Zeitgeist
Künstlerin Jovana Reisinger: «Alle meine Arbeiten sind aus Wut und Trotz entstanden»
- Text: Darja Keller
- Bild: Fritz Beck
Zu laut, zu vulgär, zu viel – wenn die Unterschicht den Exzess feiert, ist das meist suspekt. Aber warum eigentlich? Die deutsche Künstlerin Jovana Reisinger fordert Genuss für alle.
«Gibts ein Pistaziencroissant?», fragt Jovana Reisinger. Der Kellner nickt. «Na, perfekt!» Am Vorabend hatte sie mir eine Nachricht geschrieben, als ich im Zug nach München sass: «In der Bar Centrale gibt es die besten Pistaziencroissants der Stadt.» Schon als ich die Croissants sehe, die grüne Füllung, die obszön herausquillt, die puderzuckrige Oberfläche, verstehe ich, wie sie das meint.
Genau darüber sprechen wir hier in dieser stilvollen, halbdunklen Münchner Bar, über: «Pleasure». So heisst das vierte Buch dieser mannigfaltigen Künstlerin, die gerade dazu ansetzt, eine der spannendsten Stimmen der Gegenwart zu werden.
Bücher, Preise, Theater, Film – und nun ein Plädoyer für den Genuss
Neben Büchern schrieb die 35-Jährige Kolumnen für die deutsche «Vogue» und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», drehte Filme und Musikvideos. Die Liste ihrer Preise und Stipendien ist lang. Dieses Jahr haben sich die Dinge noch beschleunigt: Im Sommer stand sie für die Inszenierung ihres autofiktionalen Romans «Enjoy Schatz» auf der Berliner Schaubühne. Fast zeitgleich drehte sie ihren ersten Langspielfilm als Regisseurin.
«Pleasure», das am 17. Oktober erschienen ist, ist ein Plädoyer für den Genuss, salopp ausgedrückt: ein Aufruf zur absoluten Gönnung, gleichzeitig ein feministisches Essay. Und nicht zuletzt ein freudiger Tritt in den Hintern des intellektuellen Mainstreams, der die Völlerei zum No-Go erklärt hat im Angesicht von knappen Rohstoffen und schrumpfender Artenvielfalt; der in Minimalismus die einzige Alternative zu sozialer Ungerechtigkeit und Klimakrise sieht.
Prunk als Gegenvorschlag zum Mainstream-Minimalismus
Jovana Reisinger macht mit «Pleasure» einen Gegenvorschlag: Sie will das pralle, prunkvolle, schöne Leben für alle. Das Buch ist eine rauschhafte Reise durch die vielen Stationen von Reisingers Biografie. Eine Abhandlung von einer, die sich durch Widerstände kämpfte und daraus nicht als Asketin, sondern als Hedonistin hervorging: Als eine, die sich die Welt schön zu machen weiss. Ich treffe sie, um zu fragen: Wie geht so viel kompromisslose Lebensbejahung in diesen schwierigen Zeiten?
Bei unserem Gespräch Ende August trägt Jovana Reisinger eine dunkelgrüne Cap mit dem Schriftzug eines Münchner Plattenlabels, eine weisse Seidenbluse, darüber ein dunkelblaues Kleid. Ihre Nägel sind leuchtend pink und laufen spitz zu, beim Sprechen klopft sie, wenn sie etwas betonen will, mit ihnen leicht auf die Tischoberfläche.
Während des Gesprächs beugt sich Reisinger ein bisschen über mein Handy, «um sicherzugehen, dass du alles hören kannst auf der Aufnahme». Jovana Reisinger ist wahnsinnig nett, nicht nur zu mir. Auch zu anderen Gästen, wie sich später noch zeigen wird, ebenso zum Kellner, als sie zum Croissant Hafermilch-Cappuccino und Saft bestellt.
annabelle: Jovana Reisinger, Ihr neues Buch «Pleasure» beginnt mit einer Beschimpfung. Auf dem roten Teppich des Filmfests München überhören Sie, wie eine Frau über Sie sagt: «Was macht die Prostituierte auf dem roten Teppich?»
Jovana Reisinger: Als das passiert ist, wusste ich: Diese Bemerkung ist perfekt, die muss der Anfang eines Buches sein. Ich habe damals verstanden, wie tiefgreifend die Vorurteile sind gegenüber meiner Tussi-, oder man könnte natürlich auch sagen Unterschichtsästhetik. Ich wollte die Freude an dieser Ästhetik mit der Forderung nach dem guten Leben für alle zusammenbringen. Ich fand es interessant, dass diese zwei Dinge sich für viele Leute ausschliessen: Eine Frau, die feministische Essays schreibt und mehr soziale Gerechtigkeit fordert, und Acrylnägel, Minijupes, kleine Handtaschen.
Woher, glauben Sie, kommt diese Abwehrhaltung?
In den 2000ern gab es einen Humor, der sich gegen sehr reiche wie auch sehr arme Frauen richtete. Er traf It-Girls wie Paris Hilton, die als hedonistisch und oberflächlich angesehen wurden, und Frauen der Unterschicht, die als dumm, laut und merkwürdig angezogen galten. Beide hatten den Ruf, freizügig und vulgär zu sein. Diesen Humor sah man in deutschen Comedyshows, in Serien wie «Eine schrecklich nette Familie», und im Reality-TV, das in meiner Kindheit gross wurde. Die mediale Darstellung führte zu einer Verdichtung von Stereotypen. Ich würde sagen, bevor diese Frauenfiguren im Fernsehen so inszeniert wurden, existierte der Typus der Tussi und somit auch die Ablehnung gegen sie noch nicht.
2022 verfasste Jovana Reisinger ein Essay für die deutsche «Vogue», er hiess «Die subversive Kraft der Tussi». Sie schrieb darüber, dass sie den beleidigend gemeinten Begriff Tussi als positive Selbstbezeichnung nutze, als adäquates Gegenmodell zur jahrelangen Vorherrschaft der Coolness. Sie schrieb darüber, dass sie es geniesse, sich mit ihrem Äusseren zu befassen, Raum einzunehmen, aufzufallen durch glitzernde Nägel, Strasssteine auf Kleidern, Highheels: «Die Tussi sagt: Ich bin hier, und ich schäme mich nicht dafür. Schau mich halt an», erklärt Jovana Reisinger.
Für Frauen mit wenig Geld war es erst ab ungefähr Ende des letzten Jahrhunderts, auch durch das Aufkommen von Fast Fashion, überhaupt möglich, sich mehr modische Klamotten, Make-up, Schmuck zu kaufen. Sobald sie sich ein paar schöne Dinge leisten konnten, wurden sie dafür verspottet.
Genau. Der Spott ist ein Instrument, dafür zu sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist. Das ist nicht neu. Jeder Demokratisierungsprozess von teuren Dingen, die erschwinglich werden, löst eine Entwertung aus: Wenn alle sich plötzlich etwas leisten können, ist es nicht mehr gleich exklusiv und wir schauen auf diejenigen hinab, die sich diese Dinge kaufen.
«Darfst du nicht an diesem Ritual teilnehmen, wenn du arm bist?»
Sie beschreiben einen solchen Demokratisierungsprozess auch im Buch: Die Austern, die es in der Vorweihnachtszeit günstig im Discounter zu kaufen gibt.
Du kriegst dann bei Aldi und Lidl so eine Schachtel mit zwanzig Stück für wenig Geld. Mein Vater verstand sich gut mit den Angestellten des Discounters und wusste immer ein paar Tage vorher, wann die Austern ins Regal kamen. Dann ist er hingegangen und hat gesagt: Meine Tochter kommt über Weihnachten nach Hause, heb mir doch zwei Packungen auf, ich hol die morgen ab. Denn er wusste, am nächsten Tag gibt es einen Run. Natürlich muss man sich fragen, wie werden die Austern gezüchtet, wie wurde der Preis möglich? Und gleichzeitig bleibt die Frage: Darfst du nicht an diesem Feiertagsritual von schickem Essen teilnehmen, wenn du arm bist?
Geboren ist Jovana Reisinger in München. In ihren ersten Lebensjahren zog die Familie nach Oberösterreich aufs Land, in die Heimat ihres Vaters, wo ihre Eltern ein Wirtshaus führten. Als Jugendliche zieht sie mit ihrer Familie zurück nach Deutschland. Es folgen schwierige Zeiten: Die Eltern beziehen zeitweise Hartz IV, manchmal haben sie keinen Strom oder kein warmes Wasser, weil sie die Rechnungen nicht zahlen können. Diese Zeit hat Reisinger geprägt. Sie erzählt, dass sie gespürt hat, wie die Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, schwinden, wenn kein Geld da ist. Sie fände es darum immer lustig, wenn gut betuchte Leute behaupten, Geld würde keine Rolle spielen, zum Beispiel in der Liebe. «Was macht man denn auf einem Date?», fragt sie. «Sitzt man auf einer Parkbank und trinkt Leitungswasser?»
Für das Studium – Kommunikationsdesign, später Drehbuch und Dokumentarfilmregie – zieht sie nach München, wo sie heute noch lebt. Sie schlägt sich mit Ausbildungsförderung und Nebenjobs durch; die Eltern können in der Zeit beruflich wieder Fuss fassen. Das erste Geld gibt Reisinger für Markenkleider aus, die sie auf Secondhand-Plattformen ergattert. Sie sind ihr Eintrittsticket in ein anderes Milieu, in eine neue Welt.
«In der kapitalistischen Logik, in der wir nun mal leben, ist es ohne Konsum unmöglich, ein gutes Leben zu haben»
Ihr Buch ist ein Imperativ der Lebensbejahung: Ein Aufruf, trotz aller Widerstände und Unmut über gesellschaftliche Missstände Spass zu haben. Woher nehmen Sie diesen unbedingten Willen, das Leben in vollen Zügen auszukosten?
Alle meine Arbeiten, meine Romane, meine Filme, sind aus Wut und Trotz entstanden. Die Wut kam daher: Ich habe meine Eltern gesehen, die sich zu Grunde gearbeitet haben. Mein Vater ist vor ein paar Monaten gestorben. Ich habe geweint, meine Lektorin angerufen und ihr gesagt: Der ist auch an seiner Arbeit gestorben. Dass ich mir mit meiner Kunst diese Räume der Reichen aneignen und in sie eingreifen will, das ist Trotz. Diese lebens- und genussbejahende Haltung ist eine Art Widerstandsfähigkeit: Ihr könnt mir die Freude nicht nehmen.
Ich fand es erfrischend, ein feministisches Buch über Konsum, Vergnügen und Spass zu lesen. Dennoch beschlichen mich auch Zweifel. Ist es nicht merkwürdig, sich mitten in der Klimakrise hinzustellen und zu sagen: Sorry, aber Konsum ist super?
Konsum ist ja auch das Pistaziencroissant hier oder dieser geile Saft, den ich dazu trinke. Die Kinokarte, der Eintritt ins Museum. Es tut vielleicht weh, sich einzugestehen, dass es in der kapitalistischen Logik, in der wir nun mal leben, ohne Konsum unmöglich ist, ein gutes Leben zu haben. Wer einmal arm war, weiss das jedoch ganz genau.
Wie meinen Sie das?
Wer Geld hat, kann sich das gute Gewissen erkaufen, mit Kaffee, Schuhen, Shampoo aus Öko-Herstellung, und auf die herabblicken, die falsch konsumieren. Klar muss man über Billigfleisch und Fast Fashion aufklären, Informationen offenlegen. Es ist wichtig, dass man versteht, was man konsumiert. Aber es geht für mich nicht auf, zu sagen: Nur die Leute, die sich Fairtrade-Kaschmir leisten können, dürfen einkaufen gehen. Trotzdem, und das ist das Gemeine, macht es natürlich für die Umwelt und die Menschen in der Produktionskette einen Unterschied, ob du dir den Fairtrade-Pulli oder das Polyester-Teil kaufst. Das ist widersprüchlich, aber wir müssen versuchen, alle Parameter im Kopf zu haben, wenn wir über Konsum sprechen.
«Dass ich in vielen Dingen gut war, war vielleicht Glück, aber auch Disziplin. Ich merke ja, wie meine Filme und Texte über die Jahre immer besser wurden»
Sie schreiben nicht nur Essays und Romane, sondern drehen auch Filme und Musikvideos. Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie in so vielen Kunstformen gleichzeitig unterwegs sind?
Ich hatte in der Schule keine guten Noten, ausser in Deutsch und in Nebenfächern. Ich dachte: Wenn ich erwachsen bin, will ich nicht immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten. Der einzige Garant für ein aufregenderes Leben schien mir die Kunst. Dass man sich da die ganze Zeit selbst ausbeutet und wahnsinnig viel arbeitet, das war mir natürlich nicht klar. Kunst in ihrer Gesamtheit erschien mir wie eine Exit-Strategie aus meinem Milieu. Also habe ich ausprobiert. Wenn während des Studiums irgendeine Anfrage kam, ein Auftrag für einen Text, ein Video, was auch immer, habe ich «ja» gesagt. Ich konnte es mir nicht leisten, auszusuchen. Dass ich in vielen Dingen gut war, war vielleicht Glück, aber auch Disziplin. Ich merke ja auch, wie meine Filme und Texte über die Jahre immer besser wurden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie als Jugendliche mit Ihren Eltern Wochenende für Wochenende an den Hochzeiten reicher Leute gekellnert haben. Einmal haben Sie sich bei einer Hochzeit am Dessertbuffet derart überessen, dass Sie sich übergeben mussten. Man könnte es auch so sagen: Geniessen bis über die Schmerzensgrenze hinaus, bis man nicht mehr kann.
Ich fand diese Hochzeiten damals entsetzlich, ich hätte lieber was anderes gemacht am Wochenende. Als ich später öfter selbst eingeladen war auf schicken Anlässen, stellte ich fest: An vielen Anlässen, an denen es fantastisches Essen gibt, essen die Leute fast nichts. Ich dachte am Anfang: Seid ihr wahnsinnig? In diesen Kontexten muss man Genuss und Konsum erstmal lernen: Wie viel man sich nimmt, ob man aufisst oder herumstochert, gerade als Frau. Zurück zum Dessertbuffet – dass ich mich dort so überessen habe, hatte mit Gier und wieder mit Wut zu tun. Ich war wütend, dass all das nicht meine Realität war. Und dann gabs halt sehr viel Crème brûlée. (lacht)
Als Sie noch ein Kind waren, führten Ihre Eltern einige Jahre ein Wirtshaus auf dem Land in Oberösterreich. Hat das Ihr Verständnis von Genuss geprägt?
Auf jeden Fall. Mein Vater war ein unfassbar guter Koch und ich bin mit wahnsinnig gutem Essen aufgewachsen. Essen war das zentrale Element unserer Familienstruktur, alles drehte sich darum. Wenn du jemanden kennenlernen willst, solltest du mit der Person essen gehen. Du lernst so viel über die andere Person, wie behandelt sie das Personal, wie gibt sie sich, wie konsumiert sie. Ich habe mal einen Typen gedatet, der hat sich im Restaurant immer beschwert. Im-mer. (klatscht zu jeder Silbe in die Hände)
Wie anstrengend.
Ich war auch so: Was ist los mit dir? Ich kann einen Restaurantbesuch sehr schätzen und habe viele Ausreden parat, wenn in der Küche oder im Service etwas nicht nach Plan läuft. Und ich fühle eine tiefe Verbundenheit mit Leuten, die ebenfalls in einem Wirtshaus aufgewachsen sind. Solche Dinge bleiben einem. Ein Freund sagte mir mal, wenn man das Milieu verlässt, in dem man aufgewachsen ist, nimmt man sich mindestens eine Angewohnheit mit – egal, wie sehr sich die Lebensumstände verändern.
«Taxifahren kam mir vor wie das Dekadenteste auf der Welt»
Welche ist das bei Ihnen?
Ich habe bis vor kurzem nie ein Taxi genommen, um nachhause zu kommen. Egal wie sehr es regnete oder wie lang ich auf den Bus warten musste. Taxifahren kam mir vor wie das Dekadenteste auf der Welt. Dabei wäre es oftmals sicherer. Nicht unbedingt für alle, aber in manchen Momenten ist es für mich, als Frau allein in der Nacht, die beste Lösung – die körperliche Sicherheit ist eng verknüpft mit finanzieller Sicherheit. Gestern Abend auf dem Heimweg habe ich dann festgestellt, dass der Bus nicht fährt. Streckensperrung, Umleitung, sowas. Und da dachte ich, fuck it, 18 Euro, ich lasse mich jetzt nach Hause fahren. In dem Moment habe ich gemerkt: Es hat sich wirklich was verändert.
Ein älterer Herr tritt zu uns heran und fragt, ob wir ihm Bescheid geben können, wenn unser Tisch frei wird. «Auf jeden Fall», beteuert Jovana Reisinger herzlich, «es ist Ihr Tisch.» Wir wollen los. Ich spanne den Schirm auf. Es nieselt, als wir durch die Innenstadt spazieren, sie erklärt mir den Weg zum Hauptbahnhof.
Auf dem Heimweg denke ich: «Pleasure» ist ein Essay im wörtlichen Sinne – ein Versuch, der Welt möglichst viel Lustvolles abzugewinnen, ohne ihre Tragik kleinzureden. Jovana Reisinger hält Widersprüche gut aus. Vielleicht, weil sie schon in unterschiedlichen Welten gelebt hat und laufend neue für sich erschliesst. Zwei Tage später sehe ich in ihrer Instagram-Story, dass Jovana Reisinger zum Fotoshooting für diesen Artikel unterwegs ist. Ich schaue genauer hin: Sie sitzt in einem Taxi.
Jovana Reisingers aktuelles Buch «Pleasure» ist bei park x Ullstein erschienen.