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Hate Crime an Dragqueens in Zürich: «Ich habe das Recht, mich zu wehren»

Leben

Hate Crime an Dragqueens in Zürich: «Ich habe das Recht, mich zu wehren»

Vio la Cornuta ist eine der Dragqueens, die an der Europaallee in Zürich von einer Gruppe Männer verprügelt wurden. Warum sie die Schuld erst bei sich suchte und was wir alle aus dem Vorfall lernen müssen.

«Nach einem Auftritt lief ich mit einer Drag-Kollegin einige Meter vor Miss Miss Chris, die später am meisten verletzt wurde, und zwei Freund:innen durch die Europaallee Richtung Zürich Hauptbahnhof. Wir hörten von weiter hinten drei Personen lärmen, die klar auf Krawall aus waren. Uns war bewusst: Wenn wir darauf reagieren, könnte es ausarten. Es war mehr als ein Vorbeigehen und ein paar dumme Sprüche. Wir wurden verbal angegangen, angetanzt, körperlich bedrängt. Miss Miss Chris liess sich nicht alle verbalen Beleidigungen gefallen. Daraufhin wurden wir angegriffen.

Und anfangs war unsere erste Reaktion und auch jene aus unserem Freund:innenkreis: Warum haben wir nicht unseren Mund gehalten? Damit suchten wir die Schuld bei uns selbst, redeten uns selbst ein, es wäre nichts passiert, wenn wir nichts gesagt hätten. Aber ich kam dann an einen Punkt, an dem ich mich fragte, wie viel wir uns eigentlich gefallen lassen müssen, bevor wir uns wehren dürfen. Und realisierte: Miss Miss Chris hatte völlig recht. Sie versuchte, sich verbal zu wehren. Für mich ist sie eine Heldin.

Niemand kam zur Hilfe

Dass in einer Schlägerei niemand von den Menschen in der Nähe unmittelbar eingreift, ist mir schon klar. Aber ich habe gerufen wie wild. Schrie, jemand solle die Polizei rufen. Passiert ist nichts. Und auch danach, als die Situation vorbei war, kam niemand zur Hilfe. Diese fehlende Zivilcourage hat mich getroffen.

Von der Polizei hätten wir uns Schutz gewünscht und auch, dass der Vorfall gleich aufgenommen würde. Die Situation war folgende: Wir hatten eine blutende Dragqueen am Boden, eine Freundin mit einer Unterleibsverletzung und einen Freund mit einer Beule am Kopf. Für mich war das ein Tatort. Doch vonseiten Polizei ist das Vorgehen klar: Sind die Täter weg, können sie uns nicht mehr helfen. Wir sollten einfach nach Hause gehen und uns am nächsten Tag nochmals melden, so ihre Ansage.

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«Als wir beim Bahnhof ankamen, sah für uns jede Person wie einer der Angreifer aus»

Für uns war das eine schlimme Lage. Die Angreifer rannten zum Bahnhof – genau dorthin, wo wir auch hinmussten. Als wir in dieser riesigen Halle ankamen, sah für uns jede Person wie einer der Angreifer aus. Wir waren in einem Schockzustand, vollgepumpt mit Adrenalin und konnten die Situation – und auch die Verletzungen – direkt nach dem Angriff gar nicht richtig einschätzen. Erst auf dem Nachhauseweg realisierten wir langsam die Tragweite. Da würde es schon helfen, wenn jemand Externes, jemand Geschultes vorbeikommen würde und das neutral betrachten und nächste Schritte einleiten könnte.

Wie soll man mit Opfern umgehen?

Wir haben uns beim Anruf nicht als drei Dragqueens mit Freund:innen vorgestellt, die gerade Hate Crime erlebten. Sondern sachlich den Vorfall geschildert. Es darf ja keine Rolle spielen, wer anruft und was für ein Fall es ist. Aber ich frage mich schon, ob man Opfer in dieser vulnerablen Situation einfach sich selbst überlassen soll.

Tags darauf meldeten wir uns bei PinkCop, der Organisation von LGBTQ-Mitarbeitenden der Polizei. Sie sollten prüfen, ob das Telefonat korrekt gelaufen ist. Und wir wollten daraus auch lernen, ob unser Umgang richtig war. Es stellte sich heraus, dass die Polizei, auch aus Kapazitätsgründen, keinen Personenschutz anbieten kann. Es lief also alles nach Protokoll ab.

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«Für mich habe ich gelernt, dass ich das Recht habe, mich zu wehren»

Doch unser Vorfall zeigt, dass man diese Abläufe hinterfragen muss. Und das wurde uns versichert: Die Polizei wird diese überdenken und hoffentlich korrigieren. Ich erhoffe mir als Learning, dass man jeden Anruf ernst nimmt, Anrufenden Beachtung schenkt, Gegenfragen stellt und versucht, die Situation einzuschätzen. Das hätte uns schon geholfen. Unabhängig davon, ob wir LGBTQ sind und mehr Hilfe brauchen deswegen – was ja nicht der Fall ist.

Durch den Übergriff ist mir bewusst geworden, dass ich das Recht habe, mich zu wehren. Gleich vor Ort – aber auch jetzt im Nachhinein. Sich bei der LGBTQ-Helpline melden und in Zürich bei «Zürich schaut hin» sowie bei der Polizei Anzeige erstatten. Bei körperlichen Verletzungen, aber auch bei Beleidigungen und Ehrverletzung. Es klingt banal, wenn man – in Anführungszeichen – nur verbal angegangen wurde. Aber so wird der Vorfall in der Statistik erfasst, aus der dann wieder Lehren gezogen werden können.

Auf der Bühne angehimmelt, in der Öffentlichkeit angestarrt

Wenn ich als Dragqueen in der Öffentlichkeit unterwegs bin, mache ich 50 wunderschöne Erfahrungen mit Passant:innen. Und eine einzige Person spuckt mich an. Diese eine Situation nagt dann drei Wochen an mir und damit muss ich umgehen können, was sehr schade ist.

Denn ich will mich weiterhin in der Öffentlichkeit zeigen. Das war mein Arbeitsweg – wir waren auf dem Heimweg von unserer Arbeit, in unserer Arbeitskleidung. Uns ging es nicht darum, jemanden zu provozieren. Auch deshalb erzähle ich unsere Geschichte jetzt so laut und deutlich, damit Vorurteile abgebaut werden. Denn das Bewusstsein fehlt oft: Wir sind normale Menschen, die arbeiten gehen und Steuern zahlen.

Auf Bühnen und im Fernsehen werden Dragqueens angehimmelt. Kaum bewegen wir uns im öffentlichen Raum, werden wir angestarrt und als sonderbar abgestempelt, das finde ich schon komisch. Ich kann auch noch nicht sagen, wie ich mich fühle, wenn ich wieder einmal in Drag in Zürich unterwegs bin und mir eine Gruppe Männer entgegenkommt. Oder wie es sich nur schon anfühlen wird, in Drag zur Arbeit zu fahren.

«Es darf nicht passieren, dass man auf sich allein gestellt ist, wenn man einen Safe Space verlässt»

Safe Spaces, also Orte, an denen Dragqueens und ganz allgemein LGBTQ-Mitglieder klar willkommen sind, sind auf jeden Fall notwendig. Leider. Natürlich sind wir gerne unter uns. Wenn ich Fussballfan wäre und mit Freund:innen zum Match gehen würde, würde ich mich auch wohlfühlen. So ähnlich ist es, wenn wir zusammen zu einer queeren Party gehen. Wir freuen uns, zusammen mit Gleichgesinnten zu sein, so, wie wir sind. Es darf aber nicht passieren, dass man auf sich allein gestellt ist, wenn man diesen Safe Space verlässt.

Sein und machen dürfen, was man will

Im öffentlichen Raum werde ich oft beurteilt und verurteilt. Ich würde mir wünschen, dass zum Beispiel auch mal ein Kind an mir vorbeilaufen und sich freuen würde, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege. Ich meine: Leben und leben lassen. Es spielt doch keine Rolle, wie jemand aussieht.

Ich hatte kürzlich eine schöne Situation, als ich in voller Montur in Drag im öffentlichen Verkehr unterwegs war und sich eine Frau in Militäruniform neben mich setzte. Das dachte ich mir: Sie darf im Militär dienen und ich darf als Dragqueen auftreten. Wie schön, dass du sein und machen darfst, was du willst. Worauf du Lust hast, wobei du dich gut fühlst. Deshalb liebe ich auch den Kontrast: Ich bin Landschaftsgärtner und Dragqueen. Ich liebe, dass ich beides tun darf.

Eine verlorene Generation

Ich habe einen sehr heteronormativen Job. Und früher hatte ich schon Arbeitskollegen, von denen ich Sätze hörte wie: «Wenn ich weiss, dass mein Sohn schwul ist, habe ich das Recht, ihn umzubringen.» Und wenn du das als Sohn von deinem Vater hörst, erstaunt es nicht, dass du in der Welt rumläufst und denkst, Schwule sind krank und gehören nicht hierhin. Mir scheint, es gibt eine verlorene Generation – Männer zwischen 20 und 35 Jahren, die mit grosser Wahrscheinlichkeit genau diese Homophobie von zu Hause kennen.

Die vielleicht auch lernen, dass man schlagen muss, um ein richtiger Mann zu sein. Daraus entwachsen dann Gruppen junger Männer, die gezielt auf Schwule und Lesben losgehen. Auch das habe ich leider schon erlebt im Zürcher Niederdorf. Der Vorfall in der Europaallee geschah wohl aus dem Affekt heraus. Das Täterprofil ist jedoch dasselbe.

Veränderung durch Offenheit und Präsenz

Und genau da muss man ansetzen: junge Männer informieren und sensibilisieren. Vielleicht konkret in Sportclubs, Wettbüros, in heteronormativen Umfeldern, in denen sich junge Männer bewegen. Man sollte ihnen aufzeigen, welche Grundwerte – Respekt, gewaltfreier Umgang mit Mitmenschen – gelebt werden sollen. Welche Vielfalt es gibt. Wie wichtig Frauenrechte sind. Vielleicht muss man in jedem einzelnen Haushalt ansetzen, unabhängig der Herkunft oder der politischen Gesinnung.

Durch Offenheit und Präsenz kann ich in den Köpfen der Menschen in meinem Umfeld etwas verändern. Ich gehe zum Beispiel in Kindergärten und erzähle Märchen als Dragqueen. Und in dem kleinen Dorf, aus dem ich komme, moderiere ich jetzt erstmals die Fasnacht. Und mittlerweile arbeite ich in einem Betrieb, in dem ich sogar Führungen in der Natur in Drag mache – um den Menschen zu zeigen, wie vielfältig die Welt ist.» – Vio la Cornuta

Wenn du – oder jemand in deinem Umfeld – Homophobie erlebt hast, kannst du dich bei diesen Anlaufstellen melden:

LGBT-Helpline
PinkCop
«Zürich schaut hin»

Vio la Cornuta (37) aus Luzern arbeitet seit fünf Jahren als Dragqueen. Ihr gemeinsamer Podcast mit Amelie Putain Drags Uncut erscheint monatlich und wird sich in der nächsten Folge auch mit Hate Crime befassen.

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