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«Man verteilt Herzen und glaubt, engagiert zu sein»

Leben

«Man verteilt Herzen und glaubt, engagiert zu sein»

  • Text: Jessica Prinz; Foto: Daniel Valance

Gesellschaftliche Bewegungen werden heute intensiv mit Kampagnen über Social Media begleitet. Wie verändert sich die Demokratie mit der Digitalisierung? Sophie Fürst, Geschäftsleiterin des Vereins Klimaschutz Schweiz, weiss: Social Media sind schön und gut, aber …

annabelle: Sophie Fürst, politisieren via Social Media – ist das die Zukunft?
SOPHIE FÜRST: So weit würde ich nicht gehen. Man kann mit digitalen Mitteln bestimmt vieles erreichen, die Hürde, sich zu beteiligen, tiefer setzen, kann schneller, individuell zugeschnittener und zielgerichteter an Interessierte herankommen, sie vernetzen und allgemein eine grosse Reichweite generieren. Diese Reichweite bringt aber nichts, wenn das politische Anliegen nicht auch offline mitgetragen wird. Reichweite nützt, um Leute zu informieren. Social Media ist also eher ein Türöffner.

Soll heissen?
Gerade im Hinblick auf Twitter ist der Raum für Informationen begrenzt. Man muss Informationen extrem herunterbrechen, «Snack Content» erstellen, der einfach konsumiert werden kann. Jeder Kanal funktioniert auf eine andere Weise, und man muss für jeden die richtige Form der Kommunikation finden. Und am Ende kommt es eben doch auf das Individuum an und wie fest es sich wirklich mit der Materie beschäftigen will. Deswegen: Türöffner. Social Media sind eben auch oft dafür da, etwas anzuteasern. Diejenigen, die es dann interessiert, kann man zu einem Blog oder Fachbeitrag weiterleiten. Oder auf We Collect, wo sie gleich aktiv werden und selbst Unterschriften für ein politisches Anliegen sammeln können.

Die Hürde, auf einen Link zu klicken, ist wohl allemal kleiner, als auf der Strasse zu einer Unterschrift überredet zu werden.
Das bestimmt. Dennoch: Der letzte Schritt – für eine Volksinitiative ein Unterschriftenformular ausdrucken, es ausfüllen, zusammenkleben und in den Briefkasten werfen – besteht aber trotzdem noch. Die Diskrepanz zwischen Interesse zeigen und tatsächlich etwas unternehmen ist meiner Erfahrung nach meist gross. Das zeigt sich gut am Beispiel des Klimastreiks: In den Social Media läuft wahnsinnig viel und erfreulicherweise gehen auch Tausende Leute auf die Strassen. Geht es aber um eine konkrete Ausarbeitung, kommen vielleicht noch 300 bis 400 Personen zusammen. Das ist eine Gefahr von Social Media: Viele lichten sich mit einer Fahne ab und verteilen Herzen auf Instagram, teilen vielleicht mal einen Beitrag. Das gibt einem das Gefühl, voll engagiert zu sein und die Anliegen zu unterstützen. Am Ende des Tages wäre es aber hilfreicher, diese Leute würden auch wirklich agieren und zur Unterschriftensammlung auf die Strasse gehen oder demonstrieren. Man muss Strukturen und Möglichkeiten geben, um sich offline an Aktionen engagieren zu können und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Sonst kann man das Potenzial einer möglichen Bewegung nicht ausschöpfen.

Wie sieht denn die Mediennutzung aus bei denen, die sehr engagiert sind?
Es gibt keine Zahlen. Ich denke, es gibt sehr Engagierte in den Social Media und sehr Engagierte auf der Strasse. Diejenigen, die mehr auf Social Media teilen, sind aber wohl nicht zwangsläufig die, die auch wirklich auf die Strasse gehen. Wobei es natürlich auch viele Beispiele von solchen gibt, die auf beiden Kanälen sehr engagiert sind. Die Klimastreikbewegung zeigt schön, dass es beides braucht und dass die Jugendlichen auch beides machen. Es gibt viele Jugendliche, die sehr wiff und schnell und intensiv auf Social Media unterwegs sind, aber genauso an jeder Versammlung und an jeder Demo teilnehmen.

Haben Sie das Gefühl, die Leute sind durch solche Social-Media-Kampagnen grundsätzlich schon mal informierter?
Beim Thema Klimaschutz merken die Unterschriftensammlerinnen und -sammler, dass vielen Leuten die Brisanz des Themas bewusst ist. Man muss nicht mehr damit beginnen, das Gegenüber von der Grundthematik zu überzeugen. Der Einstieg ist einfacher. Ausserdem wird durch die Präsenz in den Social Media auch vermehrt im Freundeskreis darüber gesprochen, auch wenn es vorher vielleicht eher unüblich war, über solche Themen zu sprechen.

Klingt, als würde momentan allgemein mehr politisiert. Auch bei den Europawahlen von vergangener Woche beobachtete man, dass bei den deutschen Erstwählerinnen und -wählern mehr als 30 Prozent die Grünen wählten, nur knapp 5 Prozent die AfD – eine Entwicklung, die wohl auch ein wenig auf die präsente Klimabewegung zurückzuführen ist.
Wir befinden uns allgemein in einem politischen Jahr – wegen der Kantonsrats-, der Stände- und Nationalratswahlen und auch wegen der Europawahlen. Mehr Personen als üblich bekommen mit, dass politisch sehr viel läuft, und sind automatisch sensibilisierter. Und es ist wohl kein Zufall, dass die Gletscher-Initiative oder auch der Frauenstreik genau in diesem Jahr Thema sind. Rund um den Klimaschutz entstand aber eine spontane Bewegung, die auf Greta Thunberg zurückzuführen ist. Die Möglichkeit, social Media zu nutzen, hat der Bewegung bis jetzt sicher sehr geholfen. Grad mit der Klimastreikbewegung ist es schwierig abzuwägen, was genau wie Einfluss aufeinander genommen hat. Man sieht, dass die Thematik ganz klar wichtig geworden ist und Aufwind bekommen hat, seit es die Klimastreikbewegung gibt. Und die Jugendlichen tragen auf verschiedenen Plattformen sehr viel dazu bei, dass das Thema auch präsent bleibt.

Welche Unterschiede beobachten Sie zwischen den Generationen? Wie halten sich in den Social Media Themen, die vielleicht eher die ältere Generation interessiert?
Ich würde anstatt nach Themen eher nach Kanälen unterscheiden. Auf Facebook erreicht man ganz andere Menschen als auf Instagram. Und Twitter ist in der Schweiz noch einmal ein Kanal für sich. Anders als in den USA, wo viele auch aus Spass auf Twitter sind, sind hierzulande viele PR- und Kommunikationsschaffende oder Politiker in diesem Medium unterwegs. Bei Jugendlichen funktioniert ausserdem One-to-One sehr gut, Whatsapp und Telegramm. Ohne diese Dienste und die damit einhergehenden Gruppenchats wäre beispielsweise der Klimastreik in dieser Grössenordnung wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Mich würde das wahnsinnig machen, wenn es rundherum immer blinkt und piepst. Bei den Jugendlichen funktioniert es aber, und sie organisieren über solche Plattformen irrsinnig viel.

Wo sehen Sie künftig das grosse Potenzial der Digitalisierung im politischen Arbeitsalltag?
Ich finde es wichtig, dass man mit Social Media und digitalen Formen mehr Partizipation ermöglichen kann. Und dass man Gefässe findet, um die Diskrepanz zwischen Followern und Leuten, die sich wirklich für die Sache einsetzen, zu verkleinern. We Collect hat Volksinitiativen schon vereinfacht. Ein E-Collecting könnte diesen Fortschritt noch mehr vorantreiben. Aufgrund des Datenschutzes müssen wir auf solche Möglichkeiten noch ein wenig warten. Derzeit läuft zum Beispiel ein Referendum gegen das E-Voting, da womöglich Sicherheitslücken bestehen. Die Digitalisierung kann man aus meiner Sicht sehr ambivalent betrachten. Dem User wird ja einerseits eine individualisierte Handhabung geboten, man wird viel persönlicher mit Informationen bedient und muss nicht ständig Werbung wegklicken, die einen nicht interessiert. Trotzdem denke ich nicht, dass dieser Zustand erstrebenswert ist. Wenn alle für alles Daten sammeln und analysieren und ich somit zur gläsernen Bürgerin werde, macht sich mein Datenschutzherz Sorgen.