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Liebe Marina Abramović

Liebe Marina Abramović

  • Text: Aleksandra Hiltmann

Als ich zum ersten Mal Filmausschnitte Ihrer Performance «The Artist is present» sah, lief es mir kalt den Rücken runter. Ein Tisch, ein Holzstuhl und Sie.

Zweieinhalb Monate lang sassen Sie im New Yorker Museum of Modern Art, jeweils acht Stunden am Tag. Sie haben die Menschen eingeladen, sich Ihnen gegenüberzusetzen und Ihnen in die Augen zu schauen. 750 000 Menschen wollten das tun. 1500 haben es auf den Stuhl vis-à-vis von Ihnen geschafft. Viele fingen an zu weinen. Bei dieser extremen Langzeitperformance litten Sie solche Schmerzen, dass Sie – wie sie einem Journalisten erzählten – irgendwann gar keine mehr fühlten. Durchhalten und aushalten, das sind Sie. Sie sind radikal und kompromisslos, äusserlich wie innerlich, vor allem gegenüber sich selbst. Sie haben sich mit Rasierklingen und Peitschen traktiert, haben sich stundenlang auf ein Kreuz aus Eis oder einen brennenden Sägemehlstern gelegt und sind nackt immer wieder in eine Wand gerannt.

Einmal haben Sie Gebrauchsgegenstände und Werkzeuge bereitgelegt und dem Publikum mitgeteilt, dass es nun mit Ihnen machen könne, was es wolle. Welche Abgründe von uns Menschen sich da auftaten. Nach einigen Stunden hingen Ihnen die Kleider als Fetzen vom zerkratzten Leib. Jemand hat sie sogar erschiessen wollen.

International bekannt wurden Sie spätestens mit Ihrer Performance «Balkan Baroque». Zum Gesang jugoslawischer Totenlieder haben Sie vier Tage lang teilweise blutige Rindsknochen gewaschen, 1500 Stück, sechs Stunden pro Tag. Es war Ihre Art, mit dem brutalen Zerfall des ehemaligen Jugoslawien, ihrer Heimat, umzugehen. Dafür haben Sie 1997 den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig erhalten.

Leider habe ich Sie nie live gesehen. Vielleicht aber auch besser so. Doch nur schon die Aufnahmen von Ihnen und Ihrem Schaffen lösen viel in mir aus. Mal bin ich entsetzt, mal zutiefst berührt.

Ihre Kunst ist nicht einfach nur schön. Oft musste ich bei den Videoaufnahmen Ihrer Performances auch wegsehen. Schockierend, dieses Malträtieren eines einzigen Körpers.

Weshalb die ganze Strapazen?

Das Leben hat Ihnen viel zugemutet. Ihre Kindheit war geprägt von hartem Drill und wenig Liebe. Sie verwandeln Ihren eigenen Schmerz, Ihre Wut und Trauer in Kunst. Sie wollen damit sich selbst und das Publikum herausfordern und verändern. Sie wollen den Leuten zeigen, dass Sie die Angst vor dem Schmerz überwunden haben und andere das auch können.

Für mich sind Sie der Spiegel für so vieles, von dem wir nicht in der Lage sind, es auszudrücken oder zuzugeben. Sie durchleben und zeigen, was wir nicht sehen können oder fühlen wollen.

Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, dass Ihre Kunst zu Kommerz und Mainstream verkommen sei, zu einer pathetischen, melodramatischen Show, kitschig, wie im Zirkus. Ich weiss auch nicht, ob ein Adidas-Werbevideo für die Fussballweltmeisterschaft in Brasilien 2014 nötig gewesen wäre.

Aber ganz im Ernst: Die eigene Verletzlichkeit zu zeigen, damit es das Publikum einem gleichtun kann, dem Publikum Raum und Werkzeuge zur Selbsterkenntnis anbieten – das soll Ihnen alles zuerst mal einer nachmachen. Sie haben der Welt gezeigt, was es bedeutet, sprichwörtlich mit Haut und Haaren für die Kunst zu leben. Danke, dass Sie Grenzen sprengen, Abgründe vorführen, Schmerz überwinden und damit Menschen bewegen. Und das seit über 40 Jahren!

Mit über 70 dürfen Sie sich nun etwas zurücklehnen, Sie haben es mehr als verdient.

Herzlich,
Aleksandra Hiltmann