Zeitgeist
Krisensituationen: Wie wir es schaffen, den Mut nicht zu verlieren
- Text: Claudia Senn
- Bild: Unsplash
Job und Ehe haben den Lockdown nicht überlebt, plötzlich streikt der eigene Körper – Corona hat das Leben vieler Menschen auf den Kopf gestellt. Sibylle Tobler weiss, wie man wieder auf die Beine kommt.
annabelle: Sibylle Tobler, am Vortag dieses Gesprächs gab Swiss bekannt, Hunderte von Jobs zu streichen. Nehmen wir an, eine der betroffenen Flugbegleiterinnen ruft Sie an, weil sie nicht mehr weiter weiss. Was raten Sie?
Sibylle Tobler: Es ist verständlich, dass sie das zuerst mal aus den Socken haut. Der Körper wird überschwemmt von Stresshormonen. In einer Art Panikreaktion kreist man um die immer gleichen Gedanken. Umso wichtiger ist es, Ruhe zu schaffen, indem man ganz genau hinschaut und sachlich benennt, was los ist. Was bedeutet die Kündigung für die Betroffene? Hat sie Angst, die Raten für die Hypothek nicht mehr bezahlen zu können? Fühlt sie sich als Versagerin? Oder glaubt sie, nie mehr eine Stelle zu finden?
Reicht das, um die Panik in den Griff zu bekommen?
Es ist die Basis, um selbst die Regie zu übernehmen. Manchmal weiss man ja vor lauter Baustellen gar nicht mehr, wo man anfangen soll. So hatte ein Klient lang in der Firma seiner Partnerin gearbeitet. Als sie sich von ihm trennte, verlor er seine Beziehung, sein Zuhause, seinen Job und sein Einkommen. Logisch, dass er das Gefühl hatte, komplett den Boden zu verlieren. Ich fragte ihn also: Was ist jetzt das Allerwichtigste? Er sagte, er brauche einen Job, egal welchen, um wieder ein Einkommen zu haben, und er wolle um jeden Preis seinen Kopf über Wasser halten, um in dieser existenziellen Krise nicht unterzugehen.
Was haben Sie ihm geraten?
Ich schlug ihm vor, in einem strukturierten Tagesablauf zwischen Problemlösung und Entspannung abzuwechseln: am Morgen Stellensuche, am Nachmittag entspannen.
Entspannen? Während die Welt an allen Ecken und Enden brennt?
Ich weiss, das klingt seltsam. Man könnte glauben, es wäre sinnvoller, so viele Bewerbungen wie möglich zu verfassen. Doch es bringt nichts, in hektischen Aktionismus zu verfallen. Man sollte lieber herausfinden, wie man mehr Energie bekommt, um Schwieriges anzupacken, statt sich beim Feuerlöschen komplett zu verausgaben. Mein Klient ging nun nachmittags in die Sauna. Er merkte, dass er durch diese Entspannung konzentrierter bei der Stellensuche war. Bald klappte es dann auch mit dem neuen Job.
Kehren wir zurück zur gekündigten Flugbegleiterin. Bei einer anderen Airline unterzukommen ist für sie zurzeit unrealistisch. Sie weiss, sie wird sich neu erfinden müssen, hat aber keinen Plan und fühlt sich wie gelähmt. Wie findet sie aus dieser Starre heraus?
Solche Gefühle sind ganz normal. Sich Druck zu machen, weil man glaubt, man müsse sofort eine neue Perspektive entwickeln, wäre das Falscheste überhaupt. Auch hier gilt: Erst mal tief durchatmen. Dann sollte die Flugbegleiterin versuchen, sich dieser Konfrontation zu stellen, statt in Wunschdenken zu verharren und zu hoffen, es werde von selbst alles wieder gut. Wenn sie genau hinschaut und diese Gefühle aushält, ist schon viel erreicht.
Sibylle Tobler«Nicht die Umstände beeinflussen, wie man mit etwas zurechtkommt, sondern die eigene Haltung »
Und dann, wie weiter?
Nun geht es darum, herauszufinden, wie man seine Fähigkeiten und Talente – die sogenannten transferable skills – auch woanders einsetzen könnte. Ich würde die Flugbegleiterin zum Beispiel fragen, wie denn ein Job aussähe, für den sich der ganze Stress, den sie jetzt gerade durchmacht, lohnt. Was ihr Energie gibt, welches ihre Werte und Wünsche sind. Ob es etwas gibt, das sie schon lang gern tun würde und jetzt vielleicht weiterverfolgen könnte.
Möglicherweise ist die Flugbegleiterin auch wütend oder verletzt. Wohin mit solchen Gefühlen?
Je krampfhafter man versucht, sie zu unterdrücken, umso stärker wirken sie im Hintergrund. Hilfreich ist es, ein Ritual zu entwickeln, um solche Gefühle zuzulassen – und bewusst zu unterbrechen. Denn es ist wichtig zu verstehen, dass man sich in Opfer- und Ohnmachtsgefühlen verlieren kann. Damit schadet man sich am Ende selbst. Wenn die Flugbegleiterin in einer Opferspirale gefangen ist und nur ihren fiesen Chef im Kopf hat, ist sie im Stress-Modus. Sie kann nicht klar denken, kommt nicht auf gute Ideen.
Wie lässt sich dies verhindern?
Indem sie sich fragt, was sie nun tun muss, um gut für sich zu sorgen. Was hilft ihr jetzt? Was gibt ihr Energie? Wofür lohnt es sich trotzdem, jeden Tag aufzustehen? Plötzlich merkt sie, aha, ich habe ja noch eine Familie, Freunde, ein Hobby. Und gleich ist sie wieder positiver gestimmt. Es sind eben nicht die Umstände, die beeinflussen, wie gut sie mit dieser Situation zurechtkommt. Es ist ihre eigene Haltung. Das ist die allerwichtigste Erkenntnis beim Umgang mit Veränderungen. Die Umstände können wir meistens nicht sofort ändern, aber wir können bestimmen, wie wir ihnen begegnen. Das realisieren viele nicht.
Sie haben unzählige Menschen in Veränderungsprozessen begleitet. Gibt es Klient:innen, bei denen Sie gleich wissen: Diese Person wird es schaffen?
Ja, die gibts, ich nenne sie die Aufbrechenden, im Gegensatz zu den Verharrenden. Sie sind keine Überoptimisten, die angestrengt positiv denken, sondern sie sagen sich: Es ist gerade sehr schwierig. Ich setze mich damit auseinander und richte mich auf das aus, was möglich ist. Solche Menschen können sich selbst motivieren, weil sie fähig sind, den Blick auf neue Möglichkeiten zu lenken.
Ein Beispiel bitte.
Ich arbeite oft mit Parkinson-Betroffenen. Einer von ihnen erzählte mir, dass es für ihn ein harter Brocken gewesen sei, nicht mehr Auto fahren zu können. Doch dann habe er eine Idee gehabt: ein Velo mit drei Rädern zu bauen. Das ist ihm nicht auf Anhieb gelungen, doch er hat es geschafft und so ein Stück Freiheit zurückgewonnen. Ich fand das toll!
Sibylle Tobler«Wer sich etwa angewöhnt hat, das Glas immer als halb voll zu betrachten, wird das auch in einer Veränderungssituation tun»
Und die Verharrenden, welche Persönlichkeitsmerkmale zeichnen sie aus?
Ihre Aufmerksamkeit ist auf die Umstände gerichtet. Meist sind sie überzeugt, dass sie an ihnen wenig ändern können. So steigern sie sich in Ohnmachtsgefühle hinein, die sie noch weiter runterziehen. Oft können sie hundert Argumente vorbringen, warum etwas nicht geht – und klingen dabei durchaus plausibel. Wenn so eine Person zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird, und ich sage: das ist ja super, dann antwortet sie: ja, aber damit habe ich noch keine Stelle.
Was würde eine Aufbrechende sagen?
Sie würde sich freuen, selbst, wenn sie die Stelle am Ende doch nicht bekommt. Immerhin ist sie unter zweihundert Bewerber:innen für ein Gespräch ausgewählt worden. Das ist doch ein Teilerfolg. Wenn die Verharrende die Stelle nicht bekommt, fühlt sie sich bestätigt und sagt: Ich habs ja gewusst. Zwischenerfolgserlebnisse übersieht sie oder wertet sie ab. Und oft macht sie noch mehr von dem, was bisher schon nichts gebracht hat: Sie verfasst noch mehr Bewerbungen und wird so immer erschöpfter, sie jammert noch mehr, sie zieht sich noch mehr zurück.
Wie sehr können einem innere Glaubenssätze im Weg stehen?
In Veränderungssituationen greifen wir meist auf vertraute Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zurück. Das sind unsere Grundüberzeugungen und Lebensanschauungen, die wir irgendwann einmal entwickelt haben, weil sie uns zum Überleben sinnvoll erschienen. Im positiven Fall sind sie eine Ressource. Wer sich etwa angewöhnt hat, das Glas immer als halb voll zu betrachten, wird das auch in einer Veränderungssituation tun.
Wer das Glas aber als halb leer betrachtet, hat erst recht ein Problem.
Ja, hier wird die Grundüberzeugung zum eigentlichen Hindernis. Wer auf destruktive Glaubenssätze zurückgreift wie «Ich bin vom Schicksal benachteiligt » oder «Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert», der kann keinen Erfolg erwarten. Wer mit dem Schiff Kurs nach Norden nimmt, gelangt nun mal nicht in den Süden.
Wie lässt man solche unguten Denk-und Verhaltensmuster hinter sich?
Wichtig ist zu wissen: Solche Glaubenssätze sind veränderbar, auch ohne jahrelange Psychotherapie. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Man muss immer wieder üben, die destruktiven Muster zu erkennen und durch solche zu ersetzen, die förderlicher sind. Das braucht nicht nur die Bereitschaft zur Veränderung, sondern auch Training und Ausdauer.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Eine Klientin war von ihrem Partner verlassen worden. Sie hatte genug von destruktiven Beziehungen. Sie hatte es satt, sich klein zu machen und sich alles gefallen zu lassen. Sie wollte aufbrechen. Die Frage war nur, wie?
Was haben Sie ihr geraten?
Ich fragte die Frau: Wie wären Sie als Person, die mehr so ist, wie Sie es sich wünschen? Sie antwortete spontan: Ich wäre voller Selbstvertrauen. Auf meine Frage, wie sie dann fühlen und handeln würde, sprudelte es aus ihr heraus: Ich würde mit dem Nachbarn reden, der sich über mein Klavierspiel beschwert. Ich würde bei der Arbeit nicht immer jene Dienste übernehmen, die kein anderer haben möchte. Ich würde Beziehungen, die mir nicht guttun, abbrechen. Ich würde mich stark und frei fühlen. So entwickelte sie eine Vision davon, wie sie gern sein möchte.
Wie schaffte sie es, diese Vision in die Tat umzusetzen?
Als Erstes sprach sie mit ihrem Nachbarn. Sie hatte geübt und führte das Gespräch, als ob sie bereits diese neue, selbstbewusste Person wäre. Zu ihrem Erstaunen klappte das ganz gut. Dadurch kam ein Prozess in Gang, der bis heute andauert. Kürzlich hat mir die Frau geschrieben, sie sei ein ganz anderer Mensch. Neulich habe sie ihren 60. Geburtstag gefeiert, mit 25 Gästen, die ihr alle vermittelten, was für eine tolle Frau sie doch sei. Manchmal falle sie noch zurück in die alten Muster, doch dann rudere sie eben zurück und positioniere sich wieder neu.
Der Satz «So war ich schon immer, das kann ich nicht ändern» ist also eine Ausrede.
Ja, wir wissen heute, dass unser Gehirn ein Leben lang veränderbar bleibt. Wer diesen Satz gebraucht, sollte sich fragen: Will ich mich überhaupt ändern? Viele sind nicht bereit, diese Mühe auf sich zu nehmen. Es ist einfacher, ein Opfer zu bleiben, wenn man sich fünfzig Jahre wie eines gefühlt hat.
Manche Menschen sind in einer konstanten Abwehrhaltung und finden tausend Argumente, warum eine Änderung unmöglich ist.
Ich nenne das die «Geht-nicht-Falle». Oft haben diese Leute auch sehr gute Argumente. Es ist ja tatsächlich anspruchsvoll, mit 58 noch eine neue Stelle zu finden oder sich als gekündigte Airline-Mitarbeiterin neu zu orientieren. Wenn man jedoch bei allem sagt, das geht nicht, wird man nie die Erfahrung machen, dass etwas geht. Das Geht-nicht-Gefühl wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung.
Sibylle Tobler«Menschen in Krisensituationen haben oft einen Tunnelblick»
Wie findet man aus dieser Falle raus?
Indem man ehrlich hinschaut, was genau hinter diesem Geht-nicht steckt. Sind es Ängste, Vorurteile oder reale Hindernisse? Oft ist das Geht-nicht auch ein Alibi. Man möchte sich nicht auf eine Veränderung einlassen und findet es eigentlich ganz praktisch, dass es nicht geht. Genaues Hinschauen lässt erkennen, was einen wirklich vom Handeln abhält.
Menschen, die darauf vertrauen, dass es schon gut kommt, tun sich mit Veränderungen leichter. Wie kann man dieses Vertrauen in sich stärken?
Zunächst: Vertrauen ist nicht dasselbe wie Wunschdenken. Vertrauen ist gebunden an genaues Hinschauen und selbstverantwortliches Handeln. Es lässt sich nicht einfach so herstellen. Eine Pflanze wächst auch nicht schneller, wenn man an ihr zieht. Genauso ist es mit dem Vertrauen. Aber man kann sich öffnen für neue Möglichkeiten. Plötzlich ergeben sich günstige Umstände. Plötzlich kommt jemand mit einem Angebot oder einem guten Tipp. Wenn man gestresst ist und nur um die Kündigung kreist, nimmt man Chancen vielleicht gar nicht wahr.
Kommen wir noch einmal auf unsere Flugbegleiterin zurück. Welche Tipps würden Sie ihr geben, um wieder mehr Zukunftsvertrauen zu entwickeln?
Menschen in Krisensituationen haben oft einen Tunnelblick. Also würde ich sie fragen, in welchen Phasen ihres Lebens sie Schwieriges gemeistert hat und was damals hilfreich war. Die Antworten könnten ihr Mut und Kraft geben.
Ist der Slogan «Krise als Chance» bloss eine Zuckersäckchen-Weisheit oder steckt ein Körnchen Wahrheit drin?
Ich bin mit diesem Slogan sehr zurückhaltend. Er kann eine billige Abwehrfloskel sein, im Sinn von: Ich will mit deinen Problemen nichts zu tun haben, also betrachte sie gefälligst als Chance. Zugleich sagen Menschen, die Schwieriges bewältigt haben, im Nachhinein oft: Es war das Beste, was mir passieren konnte. Menschen, die das schaffen, sind in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt. Sie fühlen sich nicht ausgeliefert, sondern haben die Erfahrung gemacht, dass das Leben weitergeht, dass es einen Plan B mit neuen Möglichkeiten gibt, dass sie immer noch glücklich sein können, trotz einer schweren Krankheit, Trennung oder Jobverlust.
Sibylle Tobler beschäftigt sich seit über 25 Jahren mit Veränderungsprozessen. Sie hat zu diesem Thema promoviert und vier Bücher geschrieben, darunter «Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen» (Klett-Cotta-Verlag, 2009). Als Leiterin zweier Arbeitsintegrationsfirmen begleitete sie rund 400 Menschen bei der Stellensuche. Heute arbeitet sie als Referentin und Beraterin. Sie lebt mit ihrem Mann in Den Haag und in Bern. Mehr Infos unter sibylletobler.com
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