Liebe Joanne K. Rowling
- Text: Kerstin Hasse; Foto: GettyImages
Ich kann mich noch so gut erinnern. Es war der 13. Geburtstag meiner Schwester. Von einer Kollegin erhielt sie damals ein Buch geschenkt. «Harry Potter und der Stein der Weisen» stand auf dem Buchdeckel, daneben war eine weisse Eule abgebildet. Ich war neun Jahre alt, und nachdem meine Schwester das Buch verschlungen hatte und es mir in die Hand drückte, veränderte sich mein Leben.
Sie, liebe Joanne K. Rowling, veränderten mein Leben. Sie schenkten mir eine Welt. Ein zauberhaftes, buntes Universum, in das ich eintauchen durfte. Meine Kindheit und meine Jugend wurden von den von Ihnen geschaffenen Figuren begleitet. Harry, Hermine, Ron, Dumbledore, Sirius, Ginny und all die anderen magischen Gestalten waren durch Ihre Bücher Teil meines Lebens.
Ich lag mit Harry in der kleinen Kammer unter der Treppe in Onkel Vernons und Tante Petunias Haus. Ich ärgerte den fetten Dudley. Ich setzte mir den sprechenden Hut auf und sass im Gryffindor-Gemeinschaftsraum vor dem knisternden Kamin. Ich übte Zaubersprüche und – Wingardium Leviosa – ihre richtige Aussprache. Ich schwor feierlich, ein Taugenicht zu sein, um die Karte des Rumtreibers zu öffnen, und schlich unter Harrys Tarnumhang durch das nächtliche Hogwarts. Ich ass Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung. Ich flüchtete mit Harry und Ron vor den Spinnen im verbotenen Wald. Ich sass mit Hagrid in seiner Hütte und streichelte Fang. Ich grüsste den Fast Kopflosen Nick, verspeiste Kürbiskuchen mit den Schülern in der grossen Halle und blickte hinauf zur Schlossdecke, auf der tausend Sterne funkelten. Ich schlürfte Butterbier in Hogsmeade. Ich löste die kniffligsten Rätsel mit Hermine, der ich mich wegen ihrer wilden, kaum zu bändigenden Mähne noch bis heute besonders verbunden fühle. Ich bekämpfte mit Harry seinen ersten Dementor und lag nachts wach im Bett, um mir zu überlegen, was mein Patronus wohl für eine Form annehmen würde. Ich irrte durch das magische Labyrinth, liess mich in Mr. Weasleys verzaubertem Wagen aus der peitschenden Weide katapultieren, bekämpfte Drachen, ritt auf einem Hippogreif und brach mit Harry, Hermine und Ron ins Zaubereiministerium ein. Ich verabscheute Dolores Umbridge und verehrte Minerva McGonagall. Ich stellte mich Bellatrix Lestrange und den anderen Todessern. Ich knuddelte Dobby. Ich weinte um Sirius Black und dann um Albus Dumbledore, um Lupin, Tonks und Fred. Ich hasste Snape und verstand ihn erst später. Ich suchte die fehlenden Horkruxe und zerstörte sie, so wie damals Tom Riddles Tagebuch mit dem Zahn des Basilisken. Und ich kämpfte an Harrys Seite den letzten grossen Kampf gegen Voldemort.
All das, was ich auf den fast 4500 Seiten (ja, ich habe nachgezählt!) erlebte, haben Sie für mich erschaffen. Als das letzte Buch erschien, war ich 17 Jahre alt. Ich liess mir den Band per Kurier nachts um zwölf nachhause liefern. Ich sass im Bett und las, bis mir die Augen zufielen. In den Jahren zuvor hatten meine Schwester und ich jeweils darum gefeilscht, wer den nächsten Band zuerst lesen durfte. Manchmal wechselten wir uns sogar kapitelweise ab. Da war immer die Angst, zu schnell mit dem Buch fertig zu werden, und gleichzeitig war da die Neugier und die unbändige Lust, ein Kapitel nach dem anderen zu verschlingen und wieder tief in dieses Potter-Universum einzutauchen. Um die Zeitspanne bis zum Erscheinen des nächsten Buchs zu überbrücken, hatten wir uns in den Ferien gegenseitig die bereits erschienen Bände nochmals vorgelesen. Und noch heute liegen wir an Weihnachten zusammen im Bett und schauen uns einen Harry-Potter-Film an. Die Welt von Harry, sie ist uns vertraut. Sie verleiht uns eine Art kindlicher Fantasie, die wir in unserem Erwachsensein manchmal vermissen. Die Leere, die ich nach dem Ende des letzten Buchs spürte, war furchtbar. Ich konnte nicht glauben, dass sich diese Welt, die mich durch meine ganze Kindheit begleitet hat, nicht mehr weiterdrehte.
Joanne K. Rowling, ich bezweifle, dass mich irgendeine andere Autorin oder ein anderer Autor je so beeinflussen wird, wie Sie es getan haben. Mit Ihrem unglaublichen Erzähltalent, Ihrer Sprachgewalt und Ihrem hervorragenden, durchdachten Storytelling haben Sie nicht nur mich, sondern Millionen von Kindern und Erwachsenen in Ihren Bann gezogen. Ihre Bücher wurden bis heute in über 200 Ländern verkauft und in über 80 Sprachen übersetzt. Dafür wurden Sie sogar zur Ritterin der französischen Ehrenlegion ernannt.
Ich mach mir eigentlich nichts aus solchen Titeln und Preisen. Denn alle Auszeichnungen dieser Welt erklären nicht, was Sie erreicht haben. Sie haben etwas Ausserordentliches geschafft: Sie haben in diese Welt voller langweiliger Muggel ein wenig Magie gebracht. Und dafür bin ich Ihnen bis heute von ganzem Herzen dankbar.
Hochachtungsvoll,
Kerstin Hasse