Beim Schreiben dieses Briefs ist es mir, als schriebe ich einer sehr vertrauten Freundin. Einer Freundin aus meiner Kindheit, die ich sehr schätzte, mit der ich meine Freizeit verbracht habe.
Natürlich ist es etwas seltsam, Sie als eine alte Freundin zu bezeichnen. Ich kenne Sie ja nicht. Nicht persönlich. Aber ich kenne Emi und Tina, Samira, Mila und alle die Heldinnen Ihrer Bücher, die ich in meiner Kindheit und Jugend verschlungen habe. Mein Regal zu Hause war voll von Ihren Geschichten, das Regal in der Bibliothek, das Ihr Namensschild trug, dafür immer leer. Mit Ihren Büchern habe ich entdeckt, welche Kraft eine Geschichte haben kann: Statt im Dorf zu verkümmern, konnte ich mit Ihnen um die ganze Welt reisen. Die Schauplätze in Ihren Büchern waren meist fremd – in Kultur, Sprache und Religion. Sie nahmen mich mit in die Sahara, zu den Tuareg, führten mich in die japanische Kultur ein und in die Traditionen der Tibeterinnen und Tibeter. Sie haben mein Fernweh geweckt, meine Neugier aufs Leben, die bis heute anhält. Kein Wunder bin ich mit meinem ersten Geld allein nach Nepal gereist – und war auch in der Realität plötzlich gar nicht mehr so ‘fern von Tibet’.
Sie haben mit 16 Jahren Ihren ersten Roman geschrieben. Das Mädchen Ann Morisson rennt einem roten Seidenschal hinterher und verpasst so die Rückfahrt zu ihrer Tante. Ebenso wie die Protagonistin die Chance ergreift, aus ihrem Käfig auszubrechen, haben Sie mir gezeigt, dass statt sich von der Welt einschüchtern zu lassen, einfach loszulegen die bessere Variante ist. Mittlerweile haben Sie über 80 Bücher geschrieben. Dank Ihnen weiss ich, dass man seine Leidenschaft schon als Kind finden kann, und diese nicht kleiner werden muss, nur weil man selber grösser wird. Heute kann auch ich das tun, was ich liebe: Schreiben.
Nicht weniger beeindruckend waren für mich Ihre Protagonistinnen. Ihre Heldinnen sind stets mutige Frauen, starke Mädchen, die sich auch der Liebe komplett hingeben, sich dafür aber nicht aufgeben. Protagonistinnen, die ambitionierte Ziele haben und selbstbewusst sind – genau wie Sie selbst. Sie zogen in der Schule Hosen an, obwohl im Mädchengymnasium Rockpflicht galt. Ihr Frauenbild ist ein selbstbestimmtes – eines, von dem ich dankbar bin, dass ich es während meiner Kindheit verinnerlichen durfte.
Ich hoffe, dass es auch heute noch viele Kinder gibt, die mit Ihnen aufwachsen. Die lernen, wie wichtig es ist, gerade in Zeiten von Grenzzäunen und Pussygrabschern durch das Lesen einen neuen Blickwinkel zu entdecken – und mit der Fantasie auf Entdeckungsreise zu gehen. Anders als bei Computerspielen muss man sich die Bilder beim Lesen immer noch selber im Kopf kreieren. Und mit der Vorstellungskraft kommt Einfühlungsvermögen. Und mit dem Einfühlungsvermögen kommt Toleranz.
Herzlichen Dank für all die Abenteuer, die ich mit Ihnen erleben durfte.
Viviane Stadelmann