Liebe Reshma Saujani
- Text: Julia Heim; Foto: Getty Images
Sie sind Juristin, Autorin und Gründerin der Organisation Girls Who Code, mit der Sie Mädchen dazu ermutigen, in die Tech-Welt einzutauchen und ihre Programmierfähigkeiten zu entfalten. Mädchen, die lernen sollen, dass der Versuch weit mehr zählt als das Ergebnis; dass es darum geht, etwas zu wagen.
Den Link zu Ihrem TED-Talk habe ich bereits etliche Male geteilt. Ich erzähle von Ihnen, als wären wir uns schon einmal begegnet. Als hätte ich im Raum gesessen, als Sie im Februar 2016 auf der Bühne standen und sagten: «We are raising our girls to be perfect and we’re raising our boys to be brave.»
In Ihrem Talk berichten Sie auch von einem HR-Report, der beschreibt, wie unterschiedlich Männer und Frauen an eine Stellenausschreibung herangehen. Während sich ein Grossteil der Frauen nur dann bewirbt, wenn sie der Stelle perfekt entsprechen, reichen Männer eine Bewerbung ein, wenn sie 60 Prozent der geforderten Attribute mitbringen.
Dass der Report zutrifft, sehe ich in meinem Umfeld: Meine Freundin ist auf Jobsuche, um sich weiterzuentwickeln. Sie ist klug, hervorragend ausgebildet, spricht mehrere Sprachen und konnte sich bei ihrer aktuellen Arbeitgeberin rasch in höhere Positionen hinaufarbeiten. Als sie mir den Stellenbeschrieb eines Jobs zeigt, für den sie sich beworben hat, sehe ich, dass sie hinter jede der Anforderungen ein Häkchen gemalt hat. Als ich sie frage, auf wie viele Stellen sie sich in letzter Zeit beworben hat, bleibt es bei dieser. Schliesslich sei dies die einzige gewesen, deren Anforderungsprofil sie zu 100 Prozent erfülle.
Ich frage mich: Wie viele Chancen haben wir uns bereits entgehen lassen, weil wir Angst davor hatten, abgelehnt zu werden?
Während ich meiner Freundin sage, wie wichtig es ist, dass sie sich auch an Jobs herantraut, in die sie erst hineinwachsen muss, frage ich mich, ob ich diesen Rat ebenso konsequent befolgen würde. Und plötzlich fällt mir mein Vater ein, der mir seit meiner Schulzeit erklärt, dass die Kunst nicht darin besteht, eine neue Aufgabe bereits perfekt zu beherrschen, sondern darin, das Geforderte schnell zu lernen und sich dabei nichts anmerken zu lassen. Fake it till you make it. Ich hatte das Glück, in einer Familie aufzuwachsen, in der Mut belohnt wird und Scheitern erlaubt ist. Und doch schleicht sich auch bei mir der Zweifel manchmal ein. Lässt die Hand zurückschrecken, wenn sich eine neue Gelegenheit bietet, denn nicht nur die Familie erzieht, sondern auch das Umfeld, die Schule, die Freunde, das ganze System. Deshalb ist ein Wandel wichtig. Und wir alle müssen mitarbeiten bei diesem Wandel, müssen Mut höher gewichten als Perfektion. Das braucht Zeit.
2010 hatten Sie sich mit 33 für ein politisches Amt beworben. Allen Kritikern zum Trotz sammelten Sie Geld für Ihren Wahlkampf, machten Stimmung, kämpften. Bei der Wahl erreichten Sie lediglich 19 Prozent der Stimmen. Chancenlos. Ihre Kritiker sollten recht behalten, warfen Ihnen vor, 1.3 Millionen Dollar an Spendengeldern vergeudet zu haben. Und doch bedauern Sie dieses Engagement nicht. Mit dieser Geschichte leiten Sie Ihren Vortrag ein. Es habe 33 Jahre gedauert, bis Sie etwas wirklich Mutiges taten, sagen Sie. Es gehe darum, etwas zu wagen, selbst wenn der Versuch scheitert. Gerade der Gedanke ans Scheitern hält so viele von uns zurück. Dabei ist nicht nur wichtig, etwas zu tun, das weit ausserhalb unserer Komfortzone liegt, und daran zu wachsen, sondern auch zu sehen, was passiert, wenn einem etwas misslingt. Es ist nicht das Ende. Im Gegenteil. Es kann ein Anfang sein.
Ich habe kein Kind. Und wer weiss, ob ich jemals eines haben werde. Aber wenn, dann weiss ich, was ich ihm beibringen will. Und dabei würde ich ganz bestimmt wieder von Ihnen erzählen, liebe Reshma Saujani.
Herzlich, Julia Heim