Liebe Sabine Rückert
- Text: Olivia Sasse; Foto: Vera Tammen für «die Zeit»
Es war ein warmer Augusttag, als ich Ihre Stimme das erste Mal hörte. Ich sass neben meinem Freund im Auto, wir waren auf dem Weg an die ligurische Küste. Unsere Stimmung war ausgelassen, und wir suchten nach Unterhaltung für unseren kurzen Roadtrip. So scrollte ich durch die Podcasts auf Spotify und stiess auf «Zeit Verbrechen», den Podcast, den Sie führen, als stellvertretende Chefredaktorin der «Zeit» und Expertin für Verbrechen, zusammen mit Andreas Sentker, Ressortleiter Wissen.
Ich drückte auf Play, und die damals aktuellste Folge «110 – bei Anruf tot» ertönte. Wir hörten die Geschichte des 18-jährigen Abiturienten, der des Nachts und in bittere Kälte auf einer Strasse überfahren wurde, und der beiden Polizisten, die dafür verantwortlich gemacht wurden. Ich erinnere mich daran, dass wir die Folge beim Hören mehrmals unterbrochen haben. Einer von uns sagte jeweils was wie: «Das kann doch einfach nicht sein.» oder «Wie konnten sie das nur tun?» – dann haben wir den Pausenknopf gedrückt und diskutierten drauflos. Manchmal unterbrachen wir die Folge auch nur, um schweigend nebeneinanderzusitzen und die Informationen zu verdauen. Wir waren zu gleichen Teilen gefesselt von den Schilderungen wie auch verstört von den überaus tragischen Entwicklungen in diesem Fall.
Wäre dieser Fall der literarische Erguss eines Krimibuchautors gewesen, hätte sich mein Magen in den rund 44 Minuten kaum so verkrampft. Aber dieser Fall hatte sich tatsächlich so zugetragen – wie auch alle anderen Verbrechen, die Sie im Podcast erläutern. Dennoch ist es nicht in erster Linie eine Auflistung von menschlichen Grausamkeiten und Abgründen, die nur die eigene Sensationsgier befriedigen sollen. Vor gut 18 Jahren haben Sie begonnen, als Gerichtsreporterin zu arbeiten, und all die Stunden in Gerichtssälen, alle Gespräche mit Anwälten und Betroffenen, all diese Erfahrung, die Sie zur Expertin für Verbrechen macht, sind das tragende Element Ihres Podcasts.
Sie thematisieren wichtige und schwierige Themen wie häusliche Gewalt und erzählen, wie Liebe in Hass umschlagen kann. Sie erklären, wie ein Kommissar zu einem Geständnis kommt und wieso das Justizsystem manchmal auch versagt. Eine Mutter, die an einer Wochenbettpsychose leidet und ihr Baby tötet, beginnen wir plötzlich besser zu verstehen – weil Sie eben nicht nur über die Tat an sich sprechen, sondern auch über Hintergründe, das Rechtssystem und psychologische Phänomene. Sie bringen die Zuhörer zum Nachdenken, über die Fälle – und auch darüber, wie wir Menschen eigentlich ticken.
Als preisgekrönte Journalistin sind Sie für mich ein Vorbild. Nicht nur, weil Sie scharfsinnig sind und die Fälle gekonnt erläutern, sondern weil Sie wirklich tief graben. Das zeigt sich auch in Ihren zwei Büchern, die Sie 2000 und 2007 veröffentlicht haben. Im ersten, «Tote haben keine Lobby. Die Dunkelziffer der vertuschten Morde», sprechen Sie über Tötungsdelikte, die nicht erkannt werden, weil die Leichenschau vernachlässigt wird. In Ihrem zweiten Buch, «Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen», sprechen Sie über die falschen Anschuldigungen einer Vergewaltigung. Der Fall wurde wegen Ihrer Hartnäckigkeit und Ihrer langwierigen Recherche wieder aufgenommen und die beiden unschuldig Verurteilen wurden freigesprochen.
Ihre Arbeit ist alles andere als seichte Unterhaltung, die man bei der Autofahrt nur so nebenher hören sollte. Sie erfordert und verdient volle Aufmerksamkeit. In der Zeit von Fake News und Clickbait-Geschichten erzählen Sie gute, fundierte Geschichten, die auch morgen, übermorgen und am Tag danach noch lang nachhallen – danke dafür.
Herzlich,
Olivia Sasse