Werbung

Zeitgeist

Männerberater Markus Theunert: «Würden Männer ihre Hälfte der Care-Arbeit leisten, wäre Lohngleichheit kein Thema mehr»

Gleichstellung bedeutet in der Schweiz hauptsächlich, Frauen in den Arbeitsmarkt hineinzufördern. Männerberater Markus Theunert plädiert jedoch genau für das Gegenteil: Männer müssen heimbefördert werden. Ein Gespräch über Mental Load bei Männern, illusorische Emanzipation und die Ermächtigung junger Väter.

Wie unsere «annajetzt»- und «annabeau»-Studien ergaben, ist Mental Load oder eben das «Drandenken» bei über 50 Prozent der Frauen ein Thema, jedoch bei weniger als 20 Prozent der Männer. Mental Load – nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit unbezahlt geleisteter Arbeit – scheint also ein Rucksack der Frauen zu sein. Liegt das an der Bequemlichkeit der Männer oder haben sich Frauen traditionell einfach schon immer um mehr gekümmert?
Um das grobe Bild scharf zu stellen: Die grössere Beteiligung der Männer, vor allem der Väter, an Haushalt und Kinderbetreuung ist real. Wir sind aktuell laut Bundesamt für Statistik bei etwa 38 Prozent – im Vergleich zu 62 Prozent bei den Müttern. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Beteiligung der Männer um zehn Wochenstunden verbessert. Sie sind bereit, mehr anzupacken – das reicht aber natürlich noch nicht.

Wo hapert es denn? 
Elterliche Präsenz besteht aus zwei Dimensionen: «being engaged», also zeitliche Beanspruchung, und «being concerned», also mental Beanspruchung, sprich Mental Load. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Väter heute mehr in der Kinderbetreuung engagieren, aber nicht im gleichen Mass mehr Verantwortung für An-alles-Denken übernehmen. Ein Hinweis darauf könnte sein, dass Frauen in den letzten zwanzig Jahren nicht um die entsprechenden zehn Wochenstunden entlastet wurden, sondern nur um ungefähr eine Stunde. Ihre Entlastung ist also trotz viel höherem Engagement der Väter nur minim.

Woran könnte das liegen? 
Dass die Ansprüche generell gestiegen sind und Kindern insgesamt mehr geboten wird. Das Engagement der Väter scheint jenes der Mütter nicht zu ersetzen, sondern einfach noch dazuzukommen.

Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die Dynamik ist nicht ganz leicht zu durchschauen. Ein Teil erklärt sich wohl aus einer Bequemlichkeit der Männer – à la «ich habe schon drei Stunden gespielt, dann muss ich nicht noch daran denken, für die Tochter einen Zahnpflegetermin abzumachen» –, dass sich beim Thema Mental Load die Traditionalismen halten.

Werbung

«Die Rabenmutter ist eine viel präsentere Figur, den Rabenvater gibt es gar nicht»

Gibt es noch andere Gründe, warum die Rollenverteilung so traditionell bleibt?
Frauen haben den Haushalt lange als ihre Sphäre angeschaut. Stichwort: häusliche Definitionsmacht. Das zu ändern ist eine Herausforderung. Aber die gesellschaftlichen Ansprüche an Frauen sind auch höher und viele haben diese internalisiert, wollen unbedingt und trotz aller Belastungen eine Supermutter sein. Sprich beispielsweise am Kindergeburtstag selbst gebackene Muffins servieren und nicht gekaufte. Da rate ich dringend zu mehr Pragmatismus und weniger Abwertung untereinander – vor allem unter Müttern.

Findet diese unter Vätern weniger statt? Oder einfach in anderen Themen?
Es gibt viel Abwertung unter Männern, da geht es um Hierarchien, Dominanz, Statussymbole. Abwertung unter Vätern habe ich aber tatsächlich noch kaum mitbekommen, Vatersein scheint bisher ein weniger kompetitives Feld zu sein. Auch das hat einen gesellschaftlichen Hintergrund: Die Rabenmutter ist ja eine viel präsentere Figur, den Rabenvater gibt es gar nicht.

Wo sehen Sie denn die Mental-Load-Falle der Männer?
Die mentale Belastung durch Erwerbsarbeit ist bereits enorm. Die zehn Stunden mehr Betreuung bedeuten ja nicht zehn Stunden weniger Erwerbsarbeit. Alle sind generell immer belasteter. Man kann fragen, ob Männer sich zwar mehr um Kinder und Haushalt mitkümmern, aber schlicht nicht die gedankliche Kapazität haben, um ihre Hälfte des Mental Loads zu tragen.

Müssen wir grundsätzlich die Anzahl geleisteter bezahlter Arbeitsstunden hinterfragen und ein neues Modell von Erwerbsarbeit definieren?
Ja, natürlich. Wir sollten die Leistungs- und Wachstumsorientierung grundsätzlicher infrage stellen. Dafür müssten sich die erschöpften Eltern gemeinsam viel lauter Gehör verschaffen, nicht nur in der Gesellschaft, sondern vor allem auch in der Politik.

Leiden eigentlich auch Single-Männer unter Mental Load oder eher solche in Paarbeziehungen oder Familienkonstellationen?
Viele Männer leiden darunter, nicht abzuschalten zu können, weil sie noch mental beschäftigt sind. Das wird aber oft nicht unbedingt unter Mental Load verhandelt. Wir alle sind laufend mehr belastet und müssen an immer mehr denken. Die Digitalisierung überbürdet uns auch laufend weitere Aufgaben. Neue Ansprüche kommen hinzu. Für Männer wird nebst Erfolg im Beruf und Präsenz als Vater auch das Thema Fitness und Attraktivität immer wichtiger. Selbstsorge und Beziehungspflege werden oft vernachlässigt.

Männer beschäftigen sich also nicht nur weniger mit Mental Load, sondern gleichzeitig auch weniger mit Bewältigungsstrategien?
Genau. Männer lernen ja auch nicht, Bedürftigkeit wahrzunehmen – speziell die eigene. Sie lernen nicht, was ihnen guttut. Da schauen Männer noch zu wenig gut zu sich. Unsere Befragung zeigt, dass Haushalt und Administratives unabhängig vom Geschlecht im Privaten grosse Stressfaktoren sind.

Wie lässt sich das entschärfen?
Wichtig scheint mir, dass sämtliche unbezahlten Tätigkeiten – also auch die traditionell «männlichen» – gesehen und validiert werden. Auf dieser Basis kann man dann schauen, wer welche Arbeiten gerne macht, losgelöst von gesellschaftlichen Zuschreibungen. Da hilft es, grosse Zuständigkeitsbereiche zu definieren und aufzuteilen. Wenn Gestaltungsraum besteht, wie man eine Aufgabe anpacken kann, wird es für Männer tendenziell attraktiver. Den Output gemeinsam zu definieren ist dabei legitim und sinnvoll, beim Weg dahin reinzureden ist dann aber tabu.

Werbung

«Fördern wir wirklich Emanzipation oder beschränkt sich das Gleichstellungsangebot auf jene Frauen, die bereit sind, den gleichen Preis wie Männer zu bezahlen, um im Erwerbsleben vorwärtszukommen?»

Ist das Stresslevel abhängig vom Geschlecht? 
Kinder sind ein Stressfaktor, da zeigt die Befragung kaum einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Auch Erwerbsarbeit, die in die Freizeit ausufert, ist für beide Geschlechter ein gleich hoher Stressfaktor.

Immerhin beim Stress sind wir also schon weit bei der Gleichstellung.
Ja, und es ist wichtig, auch die Schattenseiten der Gleichstellung zu betrachten. Es gibt beispielsweise eine interessante Studie der WHO, die Gleichstellungsfortschritte und die Raucher:innenquote vergleicht. Und dabei zeigt sich, dass die Länder, welche bei der Gleichstellung vorne sind, auch die Länder sind, in denen es die meisten Raucherinnen gibt. Schweden, eines der gleichgestelltesten Länder der Welt, hat als einziges Land eine höhere Anzahl Raucherinnen als Raucher.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus? 
Man darf das nicht überbewerten, aber zumindest als Hinweis darauf lesen, dass in den Ländern, die mit Gleichstellung vorwärtsmachen, Frauen auch männliches Risikoverhalten zu imitieren beginnen. Oder etwas böser gefragt: Fördern wir wirklich Emanzipation oder beschränkt sich das Gleichstellungsangebot auf jene Frauen, die bereit sind, den gleichen Preis wie Männer zu bezahlen, um im Erwerbsleben vorwärtszukommen? Ich würde jedenfalls behaupten: Das männliche Prinzip der Selbst- und Fremdausbeutung ist in unserem System nach wie vor unangetastet.

Ist Gleichstellung also nur eine Illusion? 
Umverteilung findet – wenn auch langsam – schon real statt. Aber unter den Spielregeln eines wettbewerbsorientierten kapitalistischen Systems. Die Gefahr ist, dass nur die bestausgebildeten Frauen den bestausgebildeten Männern gleichgestellt werden, aber alle anderen schauen müssen, wo sie bleiben. Dann haben wir am Schluss zwar eine gleichgestelltere, aber trotzdem keine gerechtere Gesellschaft.

Gilt das speziell hierzulande? 
Gerade die Schweizer Gleichstellungspolitik ist denkbar unsensibel für Fragen sozialer Gerechtigkeit. Der politische Auftrag besteht im Wesentlichen darin, Frauen in den Arbeitsmarkt zu fördern. Das kann aber nicht das einzige Ziel sein. Es geht auch um die Aufwertung und fairere Verteilung unbezahlter Care-Arbeit. Klar ist, in der Schweiz macht sich mit der Familiengründung eine Schere auf. Davor sind Einkommen und Karriere nahezu vergleichbar. Aber sobald ein Baby da ist, schlägt die Traditionsfalle zu: Frauen steigen aus oder reduzieren ihr Pensum, Männer bleiben viel mehr erwerbsorientiert.

«Würden Männer ihre Hälfte der unbezahlten Care-Arbeit leisten, wäre Lohngleichheit kein Thema mehr, da bin ich sicher»

Spannenderweise hat sowohl die Frauenbefragung im Frühling als auch die kürzlich durchgeführte Männerbefragung das Ideal einer 50/80-Aufteilung ergeben bezüglich Arbeitspensen für Frauen und Männer, respektive Mütter und Väter. Entsteht diese Idealvorstellung Ihrer Meinung nach aus einem gesellschaftlichen Druck heraus oder ist diese Aufteilung schlicht der einfachste Weg?
Wenn man schaut, was Länder machen, die bei der Gleichstellung weit vorne sind, kann man drei grosse Faktoren identifizieren: Erstens ein Vaterschaftsurlaub gleich nach der Geburt. Das ist insofern sehr sinnvoll, als dass Väter nur durch engen Kontakt mit dem Neugeborenen vergleichbare hormonelle Veränderungen erleben wie Frauen. Hier könnten die in der Schweiz eigenführten zehn Tage – obwohl superkurz – tatsächlich schon ein Game Changer sein.

Welche weiteren Faktoren gibt es?
Der zweite grosse Faktor ist bezahlbare flächendeckende externe Kinderbetreuung. Flächendeckend ist diese bei uns schon einigermassen, aber die Bezahlbarkeit ist nicht gewährleistet. Für eine normalverdienende Familie kommt es meist günstiger, wenn ein Elternteil zu Hause bleibt. Und das ist oft die Frau. Da spielt auch die Lohnungleichheit rein.

Und der dritte Faktor?
Die Individualbesteuerung. Wir haben in der Schweiz immer noch einen negativen Steueranreiz durch die Steuerprogression. Da herrscht in der Schweiz ein widersprüchliches Anreizsystem: Arbeitsmarktpolitisch umwirbt man die weiblichen Fachkräfte, steuerpolitisch vergrault man sie gleichzeitig, denn ihr Einkommen schmilzt durch die Steuerprogression weg, solange sie tiefprozentig arbeiten. Das geht alles nicht auf. Gleichgestellt leben scheitert oft daran, dass zu viele Strukturen auf traditionelle Modelle ausgerichtet bleiben.

Es braucht also eine klare strukturelle Veränderung, um wirkliche Gleichstellung zu erreichen?
Eindeutig. Das Verfassungsziel ist gut, die Umsetzung inkonsequent. Die Gesellschaft ist gleichstellungspolitisch moderner als die Politik. Diese hinkt hinterher und ist zudem eher problem- als strategiegeleitet. Das zeigt sich beim Thema Lohnungleichheit, dort wird am falschen Ort angesetzt.

Was wäre besser?
Der Fokus müsste auf der Verteilungsfrage von unbezahlter Care-Arbeit liegen. Wenn begehrte weibliche Fachkräfte in den Arbeitsmarkt integriert werden, bleibt ganz viel Arbeit unerledigt. Da gilt es zu fragen: Wer erledigt diese an ihrer Stelle? Dann müsste man ganz ehrlich über Care-Migration sprechen – oder die Männer und Väter in die Verantwortung nehmen. Würden Männer ihre Hälfte der unbezahlten Care-Arbeit leisten, wäre Lohngleichheit kein Thema mehr, da bin ich sicher. Denn ich sehe Lohnungleichheit nicht als Wurzel des Problems, sondern als ein Symptom. Deshalb ist es eine Illusion, der Staat könne das Symptom bekämpfen und damit sei das Problem gelöst. Wenn es gerecht sein soll, müssen Väter schlicht mehr machen.

«Familiengründung ist die sensible Phase. Dort muss man ansetzen und den Vätern zu Kompetenzen verhelfen»

Wie könnte man denn ihr Involvement mehr fördern?
Politisch ist sicher der Vaterschaftsurlaub wichtig und die Förderung von Vereinbarkeit für Männer. Im Kleinen brauchen Väter mehr Wissen und Ermächtigung – und zwar bereits vor der Geburt eines Kindes. Deshalb streben wir gerade an, Geburtsvorbereitungskurse flächendeckend anzubieten.

Wieso gerade Geburtsvorbereitungskurse?
Familiengründung ist die sensible Phase. Dort muss man ansetzen und den Vätern zu Kompetenzen verhelfen. Die meisten Väter wechseln die erste Windel beim eigenen Kind, sie betreten fremdes Terrain. Man muss Kinderbetreuung noch viel näher und selbstverständlicher an die Männerwelt bringen.

Wie gelingt das?
Auch durch die Vermittlung von konkretem Wissen. Viele Männer wissen schlicht nicht, wie wichtig sie sind fürs Aufwachsen ihrer Kinder. Und der Dialog zwischen Paaren muss gefördert werden. Viele Paare gehen sehr naiv in die Familiengründung hinein.

Sprich viele Paare lassen das Elternsein einfach mal auf sich zukommen?
Kaum ein Paar trifft konkrete Vereinbarungen, wie die Aufgaben verteilt werden sollen. Es gibt zwar ein idealistisches Einverständnis, dass man möglichst egalitär leben will. Völlig unterschätzt wird, wie traditionell die strukturellen Normalitätserwartungen immer noch sind. Gegen die muss man sich bewusst wehren, sonst landet man eben wieder beim alten teilmodernisierten Ernährermodell.

Wie erleben Sie Väter im Alltag?
Ich führe Erstberatungen durch, oft bei Trennungen und Scheidungen. Und ich gebe selbst Geburtsvorbereitungskurse und bin mit werdenden Vätern in Kontakt. Die Grunderkenntnis ist, dass Väter extrem willig sind. Keiner will sein wie sein eigener Vater.

Das bedeutet?
Sie wollen ihrem Kind auch im Alltag eine wichtige Bezugsperson sein. Dabei realisieren sie nicht, dass dies Gespräche mit Arbeitgebenden, der Partnerin und Investitionen in die eigene Kompetenzentwicklung bedingt. Da herrscht noch riesige Naivität, sie stolpern in die Familie hinein. Doch man muss aktiv etwas dafür tun, sonst landet man schnell in der Traditionsrolle, die wohl auch die eigenen Eltern schon gelebt haben.

Sehen Sie da bei der jungen Vätergeneration bereits einen grossen Unterschied zu älteren Generationen? Gerade jüngere Männer gaben bei unserer Befragung an, Feministen zu sein, landen dann aber oft trotzdem in der Haupternährerrolle.
Sich zu ermächtigen, ein aktiver Vater zu sein, ist mehr als eine individuelle Entscheidung. Damit das selbstverständlich wird, braucht es ein paar Generationen. Jede Generation macht es ein bisschen selbstverständlicher. Väter vor fünfzehn Jahren machten noch andere Erfahrungen als die heutigen, da tut sich etwas. Sie werden viel automatischer miteinbezogen – auch vom Umfeld.

Wie steht es mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung? In unserer Studie zeigt sich, dass Männer sich selbst positiver und gleichzeitig die Tätigkeit der Frauen geringer einschätzen als umgekehrt.
Es geht natürlich allen so, dass man eigene Beiträge überschätzt und die Beiträge anderer Personen unterschätzt. Wobei sich hier die Frage stellt, ob dies eine klar männliche Eigenschaft ist (lacht). Männer haben aber offenbar ein moderneres Selbstbild, als dies aus der Perspektive der Frauen gerechtfertigt ist.

Markus Theunert, 49, ist studierter Psychologe und Leiter von männer.ch, dem Dachverband Schweizer Männer- & Väterorganisationen, und in dieser Funktion auch Leiter des nationalen Programms MenCare zur Förderung von väterlichem Engagement und männlichen Carebeiträgen. Zusätzlich ist er als Organisations- und Strategieberater tätig. Er lebt mit Partnerin und Tochter in Zürich.

Subscribe
Notify of
guest
1 Comment
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
lLu Decurtins

Ob das Bild auch entsprechend aussehen würde zu Frauen an Care Arbeit