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Liebe Mujinga Kambundji

Leben

Liebe Mujinga Kambundji

  • Text: Helene Aecherli; Bild: Keystone

Ich muss Ihnen gleich gestehen, dass ich von Leichtathletik wenig Ahnung habe. Zwar mag ich das Spektakel der 100-Meter-Sprint-Finale an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. Dann, wenn die Athletinnen und Athleten wie Gladiatoren in die Arenen schreiten, hungrig darauf warten, dass ihr Name fällt, und dann die Arme heben, um den Applaus entgegenzunehmen, sich in Position bringen, mit gesenktem Kopf auf den Knall warten und losrennen, als stünde ihr Leben auf dem Spiel, während ich mich zurücklehne und darüber sinniere, wie sie es schaffen, in ihrer Bahn zu bleiben.

Selbst waren mir damals, im Turnen, die weissen Linien auf der abgewetzten Tartanbahn jeweils ziemlich egal; nein, viel schlimmer, sie waren eigentlich meine Feinde, denn sie suggerierten mir: Jetzt wirds anstrengend. Nicht, dass ich besonders langsam gewesen wäre, im Gegenteil: Ich hätte vielleicht sogar ganz gut sein können im 80-Meter-Lauf, und ich mochte das Kompetitive und das gemeinsame Schwitzen. An den Schulsporttagen war ich denn auch meist schneller als meine Klassenkameradinnen und die von der Parallelklasse, und, logisch, noch schneller, wenn Stefan, de Stiif, neben der Bahn sass und betont gelangweilt an seinem versifften Schweissband herumzupfte. Aber eben, mir fehlte dieser Biss, diese finale Dringlichkeit, auf dem Sportplatz mehr zu leisten, als unbedingt nötig war.

Sehen Sie, aus diesem Grund bin ich, nüchtern betrachtet, gänzlich ungeeignet, Ihre Leistung so zu würdigen, wie sie es verdient. Aber was Sie eben an der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Doha vollbracht haben, übersteigt das Business as usual, drängt über die gängige Sportberichterstattung hinaus und zieht in eine Sphäre ein, die für alle greif- und begreifbar ist. Sie haben mit der Bronze-Medaille im WM-Final über 200 Meter Geschichte geschrieben; sind die erste Schweizer Sprinterin überhaupt, die eine WM-Medaille gewinnt. Grossartig! Aber wissen Sie was? Es ist nicht einmal die Medaille per se, die mich nun dazu treibt, ja, regelrecht dazu zwingt, Ihnen diese Zeilen zu schreiben, sondern Ihre Fähigkeit, die Niederlagen, die Sie vor diesem Triumph erfahren haben, in Schnellkraft zu verwandeln.

Lassen Sie mich kurz ausholen, denn diese Niederlagen sind geradezu legendär: An der Europameisterschaft 2014 liessen Sie in Ihrer Rolle als Abschluss-Sprinterin Ihrer Staffel den Stab fallen. Durch einen kleinen Lapsus, eine winzige Unachtsamkeit, vielleicht war ein Sandkorn auf der Tartanbahn die Ursache, vielleicht eine millimeterfeine Fehleinschätzung der Distanz zur Hand Ihrer Vorläuferin. Sie haben Ihrem Team sozusagen den Erfolg verbaut. Grauenvoll. Ich habe jetzt noch Schweissausbrüche, wenn ich daran denke.

Und letzte Woche verpassten Sie den Einzug in den 100-Meter-WM-Final um eine Tausendstelsekunde. Weil sie einen Hauch weniger Rückenwind hatten als Ihre Gegnerin. Pah! Eine Tausendstelsekunde! Das ist absurd, oder? Ein Tausendstel – das ist doch nichts weiter als ein geradezu sadistisches Ausreizen der Lichtschrankentechnik. Denn wie soll man damit umgehen, wenn man einen Tausendstel langsamer war, wenn eine im Prinzip nicht mehr fassbare Zeiteinheit über Sieg oder Niederlage entscheidet? So gesehen, steckt in diesem Tausendstel ein fast schon philosophisches Ausmass, eine epische Qual, die ganz grosse Tragik. Ich hätte an Ihrer Stelle wohl gehadert, mich mit selbstzerfleischender Akribie hinterfragt, Studien zur Zeit und Zeitmessung gelesen, Lichtschranken studiert, und irgendwann einen weinerlichen Essay über die Dimensionen der Tausendstel geschrieben. Vielleicht hätte ich den Tausendstel gar als Hohn der Göttinnen empfunden, als deren Zeichen, endlich einzusehen, dass ich mir nur vorgemacht habe, zu können, was ich zu können glaubte. Vielleicht hätte ich mit dem Hochleistungssport aufgehört und wäre Lastwagenfahrerin geworden oder hätte ein Yogastudio aufgemacht.

Aber zum Glück ticken Sie anders. Sie haben zwar nicht gelächelt, als Ihnen der Tausendstel ins Gesicht grinste. Aber Sie haben ihm nicht einmal den Stinkefinger gezeigt, sondern einfach weitergemacht. Sind ein paar Tage danach wieder an den Start gegangen, haben sich in Position gebracht, sich konzentriert und gewartet, bis der Startschuss knallt. Und dann sind Sie gerannt, wie sie noch nie gerannt sind, warfen sich 200 Meter später über die Ziellinie – und holten sich die WM-Bronze-Medaille.
Manchmal braucht es eben nur 22.51 Sekunden, um einen Tausendstel vergessen zu machen.
Ich werde von Ihnen lernen!

Herzlichst, Helene Aecherli