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«Was sind wir bereit, für die Freiheit zu opfern?»

Leben

«Was sind wir bereit, für die Freiheit zu opfern?»

  • Text: Aleksandra Hiltmann; Foto: Forever Productions

Burrnesha, Männin, nennt man im Norden Albaniens eine Frau, die das Leben eines Mannes führt. Sie legt vor den Ältesten der Gemeinde einen Schwur ab, verzichtet auf Sex, Heirat, Kinder und Liebe - und wird fortan als Mann behandelt. Ein bitterer Tauschhandel für die Freiheit – und Thema des Theaterstücks "Sworn Virgin" von Albana Agaj. Die albanische Schauspielerin über ihre Begegnung mit einer Burrnesha, die sie sehr bewegt hat.

«Du bist wie sieben Söhne», hat man ihr als Kind immer gesagt. Das Mädchen mit dem Lockenkopf verstand das nicht. Albana Agaj war ein lebhaftes, selbstbewusstes Kind. Sie redete viel und sagte früh ihre Meinung. «Das war unüblich für ein Mädchen.» Heute ist die gebürtige Kosovo-Albanerin Schauspielerin und stellt auf der Bühne Fragen nach Freiheit und Identität. Sie erinnert sich, schon als Kind von den eingeschworenen Jungfrauen gehört zu haben: Von albanischen Frauen, die ihrem Geschlecht abschwören, um als Mann zu leben. Für das das Theaterstück ist sie zurück in die Heimat gereist: «In einem Dorf im Norden Albaniens habe ich Drande getroffen. Sie war eine Frau und wurde zum Mann – um frei leben zu können.»

In den Bergen Nordalbaniens herrschen strenge Sitten. Bis heute ist das Leben geprägt vom uralten albanischen Gewohnheitsrecht, dem Kanun. Er bezeichnet die Frau als Shakull, einen Schlauch, «in dem die Ware transportiert wird». Ausserhalb des Hauses einer Arbeit nachgehen, Land kaufen, eine Erbschaft antreten, frei wählen, wen man heiratet – laut Kanun ist das für Frauen ein Tabu. Auch bescheidenere Bedürfnisse können nicht uneingeschränkt befriedigt werden, sagt Agaj: «Wenn eine Frau rauchen möchte, muss sie zuerst ein Mann werden.»

Um Burrnesha, übersetzt Männin, zu werden, müssen die Frauen, so lang sie noch Jungfrauen sind, einen Schwur vor zwölf Männern ablegen. «Ab dem Moment, in dem der Schwur abgelegt wird, ist die Burrnesha ein Mann unter Männern. Er ändert seinen Namen, schneidet die Haare kurz und trägt Männerkleider. Das reicht. Ab diesem Moment herrscht absolute Anerkennung, Akzeptanz und auch Respekt. Oft wird ein Burnesha sogar noch mehr respektiert als die Dorfältesten.» Denn der Schwur verlangt grosse Opfer: Eine Burrnesha verzichtet auf ihre Sexualität, auf Liebe, Heirat und Kinder.

Frauen würden sich aus verschiedenen Gründen dafür entscheiden, als Männer zu leben, sagt Albana Agaj. Die einen sehen darin ihre einzige Chance, respektiert zu werden und über sich selbst bestimmen zu können. Andere wiederum müssen zu Männern werden, um verstorbene männliche Familienmitglieder zu ersetzen. Da Frauen nicht erbberechtigt sind, würde die ganze Lebensgrundlage, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Familie verloren gehen. Es gibt auch Mütter, die ihre Töchter als Bub grossgezogen haben, um ihnen das Schicksal zu ersparen, welches sie als zu schmerzhaft erlebt hatten.

«Die Begegnung mit Drande, einem Menschen, der auf so viel verzichtet hat, um sich frei zu fühlen, war sehr berührend», sagt Albana Agaj. Das Treffen liess Gegensätze aufeinanderprallen: «Ich, die als Albanerin allein reise, um diesen Mann zu interviewen, der biologisch eine Frau ist, aber sein ganzes Leben ändern musste, um frei zu sein – das schien so weit weg von mir. Das Dorf, in dem Drande lebt, war wie eine fremde Welt, Neuland in meiner Heimat. Und doch ist mir diese Kultur durch die Sprache so nah.»

Auch für Drande ist ein Leben wie jenes von Agaj unvorstellbar: «Er konnte nicht glauben, dass ich meine Kinder in Zürich gelassen und allein hergefahren bin. Oder dass ich als Frau rauche. Er sehe zwar, dass sich die Zeiten geändert haben, besser findet er das aber nicht. Ich spürte kein Verständnis und schon gar keine Bewunderung dafür, wie ich heute lebe.»

Und doch sah Agaj die Widersprüche in dieser Begegnung. Wenn er Kinder bekommen könnte, was er sich für ein Geschlecht wünschen würde, hat sie Drande gefragt. «Früher natürlich einen Sohn, heute hätte ich lieber eine Tochter», antwortete er.

Albana Agaj verstummt kurz, man spürt, dass Drandes Geschichte sie sehr bewegt. Denn obwohl sich Drande ganz klar als Mann sehe und wahrnehme, sei beispielsweise seine Stimme während des Gesprächs immer leiser und feiner geworden, er schien an Kontrolle zu verlieren. Sobald er das merkte, wurde die Stimme blitzartig wieder tief und laut. Das Aufrechterhalten des Mannseins geht weit über die Stimme hinaus, es ist ein wiederkehrendes Ringen. Denn ein Dazwischen gibt es nicht, wird nicht toleriert.

Was macht mich zur Frau, was zum Mann?

Agaj will mit ihrer Theatergruppe Forever Productions diese Zwischenräume auf der Bühne inszenieren. Eine Burrnesha findet sich plötzlich in einer modernen Stadt wieder, einem Ort, an dem man sein kann, wer man will, wo es so viel Freiheit wie Luft zum Atmen gibt. Sie trifft aber auch auf Menschen, die in dieser vermeintlich freien Welt mit ihrem Freiheitswunsch für Unordnung sorgen. «In Albanien wird eine Frau mittels Schwur zum Mann, und es entsteht Ordnung, in der Familie und im Dorf. Wenn sich hier bei uns ein Mensch dafür entscheidet, sein Geschlecht anzugleichen, weil er im falschen Körper geboren wurde, gilt er erst mal als schwierig, und es gibt Chaos», sagt Albana Agaj.

Sie ist sich bewusst, dass es auch in Albanien Menschen gibt, die im falschen Körper geboren wurden und mit dem Schwur eine Geschlechtsangleichung vorgenommen haben. Trotzdem sind die kollektiven Gegebenheiten in der Gesellschaft weit öfter der ausschlaggebende Punkt für den Schwur. Und so fremd die Menschen in den Bergen Albaniens scheinen mögen, so findet Albana Agaj doch viele Berührungspunkte mit unserer Welt, nämlich, wenn es um die Fragen nach der eigenen Identität und Freiheit geht: «Was macht mich zur Frau, was zum Mann? Wie können wir in der Gesellschaft bestehen, unabhängig davon, ob Mann oder Frau? Wie frei können wir als Menschen sein? Und was sind wir bereit, dafür zu opfern? Wir wollen verschiedene Kämpfe und Wege zeigen, wie Menschen um ihre Existenzberechtigung kämpfen, mit all ihrem Schmerz und Verzicht.»

Doch die Charaktere in einer Opferrolle zu zeigen, das liegt Albana Agaj mit ihrem Theaterstück «Sworn Virgin» fern. «Ich will einen respektvollen Umgang mit dem Thema finden, verschiedene Sichtweisen gewinnen, um diese mit dem Publikum teilen zu können.»

Die Theatergruppe plant, wie bereits mit vorhergehenden Projekten, auch mit «Sworn Virgin» eine Balkantournee. Albana Agaj wird unter anderem in Albaniens Hauptstadt Tirana spielen, dort, wo Frauen einige Kilometer entfernt am Meer am Strand liegen, Bier trinken und Party machen, dort, wo gleichzeitig andere Frauen einige Kilometer entfernt in den Bergen zu Männern wurden, um überhaupt einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Ob sie dort selbst Burrnesha werden werden würde? Albana Agaj denkt kurz nach und zitiert dann die Burrnesha Drande: «Es gibt Fragen, auf die es keine Antworten gibt.»

 

Sworn Virgin; Idee und Konzept: Forever Productions; Text: Jeton Neziraj; Regie: Johannes Mager; mit Albana Agaj, Gunther Kaindl und Johanna Dähler. Premiere: 1.5., weitere Vorstellungen am 3., 4., 5. und 8. Mai im Schlachthaus Bern. Weitere Vorstellungen ab Herbst in Luzern, Winterthur, Zürich, Pristina, Tirana und Skopje, weitere Infos hier