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Krankes System: Das Gesundheitssystem der Schweiz hat ein Pflegeproblem

Krankes System: Das Gesundheitssystem der Schweiz hat ein Pflegeproblem

Jede dritte Pflegefachperson steigt aus, bevor sie 35 Jahre alt ist. Und dies, obschon viele von ihnen den Beruf sehr mögen. Was läuft schief?

«Es war Weihnachten, unsere Abteilung total unterbesetzt. Eines der Babies durfte auf keinen Fall weinen, weil die Gefahr bestand, dass dann sein Herz stillsteht. Gleichzeitig betreute ich mehrere andere Neugeborene. Ich hatte nicht genügend Zeit, stand unter grossem Druck. Da gab ich diesem Baby den Nuggi etwas ungeduldiger als sonst, es wurde unruhig. Und plötzlich mussten wir es reanimieren. Nach der Übergabe ging ich auf den Balkon und weinte nur noch.» Jasmina Robl (40) verfügt über einen Bachelor in Pflege und arbeitete seit mehr als zwanzig Jahren auf Säuglings- und Wochenbettstationen. Und war oft erschöpft. Der Vorfall an Weihnachten war ein Wendepunkt. Im Februar 2020 kündigte sie.

So wie Jasmina Robl geht es vielen. Jede dritte Pflegefachperson in der Schweiz steigt aus dem Beruf aus, bevor sie 35 ist. Bei den über 50-Jährigen ist es gar die Hälfte. Das zeigt ein aktueller Bericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan, einer Forschungsstelle für unabhängige Analysen zum Schweizer Gesundheitssystem. Der Bericht stützt sich auf Daten aus den Jahren 2016 bis 2018.

Die Werte dürften seit der Corona-Pandemie nochmal gestiegen sein. Gesundheitsfachpersonen warnen seit Jahrzehnten vor einem Pflegenotstand. Dass er noch nicht eingetreten ist, hängt damit zusammen, dass ein Drittel des diplomierten Pflegefachpersonals in Spitälern und Pflegeheimen heute aus dem Ausland stammt, aus 92 Ländern, wie der «Tages-Anzeiger» kürzlich berichtete.

Viele Pflegeleute steigen vorzeitig aus

Schon heute geben aber 96 Prozent der Pflegeinstitutionen gemäss der Shurp-Studie, einer Befragung der Universität Basel, an, Probleme bei der Rekrutierung von Pflegepersonal zu haben. Das Problem verschärft sich mit jedem Jahr: Rund ein Viertel des aktuellen Gesundheitspersonals wird bis 2030 pensioniert. Zudem altert die Bevölkerung, Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Probleme nehmen zu – es wird immer mehr Patient:innen geben und die brauchen mehr Pflege. In den kommenden Jahren benötigt die Schweiz gemäss Obsan Zehntausende zusätzliche Pflegekräfte.

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«Auszusteigen war für mich auch ein Statement. Solang man mitmacht, heisst es: Es geht ja»

Lilian Capul

Zwar haben im letzten Jahrzehnt in der Schweiz deutlich mehr Menschen ein Pflegefachdiplom erhalten, und das Obsan sagt, wenn die Zahlen der Ausgebildeten wie angekündigt weiter steigen, liesse sich der zusätzliche Bedarf an Neuanfänger:innen voraussichtlich theoretisch decken. Theoretisch. Denn das Hauptproblem, das wir haben werden, um den Pflegenotstand abzuwenden, zeigt sich in Geschichten wie der von Jasmina Robl: Viele Pflegeleute steigen vorzeitig aus dem Beruf aus.

Eigene Grenzen werden überschritten

So auch Lilian Capaul (33) aus Biel, die nach der Matura die Ausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau absolvierte. Sie arbeitete während zehn Jahren in der Spitex und im Altersheim mit dementen Menschen, bis sie diesen Sommer Distanz vom Beruf brauchte. Warum? Sie zählt mehr als zehn Gründe auf, einer der gewichtigsten: «Weil dieser Job einen ständig zwingt, die eigenen Grenzen zu überschreiten; moralische, emotionale, körperliche. Nur ein Beispiel: Wir gehen zur Arbeit, auch wenn wir krank sind und das Bett hüten müssten, weil wir genau wissen, wie übel man mit der knappen Schichteinteilung ins Rotieren kommt, wenn auch nur eine Einzige fehlt.»

Lilian Capaul, die bereits kurz nach der Pflegeausbildung ein Kunststudium anfing, um einen Ausgleich zum stressigen Job zu haben, sagt auch: «Auszusteigen war für mich nicht nur, aber auch ein Statement. Solang man als Pflegefachperson unter diesen Bedingungen mitmacht, heisst es: Es geht ja.»

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«Die Menschen, die ich pflegte, und die Angehörigem sagten mir zum Beispiel: ‹Wir klingeln extra nicht, weil wir wissen, dass Sie zu viel zu tun haben›»

Jasmina Robl

Neuer Alltag

Das Ausstiegsproblem beginnt laut Obsan schon sehr früh: Frischdiplomierte fangen zu oft gar nie im Pflegebereich an oder hören nach wenigen Jahren wieder auf. Nadja Breuer* (34), die Anfang Jahr an der höheren Fachschule für Pflege ihre Ausbildung begonnen hat, kann das nachvollziehen: «Zum ersten Mal ans Aussteigen dachte ich wenige Tage nach dem Start meines Ausbildungspraktikums.»

An diesem Tag seien auf der Abteilung eh alle schon gestresst gewesen, weil eine Kollegin fehlte. «Ich war in einer normalen Schicht eingeteilt, als wäre ich schon diplomiert. Dabei stünden mir mehrere Monate Einarbeitungszeit zu.» Dann sei ein Patient hingefallen. Die Chefin habe hysterisch durch die Gänge geschrien, es sei das totale Chaos gewesen. «Und ich dachte, das soll jetzt mein Alltag werden?»

Familie wird vernachlässigt

Verschiedene Schweizer Universitäten, Gewerkschaften wie die Unia und Verbände haben in den vergangenen Jahren erhoben, worin genau die Gründe bestehen, dass so viele Pflegefachleute nicht bis zur Pension im Job bleiben. Die Erkenntnisse zeigen: Wäre die Pflege eine Patientin, sie wäre multimorbid. Gebeutelt von insbesondere vier Krankheiten: ständigem Zeitstress, oft aufgrund von Personalmangel, emotionaler Beanspruchung, körperlicher Belastung. Zudem ist der Beruf mit unregelmässigen Schichten und kurzfristigen Dienstplanänderungen nur schwer zu vereinbaren mit einer Familie – und dies, obwohl er zu an die neunzig Prozent von Frauen ausgeübt wird und sie es sind, die auch heute noch den allergrössten Teil der familiären Care-Arbeit übernehmen.

Wie schwierig der Job mit familiären Pflichten zu kombinieren ist, erfährt gerade auch die sich in Ausbildung befindende Nadja Breuer. Ihre drei Kinder werden drei Mal pro Woche in einer Tagesstruktur betreut. Der Arbeitgeber ihres Mannes ist verhältnismässig flexibel. Als sie aber die Dienstpläne ihres ersten Praktikums sah, schluckte sie leer.

Sie ist teilweise mehr als zwei Mal pro Woche im geteilten Dienst eingetragen. Geteilter Dienst heisst: Man beginnt früh und geht spät nachhause, dazwischen liegt eine lange Mittagspause. Als sie ihre Chefin anspricht, antwortet diese: Es sei nun mal kein Wunschkonzert. Ihre Ferientage werden von der Höheren Fachschule vorgegeben. In den Herbstferien war ihr Mann mit den Kindern allein.

Pflegende brauchen Pflege

Das grösste Problem für viele Pflegende ist aber, dass sie ständig zu wenig Zeit haben, um ihren Beruf so auszuüben, wie sie ihn eigentlich gelernt haben. Nur die Hälfte des Pflegepersonals in Pflegeheimen in der Deutschschweiz und der Romandie gibt in der Shurp-Studie an, dass die Anzahl Personen in der Schicht ausreicht, um die anfallende Arbeit zu erledigen.

In einer Umfrage der Unia unter Pflegefachleuten aus allen Bereichen geben knapp neunzig Prozent an, dass sie häufig unter Zeitdruck stünden. 87 Prozent sagen, dass sie nicht genügend Zeit für die Patient:innen haben – was diese spüren. Jasmina Robl erzählt: «Die Menschen, die ich pflegte, und die Angehörigem sagten mir zum Beispiel: ‹Wir klingeln extra nicht, weil wir wissen, dass Sie zu viel zu tun haben›.» Sie erinnert sich, dass manchmal so viel los war, dass ihr die Zeit fehlte, um auf die Toilette zu gehen. Also habe sie einfach weniger getrunken.

Es ist ausserdem nicht selten so, dass Menschen, die andere pflegen, selbst Pflege brauchen. Nadja Breuer hatte bereits wenige Wochen nach dem Praktikumsstart starke Ischias-Schmerzen. Sie denkt, es könnte daran liegen, dass sie die manchmal schweren Patient:innen allein zwischen Rollstuhl und Bett manövrieren müsse. In der Befragung der Unia geben achtzig Prozent an, in den letzten Monaten unter Rückenschmerzen gelitten zu haben. In der Shurp-Studie erzählen die Befragten am meisten von Schwäche, Müdigkeit und Energielosigkeit (76 Prozent), gefolgt von Rücken- oder Kreuzschmerzen (73 Prozent), Gelenk- und Gliederschmerzen (60 Prozent) und Einschlaf- oder Durchschlafstörungen (58 Prozent).

Lücken werden gleich gefüllt

Der Stress bei der Arbeit, der emotionale wie der körperliche, hinterlässt Spuren. Jede fünfte Pflegefachperson leidet gemäss der Studie der Berner Fachhochschule an Burn-out-Symptomen. Jasmina Robl kennt viele ehemalige Kolleg:innen, die wegen einer sich abzeichnenden oder bereits eingetretenen Erschöpfungsdepression das Pensum reduziert haben oder ganz ausgestiegen sind. Sie selbst habe unbezahlte Ferien genommen, um zu reisen und sich zu erholen.

«Nicht wir sind es, die dringend auf diesen Beruf angewiesen sind, sondern die Gesellschaft»

Lilian Capul

Dass Pflegefachleute wegen körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen ausfallen, kommt immer wieder vor. Langzeitabsenzen, also mehr als acht Tage, sind nicht unüblich. Gemäss der Basler Shurp-Studie treten sie auf mehr als der Hälfte der befragten Abteilungen auf. Vielerorts wird erstmal keine Vertretung besorgt, auch das zeigt die Studie, sondern das Team oder Angestellte aus anderen Abteilungen müssen die Lücke füllen. «In gewissen Betrieben wird erwartet, dass man verfügbar ist», sagt Lilian Capaul. Am Wochenende, Feiertagen. Also springe man ein, den Patient:innen und Kolleg:innen zuliebe. «Mit dem Wissen: Irgendwann bin ich die Nächste mit dem Rückenschaden oder dem Burn-out.»

Mehr Wertschätzung

Die Pflege braucht also selbst Pflege. Um sie zu stärken und dem sich abzeichnenden Arbeitskräftemangel beizukommen, hat ein Komitee unter der Führung des Berufsverbands des Pflegefachpersonals vor vier Jahren die Pflegeinitiative eingereicht, über die am 28. November abgestimmt wurde – die Schweiz nahm die Initiative an. Die Initiant:innen wollen bessere Arbeitsbedingungen, etwa Vorgaben für genügend Pflegende pro Abteilung, oder bessere Löhne. Zudem fordern sie mehr Entwicklungsmöglichkeiten und eine Ausbildungsoffensive.

Eine Gesellschaftsfrage

Es ist noch gar nicht lang her, an einem sonnigen Freitagmittag im März vor eineinhalb Jahren, als die Menschen landesweit auf ihren Balkonen standen und für das Pflegepersonal klatschten. Während der ersten Covid-Welle schien man sich einig zu sein, dass diese Menschen als so wichtige Stützen der Gesellschaft besser entlöhnt werden sollten.

Was konkret die Folgen sind, wenn gut ausgebildete Pflegefachkräfte fehlen, hat das Bundesamt für Statistik bereits ausgewertet anhand von Daten von 135 Schweizer Spitälern. Das Resultat: Patient:innen bleiben länger im Spital, was zu jährlichen Mehrkosten im Gesundheitswesen von bis zu 357 Millionen Franken führen kann. Und die Sterberate steigt um etwa 243 Tote pro Jahr.

«Eigentlich», sagt Lilian Capaul, «ist es nicht unsere Aufgabe, für den Job zu kämpfen. Wir können letztlich einfach aussteigen. Nicht wir sind es, die dringend auf diesen Beruf angewiesen sind, sondern die Gesellschaft.»

*Name geändert

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