Lieber Körper, wir müssen reden
- Text: Sandra Brun
- Bild: Getty Images
Von Selbstzweifeln zu Selbstakzeptanz, von Body Positivity zu Body Neutrality – von meinem Weg zu mehr Entspanntheit im Umgang mit meinem Körper.
Okay, eins mal vorweg. Body Positivity fand ich fantastisch, als ich das erste Mal davon las. Endlich soll jeder Körper gefeiert werden, unabhängig von Kleidergrössen und Zahlen auf der Waage und Makeln. Doch so toll das tönt, so unglaubwürdig ist es im gleichen Moment. Jeden einzelnen Tag seine eigenen Stretch Marks zu feiern und in der Badi fröhlich auf Cellulite pfeifen? Das Röllchen über den Jeans stolz zur Schau tragen, sich über jede neue Falte freuen? Ist dann in der Realität doch etwas trickier, als es uns all die stolzen Body-Positivity-Influencer auf Social Media glauben machen.
Immer häufiger liest man jetzt von Body Neutrality, dem Begriff, der Body Positivity ablösen soll. Doch was heisst es, bodyneutral zu sein statt bodypositiv?
Neutrale Einstellung zum eigenen Körper
«Body Positivity geht nicht an die Wurzel des Problems: Die Bewegung kritisiert zwar die enge Definition, welche Körper als schön gelten», sagt Anuschka Rees in einem Gespräch mit der «Zeit». «Die Überzeugung, dass man sich schön fühlen muss, um glücklich zu sein im Leben, wird aber nicht infrage gestellt. Und genau da setzt Body Neutrality an.» Rees ist Sozialpsychologin und Autorin des Buches «Beyond Beautiful – Wie wir trotz Schönheitswahn zufrieden und selbstbewusst leben können». Sie plädiert für eine neutrale Einstellung zum eigenen Körper.
Body Neutrality ist eine Bewegung, die uns helfen soll, wegzukommen vom Druck, seinen eigenen Körper immer schön finden zu müssen. Stattdessen geht es darum, seinen Körper zu respektieren – mehr Fokus darauf, was unser Körper tut, als darauf, wie er aussieht. «Das Ziel von Body Neutrality ist, das Selbstwertgefühl sehr viel weniger an die äussere Erscheinung zu koppeln», sagt Rees.
A Waste of Time
Wenn ich mir Gedanken mache darüber, wie viele Stunden, Tage, Wochen meines Lebens ich schon damit vergeudet habe, mich unwohl zu fühlen in meiner Haut, erschrecke ich. Wie häufig habe ich mir schon den Kopf zerbrochen darüber, was ich anziehen soll, um sprichwörtlich eine möglichst gute Figur zu machen? Wie häufig war ich im Sommer schon wütend darüber, wieder nicht in Bikini-Shape zu sein, statt mich einfach mit meinem Bikini-Body, wie er ist, in die Badi zu legen und die Sonne aufzusaugen oder mit meinen Kids rumzutollen?
Wie häufig habe ich mich schon auf Fotos angeschaut und war schockiert, dass ich aus diesem oder jenem Blickwinkel echt so aussehe, statt mich an den schönen Moment zu erinnern, in dem das Foto entstand (der ja offenbar fotografierwürdig war)? Wie häufig habe ich selbst schon andere Frauen angeschaut und mir deren Bauch, Arme, Hintern gewünscht, statt mich für ihre Persönlichkeit zu interessieren?
Wieso hat diese Hülle solch einen Stellenwert?
Und das führt zur wichtigsten Frage in dieser ganzen Körper-Diskussion: Wieso hat diese Hülle, die nur so wenig von uns ausmacht, solch einen Stellenwert? Denn daran hat leider auch die Body-Positivity-Bewegung noch nicht genug geändert. Selbstwertgefühl aus seinem Aussehen zu ziehen, sei deswegen problematisch, da es erstens keine Langzeitstrategie sei, weil sich das Aussehen im Laufe des Lebens ändere, so Rees. Zudem werte man so auch die Bedeutung seiner anderen Qualitäten ab. «Wenn man Frauen immer nur in bester Absicht ‹Ihr seid schön und eure Dehnungsstreifen sind auch schön!› zuruft, dann vermittelt man ihnen gleichzeitig, dass ihr Aussehen das ist, was zählt.»
Was uns stattdessen ausmacht, ist unser Wesen: unsere Seele, unsere Intelligenz, unsere Stärke, unser Humor, unsere Freude, unsere Ängste, unsere Gedanken, unsere Träume, unsere Leidenschaften, unsere Freundschaften, unsere Lieben. Unser Körper ist so nett und hält das alles zusammen, ist quasi der Behälter für all die oben genannten «Inhalte». Und in den allermeisten Fällen ist er ein sehr verlässlicher Behälter.
Er funktioniert zu einem Grossteil, ohne dass wir ihm wahnsinnig viel Beachtung schenken, und tut meist das, was er soll. Trotzdem sind wir häufiger wütend auf unseren Körper, als ihm dankbar zu sein. Dafür, dass er uns dahin trägt, wohin wir wollen, dass er uns all die Erlebnisse ermöglicht, die wir machen, dass er einiges auf dem Kasten hat.
Das bringt mich zu dem Punkt, an dem ich den grössten Schritt meines bisherigen Lebens gemacht habe in Richtung Selbstliebe – stopp, in Richtung Selbstakzeptanz. Denn darum geht es in der Body-Neutrality-Diskussion.
Ein Teil unserer Geschichte
Seit ich schwanger war und mein Körper diese kleinen perfekten Wesen produziert, geschützt, zur Welt gebracht, ernährt und behütet hat, bin ich ziemlich stolz auf ihn. Schwanger zu sein, war nicht immer ein Riesenspass (Übelkeit lässt grüssen). Aber schwanger zu sein, hat mir aufgezeigt, wozu mein Körper imstande ist.
Mutter zu werden, hat mir ausserdem aufgezeigt, dass jeder Körper in erster Linie der Speicher unserer Geschichte ist. Jede Spur auf unserem Körper erzählt einen Teil davon. Seien es Schwangerschaftsstreifen, Falten, Narben oder graue Haare.
Diese Erinnerungen muss ich nicht jeden einzelnen Tag supertoll finden und ich muss auch nicht jeden neuen Eintrag im Geschichtsbuch feiern. Was ich stattdessen denken sollte, ist: Who cares? In dem Sinne: Vielen Dank lieber Körper, dass du mich am Leben hältst, dass du so viel für mich tust. Dein Aussehen ist definitiv nicht das Beeindruckendste an dir. Das Beste an dir liegt unter der Oberfläche.