Liebe Greta Thunberg
- Text: Jessica Prinz, Foto: Getty Images
Eben erst unterhielt ich mich mit einer guten Freundin über unsere Zeit am Gymnasium. Die Zeit, als wir so alt waren wie Sie jetzt. Ich zog damals von den Bergen in die Stadt, um das Gymnasium besuchen zu können. Eine schöne Zeit. Unbesorgt. Das Stadtleben war aufregend, meine Mutter nicht da, ich frei wie ein Vogel. Die grössten Probleme, überlegten meine Freundin und ich, die wir damals hatten, betrafen wohl unsere Lehrer. Der eine schimpfte ständig mit uns, wenn wir nach dem Sportunterricht zu spät in die Geografiestunde kamen, der andere verbot uns Scheren und Leimstifte in der Geschichtsstunde – und machte es somit fast unmöglich für uns, Jasskarten zu basteln und dadurch dem Unterricht nicht zu folgen. Jetzt, zehn Jahre später, verfolge ich staunend all diese interessierten und engagierten Schülerinnen und Schüler, die an diesem Freitag wieder für den Klimastreik auf die Strasse gehen – und wünsche mir, ich wäre ein wenig mehr so gewesen wie sie alle. Und wie Sie, Greta Thunberg.
Ich wünschte, dass ich mich schon so früh für etwas eingesetzt hätte, das uns alle interessiert und betrifft: Ein gesundes Klima, eine idealistischere Politik, die sich nicht nur für Wirtschaft und Wohlstand interessiert, sondern auch dafür, was grundsätzlich aus unserer Welt wird – und ob es sie denn überhaupt noch in einer gesunden Form in ein paar Jahrzehnten gibt. Gern hätte ich damals diesen Weitblick besessen, den Sie an den Tag legen. Ich hatte damals kein Bewusstsein dafür, wie schlimm es um die Klimaerwärmung steht, hatte keine Ahnung, welchen Einfluss ich als Einzelne auf die Politik haben könnte. Gern hätte ich Ihren Mut besessen, Ihren Durchsetzungswillen und vielleicht auch ein wenig Ihre Naivität, um etwas so grosses anzupacken und die Weltpolitik verändern zu wollen.
Der Drang, etwas zu bewegen, kam bei mir erst viel später. Am allerersten Tag meines Studiums wurde mir dann beigebracht, zu machen: «Es sollte nicht Studium heissen», sagten die Gebrüder Riklin, ein Kunstduo, das sich mit Ihrer Kunst gesellschaftlichen Themen annimmt, damals an der Hochschule Luzern hunderten angehenden Kunststudenten. «Ihr seid nicht hier, um zu studieren. Das ist kein Studium, kein Denkium. Es ist ein Machium. Und ihr sollt Macher sein!» Eine sehr inspirierende Botschaft für angehende Kunststudenten, fand ich, denn was im Alltag viel zu viel passiert – so meine Erfahrung – ist Denken. Alles wird zerdenkt, analysiert, geplant und konzipiert. Und am Ende wird zu wenig gemacht. Das ist nicht nur in der Kunst so, sondern auch im Alltag. Und auch in der Klimapolitik. Wenn alles denkt und niemand anpackt – wird halt einfach nichts passieren. Aber dafür haben wir ja Sie als Vorbild.
Liebe Greta Thunberg, Sie sind für mich tatsächlich ein Vorbild. Sie halten Reden und informieren sich und andere. Es ist natürlich sehr wichtig, dass man recherchiert und weiss, wovon man spricht. Aber Sie machen dann eben auch. Sie gehen auf die Strasse, um zu streiken, Sie löschen die Lichter zuhause, Sie fliegen nicht, Sie leben vegan: Kleinigkeiten, aber Dinge, die einen Unterschied machen können. Das wissen Sie, das haben Sie bereits bewiesen. Nur wissen das viele nicht – und unterstellen Ihnen deswegen Naivität. Aber wenn wir ehrlich sind, ist Naivität erstens einmal eine tolle Eigenschaft, die einen nicht vor Angst lähmt, sondern hoffnungsvoll weitermachen lässt. Und zweitens sind in Hinblick auf die Klimapolitik wohl oft nicht Sie die Naive, sondern diejenigen, die am Hebel sitzen und meinen, man könne einfach so weitermachen wie bisher. Wie viele Shitstorms müssen Sie über sich ergehen lassen. Mittlerweile hat die mediale Welt Ihr Tun und Handeln ja bis ins kleinste Detail analysiert. Man wirft Ihnen vor, es stecke eine grosse Marketingkampagne hinter Ihnen, Sie wollen von wichtigeren Themen ablenken, Sie werden von Erwachsenen gelenkt. Und da haben wir es schon wieder: Während Sie sich voll auf die Sache konzentrieren, tun die, die es eigentlich in der Hand hätten, etwas zu ändern – Politiker, Organisationen, Medien – wieder nur eins: Zerdenken, analysieren.
Aber davon lassen Sie sich nicht beirren. Mit Ihren 16 Jahren machen Sie einfach weiter. 16 Jahre – und Sie wurden in Schweden schon zur Frau des Jahres gewählt und sind jetzt sogar für den Friedensnobelpreis nominiert. Aber was viel wichtiger ist: Sie haben so viele Menschen bewegt, so viel erreicht. Wohl schon viel mehr, als so manche andere in ihrem ganzen Leben erreichen werden. Ich wünschte mir, ich hätte in Ihrem Alter die Kämpfe geführt, die Sie jetzt führen. Ich kämpfte damals bei meiner Mutter dafür, mir ein Tattoo stechen lassen zu dürfen. Ich kämpfte am Konzert um den besten Platz vor der Bühne. Ich kämpfte um das Herz eines anderen, viel zu unreifen jungen Menschen. Rückblickend hätte ich mich aber lieber für Dinge eingesetzt, die mich auch heute noch interessieren. Das Klima zum Beispiel. Frauenrechte. Unsere Welt. Dafür lohnt es sich wirklich, zu kämpfen.
Machen Sie weiter, Greta Thunberg. Ich nehme mir ein Beispiel an Ihnen.
Jessica Prinz