Lesben in Südafrika: Von wegen Toleranz
- Text: Stefanie RiguttoFotos: Elisabeth Real
In Südafrika dürfen Homosexuelle heiraten und Kinder haben. So das Gesetz. Die Realität: Täglich werden in den Townships Lesben vergewaltigt – von Männern, die diese Frauen «korrigieren» wollen.
Die Nacht liegt schwer über Soweto, der grössten Township Südafrikas, als Thuli Ncube, eben 17 Jahre alt geworden, aus der Kirche tritt. Für die Abendmesse hat sie ihren einzigen Rock angezogen. Dabei ist ihr kein Kleidungsstück mehr verhasst. Der Minibus ist bis auf den letzten Platz besetzt. Sie muss zu Fuss gehen. Es sind etwa fünf Kilometer nachhause, Thuli Ncube marschiert zügig los. Einige Hundert Meter von ihrem Wohnhaus entfernt hört sie hinter sich eine tiefe, heisere Stimme. «Thuli, warte!» Sie dreht sich um. Das dunkle Gesicht des Mannes verliert sich in der Nacht, Strassenlampen gibt es keine. «Jetzt habe ich dich endlich!» Thuli Ncube versteht nicht. Sie läuft weiter, schneller. Zwei Schritte später spürt sie das kalte Metall einer Pistole auf ihrem Rücken. Shit, denkt sie. Der Typ packt sie von hinten. «Warum gehst du immer nur mit Frauen aus?», keucht er ihr ins Ohr. Er zieht sie hinter einen Baum, reisst ihr den Rock vom Leib. «Jetzt beweise ich dir, dass du eine Frau bist!», sagt er, während er ihr die Waffe an die Schläfe drückt. Thuli Ncube will schreien, doch kein Ton dringt aus ihrer Kehle. Als der Typ fertig ist, zieht er die Hose hoch und sagt: «Ich weiss, wo du wohnst.»
Südafrika gilt als homosexuellenfreundlicher Regenbogenstaat. Und das auf einem Kontinent, wo Homosexuellen teilweise die Todesstrafe droht. Die Gesetze sind sogar liberaler als jene der Schweiz. Nach dem Ende der Apartheid – Homosexualität war damals noch mit sieben Jahren Gefängnis bestraft worden – verbot Südafrika 1996 in der neuen Verfassung explizit Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Seit 2006 sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt, zudem dürfen Homosexuelle Kinder adoptieren und sich künstlich befruchten lassen. Doch die Realität in den Armensiedlungen, den Townships, gehorcht anderen Regeln. Dort passieren die meisten «hate crimes», Hassverbrechen gegen Lesben – Belästigungen, Vergewaltigungen, Tötungen. Wie viele es sind, weiss man nicht. Schätzungen zufolge wird nur eine von neun Vergewaltigungen angezeigt. Hilfsorganisationen vermuten, dass es in Städten wie Kapstadt und Johannesburg pro Monat vierzig Fälle von «corrective rape» gibt. Der Begriff beschreibt das Motiv der Vergewaltiger: Sie wollen die Frauen «korrigieren», zur Heterosexualität bekehren.
Thuli Ncube ist heute 32 Jahre alt. Sie ist eine Butch, so nennt man Lesben, die sich auffällig männlich kleiden und verhalten. Von weitem hätten wir sie tatsächlich für einen Mann gehalten: Sie trägt derbe Levi’s-Jeans, ein Hemd, bis oben zugeknöpft, schwarze Halbschuhe. Ihr Haar ist millimeterkurz. Wir treffen sie vor einem McDonald’s in Johannesburg. Sie sei sehr müde, sagt sie. Sieben Tage pro Woche verkauft sie Perücken, das wichtigste Accessoire der südafrikanischen Frau. Sie trägt keine, würde sie nie. Wir fahren mit dem Auto Richtung Soweto, während sie auf dem Rücksitz zwei Hamburger verdrückt und uns zu ihrem Wohnort dirigiert. Die Gegend wird ländlicher, die Häuser kleiner. «Hey babes!», rufen die Männer am Strassenrand, sobald sie die weissen Frauen im Auto entdecken.
Sie zeigt auf ein Haus, umgeben von einer hohen Mauer. Ein Eisentor riegelt den Eingang ab. In der winzigen Stube, die mit drei Sofas und einem Fernseher vollgestellt ist, sitzen Mutter, Grossmutter, Neffe, Schwester und ihre neunjährige Tochter. «Wir sind so müde», sagt auch ihre Mutter. Sie hätten drei Stunden in der Kirche verbracht. Es ist Sonntag. «Meine Familie sind meine einzigen Freunde», sagt Thuli Ncube. Ausgehen, andere Lesben treffen, das sei ihr zu gefährlich. Erst kürzlich seien ihr drei junge Männer entgegengekommen. Der eine sagte: «Das ist sie.» Der andere: «Warum kleidest du dich wie ein Mann?» Sie umkreisten sie. Als eine Nachbarin rief «Hey, lasst sie in Ruhe!», verzogen sich die Jungs. «Ich hatte Glück», sagt Thuli Ncube. Wenigstens dieses Mal.
«Das Leben als schwarze Lesbe in Südafrika – das ist kein Leben»
Thuli Ncube
Praktisch alle Opfer von Hassverbrechen seien Butch-Lesben, sagt Phindi Malaza. Sie ist 39 Jahre alt und arbeitet für die Lesben-Hilfsorganisation FEW in Johannesburg. Wir trafen sie im Café eines Einkaufscenters. Sie war es auch, die uns die Telefonnummer von Thuli Ncube vermittelte. Sie erklärt: «Die Typen fühlen sich vom männlichen Stil der Butch-Lesben provoziert, sehen sie als Bedrohung, als Konkurrenz. Sie haben das Gefühl, man brauche sie nicht mehr.» Phindi Malaza wuchs selber in Soweto auf, würde aber nicht mehr dort leben wollen. «Zu unsicher.»
Nur wenige können es sich leisten wegzuziehen – für Thuli Ncube gibt es keine Alternative. Sie zeigt uns ihr Zimmer, eine Baracke im Hinterhof des Hauses. Ein Bett, zwei Schränke, Kartonschachteln, Fussballschuhe, eine Trainingstasche. Thuli spielte schon als Kind Fussball. «Puppen interessierten mich nicht.» Von der Decke hängt eine nackte Glühbirne, neben dem Fernseher steht ein gerahmtes Foto ihrer Tochter. Alles ist sauber und aufgeräumt. Wir setzen uns aufs Bett. Vom Zimmer ihres Bruders dröhnt lauter Hip-Hop herüber. Thuli Ncube beginnt zu erzählen, mit einer Stimme so dünn wie ein frisch gesponnener Seidenfaden.
Als der Typ endlich von ihr abliess, an jenem Abend nach der Messe, sei sie nachhause gerannt. Alle schliefen. Sie duschte, schmiss den Rock in die Wäsche, erzählte niemandem davon. Wochenlang nicht. Erst als der Lehrer sie auf ihre schlechten Noten ansprach – zuvor war sie stets eine der Besten gewesen –, vertraute sie sich ihm an. Man brachte sie zum Arzt. Thuli Ncube war im dritten Monat schwanger, doch das Kind in ihrem Bauch war tot. «Ich fühlte mich so schuldig!» Niemand fragte sie, wie es ihr gehe. Ihre Mutter nicht, ihre Grossmutter nicht, ihre Schwester nicht. Alle schämten sich. «Unendlich einsam» habe sie sich gefühlt, sagt Thuli Ncube. Dreimal versuchte sie sich das Leben zu nehmen, schluckte Schlaftabletten, die sie aber jedes Mal erbrach.
Geblieben ist das Schuldgefühl. «Ich dachte, ich muss einem Kind das Leben schenken, den Abort wieder gutmachen.» Als Thuli Ncube das zweite Mal Sex hatte mit einem Mann – da war sie 23 –, tat sie es freiwillig. «Aber es war schlimm», sagt sie. Alles habe sie an die Vergewaltigung erinnert. Sie wurde schwanger, gebar ein «crazy beautiful baby girl». Sie ruft ihrer Tochter, die sich zu uns aufs Bett setzt. «You’re my everything, mein Ein und Alles», flüstert sie ihr zu. «Du hast mein Leben gerettet, meine Seele.» Sie streichelt ihrer Tochter über den Kopf, Zärtlichkeit erfüllt ihr sonst hartes Gesicht. Sie wünsche ihrer Tochter von Herzen, dass sie nicht lesbisch sei. «Das Leben als schwarze Lesbe in Südafrika – das ist kein Leben.»
Ihr Coming-out hatte Thuli Ncube vor vier Jahren, als ihre Tochter längst geboren war. Sie war es leid, ein Doppelleben zu führen: Auf der Strasse war sie die burschikose Butch–Lesbe, zuhause gab sie sich als ganz gewöhnliche Mutter mit Kind. Sie schrieb einen Brief, legte ihn ihrer Mutter aufs Bett – und verschwand. Als sie tags darauf zurückkam, fragte ihre Grossmutter: «Was ist das, eine Lesbe?» Thuli Ncube erklärte es ihr. Die Grossmutter fluchte und meinte, so etwas gebe es nicht. Ihre Mutter dagegen fragte nur: «Bist du glücklich?» Sie antwortete: «Jetzt schon. Jetzt bin ich frei.» Sie zeigt uns ihr Handy: «Lesbians for life» steht auf dem Bildschirmschoner, so dass es jeder sehen kann.
Obwohl das Gesetz Homosexuelle schützt, kommt es selten zu Klagen. Das Problem beginnt bereits beim Polizeirapport. Thuli Ncube wurde von den Polizisten gefragt: «Warum sollten Männer einen Mann wie dich vergewaltigen wollen?» Und vor ein paar Monaten sagte ein Polizeisprecher am Fernsehen: «Corrective Rape ist kein Problem in Südafrika.» Ein einziger Fall endete mit einer Verurteilung vor Gericht: Eudy Simelane, ein Mitglied der Fussball-Nationalmannschaft, wurde 2008 von vier Männern vergewaltigt und ermordet – zwei von ihnen wurden verurteilt. «Unsere Gesellschaft hält diese Vergewaltigungen nicht für ein Verbrechen», sagt Phindi Malaza von der Lesbenorganisation FEW. Auch die Vergewaltiger seien sich keiner Schuld bewusst. «Sie sehen ihre Tat als Lösung eines Problems.» Sie glauben ernsthaft, dass sie den Frauen, die sie vergewaltigen, einen Gefallen tun, dass sie sie gesellschaftsfähig machen.
«I was born like this», sagt Tumi Mkhuma. «Das kann man nicht abschalten, schon gar nicht korrigieren.» Tumi Mkhuma lebt in Katlehong, einer Township 35 Kilometer östlich von Johannesburg. Sie ist 25 Jahre alt, trägt ein gestreiftes Shirt, dunkle Jeans und violette Turnschuhe. Zwischen Unterlippe und Kinn glitzert ein Gangsterpiercing. Sie wirkt so ganz anders als Thuli Ncube. Selbstbewusster, stärker, aggressiver. Tumi Mkhuma hat sich schon als Kind wie ein Bub verhalten. «Ich habe ein einziges Foto, auf dem ich einen Rock trage. Grauenhaft», sagt auch sie. Am ersten Schultag ging sie zum Rektor, sagte ihm, dass sie eine Knabenuniform tragen wolle. Der Rektor willigte ein. Die Probleme begannen, als ihre Mutter starb. Da war sie 16. Ihr Stiefvater – ein Pfarrer – schmiss sie aus dem Haus. Ihm missfiel, wie sich seine Stieftochter kleidete, mit wem sie verkehrte. Sie war anders als die Mädchen aus dem Viertel. Kein richtiges Mädchen.
Heute lebt Tumi Mkhuma im Haus ihrer verstorbenen Grossmutter. Auf dem mickrigen Rasen stapeln sich Glasflaschen, überall liegt Abfall. Grosse Säcke sind gefüllt mit PET-Flaschen. «Mein Bruder verdient mit Recycling ein bisschen Geld.» Hier lebt sie mit ihrer Schwester, ihrer Cousine, ihrem Bruder, ihrer Freundin und noch ein paar anderen Menschen, an die sie die schäbigen Baracken im Hinterhof vermietet hat. Damit bestreitet sie ihr Einkommen, einen Job hat sie keinen.
Sie weist uns in die Stube, auf dem Tischchen steht eine Vase mit künstlichen Rosen, in der Küche blubbert es in einem Topf. Je öfter sie ihre Geschichte erzähle, sagt Tumi Mkhuma, desto mehr heilen die Wunden. Sie könne froh sein, dass sie noch am Leben sei, nicht wie viele andere Lesben. «I’m a survivor!» Der Mann, der sie vor zwei Jahren vergewaltigt hat, läuft immer noch frei im Quartier herum. Verhaftet wurde er nie. Er hatte ihr vor einem Pub abgepasst und sie in eine Hütte gezogen. «Warum tust du, als ob du ein Mann wärst?», schrie er sie an. «Du brauchst einfach wieder mal einen Schwanz!» Er schlug sie, bis sie bewusstlos war. Als Tumi Mkhuma im Morgengrauen aufwachte, sah sie kaum aus den geschwollenen Augen. Das ganze Gesicht war blau. Dass sie vergewaltigt worden war, realisierte sie erst einen Monat später: Auch sie wurde schwanger. Aber sie trieb ab.
«Ich werde als stolze Lesbe sterben»
Tumi Mkhuma
Bevor wir zu Tumi Mkhumas Haus gefahren sind, haben wir in der Township an einer Tankstelle gehalten. Junge Typen mit gefälschten Markenshirts und brüchigem Englisch standen herum. Wir fragten sie, was sie von «corrective rape» halten. Einige antworteten: «Ich würds nicht tun. Aber ich fühle mich auch nicht schlecht, wenn diese Lesben vergewaltigt werden.» Andere sagten: «Selber schuld! Sie müssen sich ja nicht so anziehen.» Homosexualität gilt als «unafrikanisch». Achtzig Prozent der Südafrikaner seien homophob, sagt Phindi Malaza von der Hilfsorganisation FEW und zitiert eine Umfrage. Auch Südafrikas Präsident Jacob Zuma macht keinen Hehl aus seiner Gesinnung: Er kämpfte einst ganz offen gegen die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und bezeichnete sie als «disgrace to the nation and to God» – eine Schande für die Nation und Gott.
Hat Tumi Mkhuma Rachegefühle? Die junge Frau nickt. «Noch vor einem Jahr wünschte ich mir, ich hätte eine Pistole.» Aber sie sei froh, habe sie nichts unternommen. «Gott soll sich mit ihm befassen.» Sie selber befasst sich lieber mit Fussball. Sie war schon an den Gay Games in Chicago, Köln und London. Sie zeigt uns ihr Zimmer, wo all die Medaillen hängen. Sie ist – wie auch Thuli Ncube – Mitglied der Mannschaft Chosen FEW, die von der gleichnamigen Hilfsorganisation ins Leben gerufen wurde. Das Team gibt lesbischen Frauen eine Gelegenheit, die Öffentlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Ihre Spiele sind auch ein politisches Statement: «Ihr könnt uns vergewaltigen, ihr könnt uns töten, aber ihr könnt unsere Sexualität nicht ändern.»
Nach der Vergewaltigung lebte Tumi Mkhuma ein Jahr lang in einer Unterkunft von FEW in Johannesburg. In ihre Township wollte sie nicht mehr zurückkehren. «Irgendwann dachte ich: Fuck, Man! Das ist mein Viertel, meine Heimat, mein Zuhause. Mich vertreibt niemand!» Sie wollte kein Opfer mehr sein. Wie zum Beweis holt sie den Bildband «Faces and Phases» einer südafrikanischen Fotografin hervor. Es zeigt stolze Frauen, schön gekleidet, in Anzug, mit Krawatte und Hut. Alles Butch-Lesben, unter ihnen auch Tumi Mkhuma, die wir in dieser würdevollen Aufmachung fast nicht wiedererkannt hätten.
Im Hof des Hauses stehen ihre Kolleginnen, schäkern, lachen. Ein grosser Teddybär hängt zum Trocknen an der Wäscheleine. Mit dem kuschle sie, wenn ihre Freundin nicht hier schlafe, sagt Tumi Mkhuma. «Babe, wo steckst du?», ruft sie. Ihre Freundin kommt um die Ecke geschlendert, drückt Tumi einen Kuss auf die Wange. Diese antwortet, ganz machohaft, mit einem lässigen Klaps auf den Hintern. Geben sie sich die Hand auf der Strasse? «Selten», sagt Tumi Mkhuma. «Zu gefährlich», sagt die Freundin. Jeden Tag gebe es einen doofen Spruch, riefen ihnen Typen «nasty things» nach, widerliche Dinge. Tumi Mkhuma umarmt uns zum Abschied und sagt: «Wenn ihr wiederkommt, bin ich vielleicht tot. Aber ich werde als stolze Lesbe sterben.»
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Thuli Ncube ist eine Butch-Lesbe: «Die Typen fühlen sich vom männlichen Stil provoziert, sehen sie als Bedrohung, als Konkurrenz»
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Als Lesben und Schwule vor dem Ende der Apartheid auf die Strasse gingen, da marschierte die Hoffnung noch mit: Archivbild an der Wand in einem Johannesburger Treffpunkt
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BeläsThuli Ncube zuhause in Soweto.
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Auf dem Schrank ihre «Chosen FEW»-Fussballtasche,…
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…auf dem Beistelltisch ihre Kostbarkeiten: Fussballtrophäen, ein gläserner Eiffelturm und das Schulfoto ihrer geliebten Tochter
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Tumi Mkhuma (r.) mit einer Kollegin.
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An ihrer Schranktür ein klares Statement: «Pissed of Woman» – stocksaure Frau!