Wir begegneten einander vergangenen Juli am Global Summit of Women in Basel, dem Weltwirtschaftsgipfel der Frauen. Ein grandioser Anlass. Über 1000 Politikerinnen, Wirtschaftsführerinnen, Unternehmerinnen und NGO-Mitarbeiterinnen aus 60 Ländern waren für diesen dreitägigen Anlass in die Schweiz gekommen, darunter Delegationen aus Frankreich, Deutschland, Spanien, Mexiko, Kasachstan und Kamerun. Diskutiert wurden hauptsächlich Fragen der Chancengleichheit in der Geschäftswelt, die Bedingungen der Vereinbarkeit von Beruf von Familie sowie die Gesundheit und Sicherheit von Frauen. Und diesem Zusammenhang ging es ganz besonders darum, sexualisierte Gewalt an Frauen international endlich nicht mehr als Kavaliersdelikt abzutun, sondern als Verbrechen, unter Umständen sogar als Kriegsverbrechen, zu ächten und dementsprechend zu ahnden. Und hier kommen Sie ins Scheinwerferlicht. Kraft Ihres Status als einstige Präsidentin der Republik Kosovo, erheben Sie Ihre Stimme für die über 20 000 Frauen und Männer, die während des Kriegs zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien vergewaltigt worden waren, und fordern in ihrem Namen Gerechtigkeit.
«Der Kosovo», betonen Sie, «kann in dieser Hinsicht als Exempel für andere Länder gelten. Denn sexualisierte Gewalt geschieht überall. In jeder Sekunde. In Ländern des Nahen Ostens, Afrikas oder Südamerikas.» Sie waren die erste Präsidentin der Republik Kosovo, noch heute nennt Sie Ihre Entourage respektvoll «President Jahjaga». 2011 wurden Sie – auch für Sie selbst – völlig überraschend für vier Jahre ins Amt der Staatschefin gewählt. Sie waren zwar kein unbeschriebenes Blatt, im Gegenteil: Sie amtierten, obwohl damals erst 36-jährig, im Rang der General Lieutenant Colonel als Stellvertretende Generaldirektorin der kosovarischen Polizeikräfte, hatten also bereits eine beachtliche Karriere hingelegt. Dennoch – in Ihrer Rolle als Präsidentin wurden Sie erst belächelt, manche munkelten gar, dass Sie eher als Notlösung ins Amt gehoben worden waren. Kann sein, dass Sie das ärgerte, vielleicht haben Sie es einfach ignoriert, möglicherweise hat es Sie aber angespornt ein Zeichen zu setzen, erst recht, auch wenn Sie keine exekutiven Machtbefugnisse innehatten. Kurz nach Ihrem Amtsantritt gaben Sie die Gründung eines nationalen Expertenrats in Auftrag, der das Stigma bekämpfen sollte, das jenen Frauen und Männern, die während des Kriegs vergewaltigt worden waren, noch immer anhaftet. «Als Frau und Präsidentin meines Landes, hätte ich es mir nie verziehen, wenn ich nichts für all diese Menschen getan hätte», sagen Sie.
Zwar ist der Krieg seit mehr als zwanzig Jahren offiziell zu Ende, «doch für die Überlebenden von sexualisierter Gewalt hat der Krieg nicht aufgehört. Viele Frauen und Mädchen wurden innerhalb ihrer eigenen vier Wände vergewaltigt. Mütter mussten oft zusehen, wie ihren Töchtern Gewalt angetan wurde oder umgekehrt. Solche Erinnerungen verblassen nicht, sondern leben in den Köpfen der Betroffenen weiter, drängen sich tagtäglich wieder ins Bewusstsein. «Und trotzdem», ergänzen Sie eindringlich, «ist bis heute kein einziger Täter zur Rechenschaft gezogen worden.» Als ich Sie am Global Summit of Women reden hörte, wusste ich sofort, dass ich Sie treffen musste. Denn sexualisierte Gewalt an Frauen ist seit Jahren ein Schwerpunkt meiner journalistischen Arbeit, und ich bin immer wieder überrascht, wie schwierig es ist, diesem Thema Gehör zu verschaffen. Gewalt an Frauen wird oft mit einem Achselzucken, wenn nicht sogar mit einem Gähnen kommentiert. Kann sein, dass dies ein Zeichen von Hilflosigkeit ist oder ganz einfach von Gleichgültigkeit. Ich weiss es nicht. Deshalb bin ich stets auf der Suche nach Stimmen, die unerbittlich auf die epidemischen Ausmasse sexualisierter Gewalt hinweisen. Also, wartete ich vor dem Saal auf Sie, doch kam ich nicht an Sie heran, weil Sie von Frauen umringt wurden, die – wie ich – mit Ihnen reden wollten. Ich heftete mich an Ihre Fersen, fuhr hinter Ihnen die Rolltreppe Richtung Ausgang hinunter, ängstlich darauf bedacht, Sie in der Menschenmenge nicht aus den Augen zu verlieren und schaffte es, Sekunden bevor Sie aus dem Konferenzzentrum entschwanden, zu Ihnen vorzudringen und mich unter den wachsamen Blicken Ihres weiblichen Bodyguards bei Ihnen vorzustellen. Ehrlich gesagt, fühlte ich mich in jenen Momenten fast schon wie ein Paparazzi, oder schlimmer noch, wie ein Stalker, aber das war es mir wert. Und Sie schienen zu meiner Erleichterung über mein Vorpreschen eher neugierig als verärgert zu sein, schlossen sich mit Ihrer Assistentin kurz und boten mir an, mich am nächsten Morgen um zehn zum Kaffee zu treffen.
Heute, fünf Jahre nach dem Ende Ihrer Präsidentschaft, führen Sie die Stiftung Jahjaga Foundation, die Demokratisierungsprozesse im Kosovo, allem voran aber Ihr Engagement weitertreibt. Sie selbst kommen jede Woche mit Überlebenden sexualisierter Gewalt zusammen, hören ihnen zu, sammeln ihre Geschichten, spenden Trost und reden gegen das Vergessen an und gegen den mangelnden politischen Willen, die Täter vor Gericht zu bringen. Nicht nur im Kosovo, sondern weltweit. Zwar gibt es inzwischen unzählige Resolutionen, von Regierungen eifrig abgenickt und ratifiziert, umgesetzt werden sie jedoch kaum. Geht es um sexualisierte Gewalt, herrscht weitgehend noch immer eine Kultur der Straflosigkeit. Dagegen kämpfen Sie unermüdlich an, betreten zu diesem Zweck jede Bühne, die sich Ihnen bietet. Denn das Einzige, sagen Sie, was die Frauen, denen Sie begegnen, ständig wiederholen, ist: «Wir wollen Gerechtigkeit! Nur das kann Frieden in unseren Herzen und Gedanken bringen.» Es gibt kein Geld auf dieser Welt, das dies wettmachen könnte. Keine wirksamere psychologische Behandlung, als wenn die Täter vor Gericht gestellt werden. Geschieht das nicht, bleibt die Angst bestehen, dass sich die Verbrechen wiederholen.
Unser Kaffeetreff dauerte bloss zwanzig Minuten, danach mussten Sie weiter, zu einem nächsten Termin. Ich hoffe, das Gespräch bald wieder aufnehmen zu können. Gerne auch im Kosovo. Liegt ja sozusagen fast um die Ecke.
Bis dann.
Herzlichst, Helene Aecherli