Liebe Jodi Kantor und Megan Twohey
- Text: Miriam Suter; Foto: Getty Images
Leider kenne ich Sie beide nicht persönlich. Sie arbeiten bei der «New York Times», ich als freie Journalistin in der Schweiz. Aber wir haben etwas gemeinsam: Wir beackern einige der undankbarsten Felder im Journalismus – soziale Ungerechtigkeit, Gender und Feminismus. Undankbar deshalb, weil man oft monatelang recherchiert, ohne zu wissen, ob sich der Aufwand lohnt. Weil man sich in einer Welt bewegt, in der man auf Eierschalen läuft, weil viele Quellen eine Wahnsinnsangst haben, mit Reporterinnen zu sprechen. Davon schreiben Sie auch in Ihrem Buch «She Said», das Anfang September erschien.
Es ist die berühmte Story hinter der Story: Sie schildern, wie Sie ganz zu Beginn Ihrer #MeToo-Recherchen bis zum Hals in anderen Geschichten gesteckt haben, unter anderem jene über die Vorwürfe einer Vergewaltigung durch Donald Trump. Sie beschreiben, wie Sie selber an der Geschichte gezweifelt haben. Wie Ihnen Kollegen von der Recherche abgeraten haben. Ganz zu Beginn des Buchs erzählen Sie, wie schwierig es war, die erste Schauspielerin dazu zu bringen, ihre Geschichte on the record zu erzählen. Welchen Aufwand Sie dafür betreiben mussten. Wie lang es dauerte, bis Sie eine ehemalige Assistentin Weinsteins gefunden und aufgesucht haben, um mit ihr zu sprechen. Und wie sie zu Ihnen, als Sie endlich vor deren Tür standen, sagt: «Auf diesen Moment habe ich so viele Jahre gewartet.»
Es muss einer dieser Glücksmomente im Leben einer Reporterin gewesen sein: Du weisst, du hast gerade etwas gefunden, das deine Story um ein Vielfaches besser, wertiger und relevanter macht. Ein Moment, den die Journalistin Joan Didion einmal als «pure gold» bezeichnete. Völlig zu Recht wurden Sie für die Geschichte 2018 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. «She Said» liest sich wie ein Krimi, der nicht nur für andere Journalistinnen und Journalisten interessant sein dürfte. Das Buch erzählt nicht nur die Geschichte um Weinstein, sondern untersucht auch Fälle wie jenen von Brett Kavanaugh – dem US-amerikanischen Juristen, dem vor seiner Vereidigung zum Richter am Obersten Gerichtshof von der Professorin Christine Blasey Ford vorgeworfen wurde, sie zu Schulzeiten vergewaltigt zu haben.
Für mich hat Ihre Geschichte zusätzlich eine feine, nicht zu verachtende Meta-Ebene, nämlich, wie Frauen Geschichten erzählen, wie Journalistinnen arbeiten, gerade wenn es um Themen wie sexuellen Missbrauch geht. Es ist ein mitfühlender Journalismus, ohne «Betroffenheitsjournalismus» zu sein. Diese Art zu arbeiten könnte in einer Post-#MeToo-Ära ein Gewicht erhalten, das schon lang fällig ist: Ich kenne so viele Journalistinnen, die sich vor allem an männlichen Autoren orientieren, Männer zum Vorbild haben. Ich selber nehme mich davon nicht aus, bei mir war das auch lang so. Es ist Journalistinnen wie Ihnen zu verdanken, dass eine ganze Generation neue Vorbilder bekommt, weibliche Vorbilder, feministische Vorreiterinnen. Und dafür hätten Sie beide eigentlich gleich noch einen zweiten Pulitzer-Preis verdient.
Herzlich,
Miriam