverhältnis bei der systematischen Gewalt aus?
Eine Person ist von der anderen massiv abhängig. Diese Abhängigkeit wird vom anderen systematisch ausgenutzt und missbraucht.
Was genau können Sie für die Betroffenen tun?
In erster Linie beraten wir sie am Telefon. Wie kann die Frau sich vor Gewalt schützen? Kann sie das Haus verlassen? Kann sie die Strukturen zuhause verändern? Ist es an der Zeit, dass die Polizei eingeschaltet wird? Die Behörden können eine Gewaltschutzmassnahme anordnen: Der Täter wird für 14 Tage der Wohnung verwiesen. Kontakt zu Frau und Kindern ist nicht erlaubt, der Täter darf sich auch nicht im Quartier der Familie aufhalten. Die Massnahme kann bis zu drei Monaten verlängert werden. Als Beratungsstelle helfen wir Betroffenen, die Anträge auszufüllen, und klären sie über die Auswirkungen eines allfälligen Strafverfahrens auf. Auch die finanzielle Absicherung wird diskutiert.
Wie viele Frauen möchten tatsächlich, dass ein Strafverfahren gegen ihren Mann eingeleitet wird?
Vorab einen kurzen juristischen Exkurs, denn gesetzlich wird zwischen zwei Straftaten unterschieden: Das Antragsdelikt, wobei das Opfer aktiv den antrag stellt und das Offizialdelikt, das von Amtes wegen eingeleitet wird. Das Offizialdelikt beinhaltet Straftaten wie Morddrohungen, Tötungsversuche oder sexueller Missbrauch. Bei beiden Fällen kann das Opfer der häuslichen Gewalt jedoch einen Antrag stellen, dass das Strafverfahren gegen den Täter sistiert. Das heisst es wird für sechs Monate auf Eis gelegt und dann – je nach Wunsch des Opfers – endgültig gestoppt.
Relativ viele machen eine Anzeige, wenn sie die Polizei zu Hilfe rufen. Die meisten Opfer wollen jedoch vor allem das Ende der Gewalt und nicht so sehr eine Bestrafung des Täters. Sie zögern mit der Einleitung eines Strafverfahrens oder erklären später Desinteresse, damit das Verfahren sistiert wird – auch weil die Frau in unserer Gesellschaft traditionell das Rollenbild der Friedensstifterin übernimmt. Das haben viele verinnerlicht. In einer Gewaltbeziehung ist dieses Rollenbild nicht förderlich, es befeuert die Gewaltspirale bloss.
Warum harren so viele Frauen bei ihren prügelnden Ehemännern aus?
Von aussen ist das manchmal schwer nachzuvollziehen. Manche haben die Fantasie, ihren Mann retten zu können. Zudem darf man nicht vergessen, dass es auch in destruktiven Beziehungen durchaus schöne Momente mit viel Nähe gibt. Manche werden weich, wenn sich der Täter entschuldigt. Andere kommen selbst aus Scheidungsfamilien und können sich nicht vorstellen, die eigene Ehe scheitern zu sehen. Oder vielleicht ist bei einer Trennung ihre Aufenthaltsbewilligung in Gefahr. Es gibt so viele Gründe, warum eine Frau trotz Gewalt in der Beziehung bleibt.
Schalten Sie in manchen Fällen auch selbst die Polizei ein?
Nein, die Frauen entscheiden allein, was unternommen werden soll. Die Opferhilfe steht unter Schweigepflicht. Wir tun nichts, was die Betroffene nicht möchte.
In welchen Milieus kommt häusliche Gewalt besonders häufig vor?
Sie betrifft Frauen aus der Unterschicht genauso wie solche aus der Mittel- und Oberschicht und kommt auch in allen Bildungsmilieus vor. Je unausgeglichener die Partnerschaft, desto höher das Risiko für Gewalt. Doch nicht immer sind es die Frauen, die vom Mann abhängig sind. Auch das Umgekehrte kommt vor, beispielsweise wenn die Frau besser ausgebildet ist als der Mann.
Sind Kinder ein Risikofaktor für Gewalt?
Ja, Frauen zwischen 25 und 40 Jahren sind am häufigsten betroffen, da sie in diesem Alter Kinder haben und somit besonders abhängig sind vom Mann. Das höchste Armutsrisiko in der Schweiz haben alleinerziehende Mütter. Deshalb überlegen sich viele Frauen sehr gut, ob sie ihren Partner anzeigen wollen oder nicht.
Was raten Sie Frauen, die in einer solchen Situation gefangen sind?
Das Wichtigste ist, mit jemandem ausserhalb der Familie zu sprechen, was einem dabei helfen kann, die Probleme einzuordnen. Auch die Nachbarin oder der Lehrer, der oder dem das Problem anvertraut wird, kann sich bei der Opferhilfe beraten lassen. Die ist in jedem Kanton kostenlos und vertraulich – auch in Zeiten von Corona.