Liebe Géraldine Knie
- Text: Olivia Sasse; Foto: Michel Comte
Sie stehen mitten in der Manege, Ihre schwarze Kleidung und Ihre schwarze Haare sind ein Ruhepol für die Augen im sonst so bunten Zirkuszelt. Sie heben und senken die Arme wie ein Dirigent vor dem Orchester, rund um Sie traben, tänzeln und drehen sich Ihre Pferde. Wenn ich die Augen schliesse, kann ich die aufgeregte Stimmung fühlen und dann: der tosende Applaus der Menge. Eigentlich ist es aber ganz still um mich herum. Ich sitze zurückgelehnt in meinem Stuhl, es ist noch früh am Morgen, das Büro füllt sich erst langsam, und ich bin versucht, jeden, der reinkommt, zu fragen: «Wann warst du das letzte Mal im Zirkus?»
Ich bin sicher, dass jeder meiner Arbeitskolleginnen und -Kollegen Sie noch kennen würde, auch wenn der letzte Zirkusbesuch bereits Jahre her ist. Sie stammen aus einer Zirkusdynastie, aus der Familie Knie, die in der Schweiz unzählige Kindheitserinnerung prägte – auch meine. Ich mag es, dass Sie keine leuchtenden, schrillen Outfits brauchen, dass Sie eine unglaubliche Ruhe, Konzentration und Leidenschaft in Ihre Arbeit legen. Was für andere, mich eingeschlossen, eine Fantasiewelt ist, ein kurzes Abtauchen aus der Tagesroutine, ist für Sie das Leben – und oft sicher auch harter Alltag.
Heute stehen Sie selbst zwar mehr hinter dem Vorhang als davor, aber als künstlerische Leiterin prägen Sie das Programm des National-Circus mit dem gleichen Mut und Power, mit dem Sie früher auf dem Rücken der Pferde standen. Nach und nach übernehmen Sie mehr Verantwortung im Familienunternehmen, und ich bin sicher, eines Tages werden Sie den Circus Knie leiten. Sie sind sicher unglaublich stolz, dass Ihre Kinder bereits in Ihre Fussstapfen treten. Ihr Sohn Ivan Frédéric zeigt in der aktuellen Tour «Formidable» das erste Mal eine eigene Freiheitsdressur. Und auch ihr kleine Tochter, Chanel Marie, steht bereits mit Lamas in der Manege.
Dass Familie, Gemeinschaft und Liebe für Sie besonders wichtig sind, zeigen auch Ihre Statements in den Medien, leider aktuell aus traurigem Anlass. Mit dem Verlust von Peter Wetzel, besser bekannt als Clown Spidi, haben Sie ein wohlbekanntes und geliebtes Gesicht der Zirkusfamilie verloren. In Ihrem Brief zu seinem Abschied schreiben Sie, Sie hätte an seinem Todestag noch mit ihm gesprochen, verabschiedet hätte er sich mit den Worten «ich ha dich fescht gärn» und so endet auch Ihr Brief an den gestorbenen Freund.
Trotz der Trauer lief das Programm nach Plan weiter, und dafür bewundere ich Sie. Ich bewundere Sie für Ihr Herzblut und für Ihre Stärke, die Sie in so einer schwierigen Situation beweisen. Eine Branche, die von Ihnen verlangt, wieder aufzustehen und zu sagen «The Show must go on».
Hoffentlich bis bald, wenn ich es mal wieder aus meinem Bürostuhl hinaus und rein in Ihre Welt schaffe.
Ihre Olivia Sasse