Leben
Krieg gegen Frauen: Wo bleibt der Aufschrei?
- Text: Helene Aecherli; Fotos: annabelle Fotostudio (1), Andy Spyra (1)
Weltweit werden Mädchen und Frauen entführt, vergewaltigt, ermordet. Doch der politische Wille, etwas dagegen zu tun, ist gering. Auch hierzulande.
Achtjährige Mädchen werden vergewaltigt und bei lebendigem Leib verbrannt. Zwölfjährige entführt und als Sklavinnen verkauft. 15-Jährige zur Prostitution gezwungen, 20-Jährige zwangsverheiratet und geschwängert und, wenn sie nicht parieren, gesteinigt oder geköpft. Frauen über 45 erschossen und in Massengräbern verscharrt, denn sie gelten nur noch als wertlos. So geschehen unter anderem im Südsudan, in Nigeria, in der Demokratischen Republik Kongo, in Afghanistan, im Irak, in Syrien und in Libyen. In Kriegen ist es oft gefährlicher, lautet ein zynisches Fazit, eine Frau zu sein als ein Soldat an der Front.
Kann sein, dass wir heute genauer hinsehen als früher, die Verbrechen genauer dokumentieren und deshalb mehr über diese Gräueltaten wissen (denen übrigens auch Männer und Buben zum Opfer fallen). Doch ist sexualisierte Gewalt nicht neu, in allen Kriegen der letzten Jahrhunderte haben Mädchen und Frauen sie erlebt. Sie ist die grausamste Form der Kriegsführung, mit dem Ziel, den Gegner zu demütigen und seine Gesellschaft zu vernichten. Gleichzeitig ist sie auch eine Taktik, um den Zusammenhalt der Truppen aufrechtzuerhalten, ebenso wie sie ein Zeichen dafür sein kann, dass die Kontrolle über die Truppen verloren gegangen ist. Allein im Zweiten Weltkrieg gab es Millionen von Vergewaltigungen, während des Bosnienkriegs vor zwanzig Jahren wurden bis zu 50 000 Frauen vergewaltigt, wie viele es heute sind, in allen Konfliktzonen zusammengezählt, darüber gibt es noch kaum gesicherte Zahlen. Nur, durch die systematische Vergewaltigungs- und Versklavungsstrategie, die Terrormilizen wie der IS und Boko Haram unverfroren zur Schau stellen und erst noch selbstbewusst rechtfertigen, hat die sexualisierte Kriegsgewalt eine neue Dimension erreicht.
Das Thema ist so entsetzlich, dass es erst stumm macht, dann eine reflexartige Abwehrhaltung provoziert. «Das ist furchtbar», höre ich oft, «ich will mein Leben nicht damit belasten. Gott sei Dank passieren diese schrecklichen Dinge weit weg, die haben doch kaum etwas mit uns zu tun.» Viele geben unumwunden zu, dass sie an einer Empathie-Fatigue leiden, sich vor lauter Schreckensmeldungen ausklinken, andere sind von der eigenen Hilfslosigkeit gelähmt («Was kann ich denn bloss dagegen machen?»). Ein Bekannter von mir sagte gar, und das wäre nun eine Geschichte für sich, dass er sich bei Sexthemen grundsätzlich zurückhalte, weil er sich damit nur disqualifizieren könne – wohl wissend zwar, dass sexualisierte Kriegsgewalt kein Sexthema ist, sondern Ausdruck eines patriarchalen Wertesystems, das die sexuelle Übermacht des Mannes zelebriert, indem es Frauen abwertet. Doch äussert er sich nicht öffentlich dazu, obwohl er durchaus in der Position wäre, es zu tun, weil er fürchtet, als Sonderling dazustehen, wenn er sich als Mann für Frauen starkmacht. Schade.
Natürlich, jeder hat das Recht, das zu sagen, was er oder sie für richtig hält. Und ja, auch ich fühle mich angesichts dessen, was «da draussen» abläuft, manchmal regelrecht erschlagen, vor allem aber wütend: Muss denn das so sein? Gibt es keine Kräfte, die dieser Gewalt entgegenwirken? Und je länger, je mehr wird mir klar: Ich möchte die Augen nicht davor verschliessen. Denn wenn ich das tue, bedeutet es, dass ich stillschweigend akzeptiere, was nicht akzeptabel ist. Ich kann die Welt nicht retten, aber ich kann meine Stimme erheben und zumindest in meinem Umfeld das Bewusstsein dafür schärfen. Das können wir alle. Wir müssen es nicht, aber wir können es. Denn sexualisierte Kriegsgewalt hat sehr wohl etwas mit uns zu tun, auch wenn sie mehrere Flugstunden entfernt geschieht. Es kann uns nicht egal sein, wenn jenseits unserer Grenzen ganze Gesellschaften zerstört werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der IS auch deshalb in Syrien und im Irak entwickeln konnte, weil dort die Menschenrechtslage durch die bestehenden Konflikte bereits desolat war, was es der Terrormiliz einfach machte, exzessive Gewalt gegen Minderheiten, vor allem aber gegen Frauen und Mädchen auszuüben. Ein Ausmass an Gewalt, notabene, die die grösste Flüchtlingswelle der Neuzeit zur Folge hat – und die auch an unserer Welt nicht spurlos vorbeigeht.
Doch Tatsache ist: Der politische Wille, sexualisierte Kriegsgewalt nachhaltig zu bekämpfen und die Rechte von Frauen zu stärken, ist gering.
Es ist nicht so, dass gar nichts geschieht. Vor 15 Jahren wurde die Uno-Resolution 1325 zu «Women, Peace and Security» lanciert, ihr sind inzwischen sieben weitere Resolutionen gefolgt. Sie alle rufen Konfliktparteien, Regierungen und Institutionen dazu auf, Frauen zu schützen und sie gleichberechtigt in Friedensverhandlungen und den Wiederaufbau des Landes mit einzubeziehen. Denn längst ist bekannt, dass Frieden und Stabilität nur dann gedeihen können, wenn Frauen das wirtschaftliche, politische und soziale Leben aktiv mitgestalten können. Mehr noch: Die rechtliche, wirtschaftliche und politische Stärkung von Frauen ist eine zentrale Massnahme in der Prävention von Extremismus und Terrorismus. «In Zeiten, da Terrorgruppen die Unterwerfung von Frauen zuoberst auf ihre Agenda setzen», sagt Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon, «müssen wir die führende Rolle von Frauen und die bedingungslose Umsetzung der Menschenrechte zuoberst auf der unseren haben.» Well said!
Die Relevanz dieser Resolutionen wird eifrig abgenickt – die Resolutionen selbst werden bis anhin aber kaum umgesetzt. Es fehlt an Geld, zu schwach ist der Druck, Rechenschaft über die Umsetzung abzulegen, es mangelt an Interesse. Wohl deshalb, weil man sich in Zeiten von Konflikten mit «wichtigeren» Dingen auseinandersetzen will als mit «Frauenangelegenheiten». Nicht umsonst heisst es oft: «Zuerst der Frieden, dann die Frauen.» Eine Studie der Uno belegt sogar, dass das am meisten vernachlässigte Werkzeug in Friedensprozessen der Einbezug von Frauen ist. Zudem hätte eine ernsthafte, zielgerichtete Implementierung dieser Resolutionen zu Folge, dass Regierungen die eigene Wirtschaft herausfordern müssten. Dann gälte es etwa, Militärausgaben und Rüstungsexporte in einem ganz anderen Licht zu betrachten, ihren Sinn kritisch zu hinterfragen, die Gelder anders einzusetzen. Denn Sicherheit ist nicht nur militärisch zu verstehen, sondern ist ganz besonders und vor allem eine soziale und wirtschaftliche Herausforderung. Doch dafür braucht es Wissen, Weitsicht, Willen und Mut.
Und das wünschte ich mir für die Schweiz.
Zwar ist die Schweiz als Mitglied der Vereinten Nationen in der Umsetzung der «Women, Peace and Security»-Resolutionen durchaus aktiv, doch geschieht dies fast schon unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und es ist schmerzhaft ernüchternd, dass sexualisierte Kriegsgewalt hierzulande von keiner einzigen politischen Partei auf das Banner geschrieben wird. Sie ist weder ein zentrales Thema, geschweige denn einer Kampagne würdig, keine Spur davon, dass dies ein prioritäres sicherheitspolitisches Anliegen ist. Ausgerechnet hier in der Schweiz, wo jeder Politiker, jede Politikerin, davon gehe ich zumindest aus, stolz ist auf die weitsichtige humanitäre Tradition des Landes. Ich habe sämtliche Websites aller Parteien immer wieder durchforstet, von der SP über die CVP bis zur FDP und SVP – nichts. Der Krieg gegen Frauen war weder vor noch während des Wahlkampfs ein Anliegen. Und ist es auch jetzt nicht. Nicht einmal bei den Frauenparteien. Zwar findet sich unter der Rubrik «Dossiers» das Thema «Häusliche Gewalt» bei den SP-Frauen, bei den FDP-Frauen versteckt sich unter «Kernthema 2» das Stichwort «Sicherheit zuhause» (das aber nicht näher ausgeführt wird). Doch dass jenseits helvetischer Grenzen ein Femizid geschieht, bleibt unerwähnt. Enttäuschend. Und eine verpasste Chance.
Warum wird sexualisierte Kriegsgewalt nicht gerade von Politikerinnen als das akuteste Verbrechen gegen das eigene Geschlecht gebrandmarkt und hartnäckig die Bestrafung der Täter gefordert? Wo bleiben die Feministinnen? Wo die Stimmen der Journalistinnen und Journalisten, der Bloggerinnen und Hashtager? Wo bleibt der #Aufschrei? Warum wird in der «Arena» nicht über die Zusammenhänge zwischen unserer eigenen Sicherheit und jener der Frauen in Syrien und im Irak diskutiert? Wo sind die Analysen der Sicherheitsexperten? Der Wirtschaftsführer? Der Armeegewaltigen?
Wir müssen aufhören zu schweigen. Denn wollen wir wirklich etwas verändern, haben wir zum Schweigen keine Zeit mehr.