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Kosovo-Schweizer investieren in ihre alte Heimat

Leben

Kosovo-Schweizer investieren in ihre alte Heimat

  • Text: Barbara Achermann; Fotos: Elisabeth Real

Kosovo gehört zu den ärmsten Ländern Europas. Mehr als die Hälfte der Jungen will auswandern, das beliebteste Ziel ist die Schweiz. Doch es gibt auch solche, die den umgekehrten Weg einschlagen. Und in der alten Heimat ihre Träume verwirklichen.

Man erzählt sich, es gebe in Kosovo zweierlei Menschen: die Schatzis und die anderen. Die Schatzis leben in der Schweiz oder in Deutschland, schicken ihren kosovarischen Verwandten jeden Monat 200 Euro, kommen in den Sommerferien mit ihrem geleasten Audi A6 auf Besuch und nennen ihre Liebsten Schatzi – weshalb ihnen der Kosename gleich selber zuteilwurde. Wer hingegen kein Schatzi ist, lebt das ganze Jahr über in Kosovo und träumt davon, eines zu werden. Natürlich ist diese Zweiteilung eine grobe Vereinfachung. Und doch hat sie einen wahren Kern: Laut einer Umfrage der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung will mehr als die Hälfte der 14- bis 29-Jährigen aus Kosovo emigrieren. Das beliebteste Ziel ist die Schweiz.

Drenusha Shala ist ein Schatzi: Flüchtlingslager, Kindheit in Greifensee, kaufmännische Lehre, Anstellung bei der Zurich Versicherung, wo sie an einem Tag so viel verdiente wie manche Verwandte in Kosovo in einem Monat. Sie schickte Geld, verbrachte ihre Ferien in Kosovo. Doch dann entschied sie sich, ihr geregeltes Leben in der Schweiz zu verlassen und in ihre Heimat zurückzukehren, um ein eigenes Unternehmen aufzubauen. «Gegen den Willen meines Vaters», wie sie betont, als wäre sie selber etwas überrascht über ihre Kühnheit. Es ist morgens um fünf nach halb neun, und sie rennt zwei Stockwerke hinauf, reisst eine Glastür auf und wirft ein helles «Guten Morgen» in einen Raum voller junger Menschen. Einige blicken auf und grüssen zurück, doch die meisten sind in ein Telefongespräch vertieft. Drenusha Shala führt in Kosovos Hauptstadt Pristina ein Callcenter mit 270 Angestellten. Sie ist erst 27 Jahre alt, aber bereits Mitinhaberin und CEO von Baruti. Der Firmenname heisst übersetzt Schiesspulver und stösst im kriegsversehrten Kosovo so manchen vor den Kopf. Aber Shala mag es eben zu provozieren. Schon als Jugendliche hat sie demonstrativ vor ihren muslimischen Eltern Schweinefleisch gegessen.

Sie stellt sich jetzt hinter ihre Angestellte Arbnore Basha, die mit akzentfreiem St. Galler Dialekt telefoniert, und nickt ihr aufmunternd zu. «Grüezi Herr Brugger. Nei, i wett Ine nüt verchaufe.» Basha ist in Gossau aufgewachsen und kam mit 14 Jahren zurück nach Pristina. Sie erinnert sich an die abgebrannten Häuser, die vielen Stromausfälle, «drei Stunden hell, drei Stunden dunkel», und an den Frust, wenn sie den Wasserhahn aufdrehte und wieder nichts rauskam. Anfangs vermisste sie ihre Freundinnen und das Velofahren, heute fehlt ihr nur noch das Schweizer Brot. Die Lebensläufe der Angestellten in Shalas Callcenter gleichen sich: Es sind junge Leute, die ihre Schulzeit in Deutschland, Österreich oder der Schweiz verbrachten, ihre Eltern waren Gastarbeiter oder Flüchtlinge. Schätzungen gehen davon aus, dass bereits vor dem Kosovokrieg ein Viertel der Kosovo-Albaner im Ausland lebte. Kaum waren die serbischen Truppen 1999 abgezogen, reisten die meisten zurück, voller Hoffnung auf einen Neuanfang. Heute sind viele ernüchtert: Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit über fünfzig Prozent die höchste in ganz Europa, jeder Vierte lebt von weniger als 1.20 Euro am Tag, und die Wirtschaft wächst kaum.

Unternehmerin Drenusha Shala nutzt das Potenzial, das sich aus diesen Biografien ergibt: In Kosovo leben Tausende junger Menschen, die nahezu perfekt Deutsch sprechen und für wenig Geld arbeiten. Shala bezahlt ihren Angestellten 580 Euro im Monat. Das klingt nach wenig, ist aber verhältnismässig viel. Der Mindestlohn liegt bei 170 Euro. Gemeinsam mit anderen Kosovo-Schweizern, die hier Unternehmen gegründet haben, hilft sie dem kränkelnden Land auf die Beine. Sie schaffen faire Arbeitsplätze, bilden Leute aus und halten sie davon ab, illegal auszuwandern. Basha, die Angestellte aus Gossau, sieht ihre Zukunft nicht in der Schweiz, sondern im Callcenter. Sie ist bereits aufgestiegen und strebt eine leitende Funktion an.

Pristina riecht wie angebranntes Essen und ist vermutlich die hässlichste Hauptstadt Europas, paradoxerweise aber auch ein einladender Ort.

Nach der Arbeit zündet sich Shala eine Marlboro Fine Touch an, eilt über den Mutter-Teresa-Boulevard, die Bahnhofstrasse Pristinas, und dann quer durch die Innenstadt, in der es auffallend viele Läden mit synthetischer Spitzenunterwäsche gibt. Die Häuser sind aus billigen Materialien gebaut, dazwischen stehen planlos schäbige Bürotürme. Ein leichter Wind aus Nordwesten verschiebt die Abfallberge an den Strassenrändern und drückt den giftigen Rauch des nahen Kohlekraftwerks auf die Stadt. Pristina riecht wie angebranntes Essen und ist vermutlich die hässlichste Hauptstadt Europas, paradoxerweise aber auch ein einladender Ort. Die Cafés sind zu jeder Tageszeit voll mit jungen Menschen, Kinder fahren in bunten Plastikautos durch die Fussgängerzone, und Besucher werden auf Händen getragen. 95 Prozent der Kosovaren sind Muslime, und die meisten von ihnen pflegen einen lockeren Umgang mit dem Islam. Nur vereinzelte Frauen tragen Kopftuch, in den Bars wird reichlich Alkohol ausgeschenkt und offenherzig geflirtet. Shala streicht sich das blondierte Haar aus dem Gesicht und biegt auf eine viel befahrene Strasse ein, an der das bekannteste Wahrzeichen Pristinas steht: drei Meter hohe Buchstaben, die das Wort Newborn bilden. Am 17. Februar 2008 wurden sie enthüllt, an dem Tag, als Kosovo von Serbien unabhängig wurde. Selbst wenn von der anfänglichen Euphorie über die neugeborene Nation nicht mehr viel zu spüren ist, so berichten doch viele Kosovaren von einer diffusen Heimatliebe für ihr chaotisches Land. Auch Drenusha Shala sagt, ihre Rückkehr sei ein patriotischer Akt: «Verglichen mit den jungen Leuten hier bin ich sehr privilegiert aufgewachsen. Jetzt will ich ihnen auch eine Chance geben.» Sie hält kurz inne und präzisiert: «Selbstverständlich bin ich nicht Mutter Teresa, ich denke gewinnorientiert.»

Der Kellner bringt ein Glas Weisswein. Shala isst ihr Abendessen fast immer allein. Auf der Türschwelle des Restaurants wechselt sie jeweils den Ring vom Zeig- an den Ringfinger. Für eine Frau gehöre es sich hier nicht, allein auswärts zu essen. «Doch solange mich keiner belästigt, ist mir das egal.» Sie lässt sich nicht einschränken, und es ärgert sie, wenn andere Frauen klein beigeben und sich den patriarchalen Traditionen unterordnen. Shala isst Käse, Rindfleischbällchen, geschnetzeltes Kalbfleisch, taucht Weissbrot in die Joghurtsauce. Dann bestellt sie Raki.

Sie erzählt von ihrer Kindheit in der Schweiz, dass ihre Mutter putzen ging und ihr Vater eine IV-Rente bezog, traumatisiert von den Erlebnissen in Kriegsgefangenschaft. Sie wuchs mit dem Schimpfwort Sozialschmarotzer auf, dem SVP-Plakat «Kosovo-Albaner Nein» und fetten Schlagzeilen über «Balkanraser» – aber auch mit viel Stütz- und Förderunterricht. Rückblickend sieht sie sich nicht als Opfer, sondern als Glückspilz. «Ich habe der Schweiz viel zu verdanken.» Auf Vorurteile reagierte sie mit Fleiss, Biss und Mut. Gerade mal 21 Jahre alt war sie, als sie die Firma Baruti gründete, gemeinsam mit ihren albanischen Freunden Muhamet Veliu und Flamur Shala, die damals an der Hochschule St. Gallen studierten. Sie borgten sich 60 000 Franken Startkapital, bezogen einen Rohbau in Pristina und stellten vier Leute an. «Bei jedem Stromausfall stürzte das System ab, und wir brachen in Panik aus», sagt sie mit dem belustigten Tonfall, in dem Erwachsene über die Missgeschicke ihrer Kinder reden. Inzwischen hat Baruti ein ganzes Zimmer voll mit Generatoren und Notfallbatterien, ausserdem Abos bei drei verschiedenen Internetanbietern – und macht einen Jahresumsatz von knapp zwei Millionen Franken.

Ohne Ausland-Kosovaren wie Drenusha Shala wäre das Land heute noch ärmer, als es sowieso schon ist. Deshalb hat die Regierung vor einigen Jahren für die Schatzis ein eigenes Ressort geschaffen, das Ministerium für Diaspora. Im Büro des Ministers stehen dunkle Möbel und die Landesflagge. «Die Ausland-Kosovaren sind unsere Lebensader», sagt Valon Murati, ein ernsthafter Mann, dessen Stimme rasselt wie ein altes Yugo-Auto. Das Geld der Diaspora sei der Motor der heimischen Wirtschaft, erzählt der Minister, allein die privaten Geldsendungen machen einen Sechstel des Bruttoinlandprodukts aus. Aber das ist nicht neu. Im Gegenteil, die Unterstützung aus dem Ausland gehört schon fast zur DNA von Kosovo, denn sie hat eine lange Tradition: «In den Sechzigerjahren waren es Gastarbeiter, die regelmässig Geld schickten. In den Neunzigern die politischen Flüchtlinge, die hier einen Parallelstaat finanzierten.» Es ist ein dunkles Kapitel der Geschichte, das Murati anspricht. Die serbische Regierung unter Slobodan Milosevic unterdrückte die Kosovo-Albaner und liess sie letztlich nicht einmal mehr eine Schule oder ein Spital betreten. Damals rief ein Schriftsteller mit wilden Haaren und Seidenschal zum gewaltlosen Widerstand gegen die Serben auf. Ibrahim Rugova war der Gandhi von Kosovo, er organisierte im Untergrund einen Parallelstaat für die kosovo-albanische Bevölkerung mit Lehrern, die in privaten Wohnzimmern unterrichteten, und Ärzten, die ihre Patienten heimlich untersuchten. Die Gehälter wurden zu einem grossen Teil von Menschen in der Diaspora finanziert. Aber längst nicht alle Kosovo-Albaner waren damals mit Rugovas sanfter Rebellion einverstanden, und so floss das Geld aus der Schweiz auch zur Rebellenarmee UCK. Es gab Angriffe auf die Serben. Die Rache folgte unmittelbar. 1998 brach der Krieg aus.

Strassenlärm dringt durch das offene Fenster, aber Murati schliesst es nicht, er spricht lauter: «Wir schätzen, dass rund 180 000 Menschen mit kosovarischen Wurzeln in der Schweiz leben. Das entspricht einem Zehntel unserer Bevölkerung.» Um nochmals die Wichtigkeit seines Ministeriums zu unterstreichen, zitiert er weitere Statistiken: «2015 haben die Ausland-Kosovaren 752 Millionen Euro an ihre Verwandten überwiesen, ein knappes Viertel davon kam aus der Schweiz.» Zusätzlich kurbeln sie die Wirtschaft an, indem sie Ferienhäuser bauen lassen oder bei ihren Besuchen die ganze Sippe ins Restaurant einladen. Schatzi-Zeit nennt man die Sommerwochen in Kosovo, wenn über 100 000 Menschen angereist kommen. Das meiste Geld fliesse in den Konsum, investiert werde viel zu wenig, klagt Minister Murati, der sich wünschte, dass mehr Leute ihr Geld in ein Unternehmen steckten. «So wie Drenusha Shala mit ihrem Callcenter», sagt er und lächelt zum ersten Mal. Aber Hand aufs Herz, Valon Murati, schafft die Politik denn auch ein unternehmerfreundliches Umfeld? Der Minister schweigt einige Sekunden, bevor er antwortet: «Wir müssen unsere Leistungen stark verbessern.»

Es ist eine selbstkritische Aussage, und sie erstaunt angesichts der Selbstgefälligkeit, die in der politischen Elite vorherrscht. Im Parlament zünden Abgeordnete Tränengasbomben und halten sich mit Grenzstreitigkeiten auf, anstatt die Wirtschaft zu fördern und das marode Gesundheitssystem zu modernisieren. Die meisten Politiker haben einen miserablen Ruf, man nennt sie abschätzig Dicke Fische. Laut der Organisation Transparency International zählt Kosovo zu den korruptesten Ländern weltweit. Ein Spezialgericht in Den Haag soll in diesem Jahr untersuchen, ob Präsident Hashim Thaci in Organhandel und kriminelle Machenschaften verstrickt gewesen ist.

Die desolate politische Lage hat Bashkim Zejnullahu nicht davon abgehalten zurückzukehren. Der Mann mit der Postur eines Xherdan Shaqiri schreit in gebrochenem Schweizerdeutsch gegen den Lärm einer Maschine an, die Papiersäcke bedruckt. «Ich könnte ihr stundenlang zusehen.» Seine Fabrik steht auf einem schlammigen Hügel in der zersiedelten Landschaft im Südosten von Kosovo. Es ist eine Gegend, die es nie in einen Reisekatalog schaffen wird. Sie riecht nach nasser Erde, die Felder sind von Unkraut überwuchert, und auf den meisten zweisprachigen Ortstafeln wurden die serbischen Namen übersprayt. Trotzdem ist der 41-Jährige vom lieblichen Solothurnerland hierhergezogen. Es war ein spontaner Entscheid, den er im Gotthardtunnel gefällt hatte und bis heute nicht bereut: «In der Schweiz hätte ich mich nie selbstständig machen können. Ich hatte zu wenig Geld und Knowhow», analysiert Zejnullahu, der nach der Handelsschule als Vertreter gearbeitet hat. Kosovo hingegen sei ein Paradies für Unternehmer: «Es gibt hier fast keine Konkurrenz.» Begonnen hat er mit einer kleinen Tankstelle. Heute besitzt er eine Mühle, ein Restaurant, ein auf Strassenbeläge spezialisiertes Labor, er fertigt Pellets und Papiersäcke, schuf 113 Arbeitsplätze, macht fünf Millionen Euro Jahresumsatz und fährt ein teures Schatzi-Auto.

Es ist nicht so, dass man in Kosovo das Geld auf der Strasse findet. Auch wenn sich die Leute in der Nachkriegseuphorie erzählt haben, man könne selbst mit mit Luft gefüllten Flaschen reich werden. Drenusha Shala und Bashkim Zejnullahu arbeiten sieben Tage die Woche. So auch Marjan Ramaj, 51 Jahre alt, ein weiterer Unternehmer, der nicht in der Schweiz bleiben wollte. Ramaj, ein Turm von einem Mann, steht breitbeinig auf der Aussichtsplattform der Mutter-Teresa-Kathedrale, eines pompösen Neubaus, den seine Angestellten verkabelt haben. Man nenne ihn den Mann mit den Röhrchen, sagt er. Ein Ruf, den er der Schweiz zu verdanken habe. Im Luzernischen hat Ramaj als junger Mann gelernt, wie man Elektrokabel sicher verlegt: «In Schutzschläuchen.» Zurück in Kosovo, wurde er wegen seiner aufwendigen Methode zunächst ausgelacht. Doch die Nachfrage nach den zuverlässigen Installationen wurde mit den Jahren immer grösser. Er, der klein angefangen hatte – «mit einer Zange, einem Schraubenzieher und einem Sackmesser» –, besitzt heute ein Elektrotechnikunternehmen mit 53 Angestellten. Als Nächstes will er ein Wasserkraftwerk bauen. «Aber die Bürokratie», er verwirft die Hände.

Er beklagt dieselben Missstände wie Callcenter-Chefin Shala und der umtriebige Zejnullahu. In den Behörden arbeiten teilweise Beamte, die keinen Schulabschluss, dafür aber Beziehungen zu Politikern haben. Auf eine Bewilligung warte man normalerweise mehrere Monate. Die grösste Herausforderung sei es allerdings, gute Arbeitskräfte zu finden. Das Bildungsniveau ist das tiefste in Europa. Ramaj sagt, man solle endlich aufhören, den jungen Leuten Geld zu überweisen. «Wer geht denn für 200 Euro im Monat arbeiten, wenn ihm der Onkel 300 Euro schickt?» Ramaj murmelt, seine Landsleute seien faul und passiv, dennoch sieht er die Dinge mehrheitlich positiv. Er schwärmt von den engen Freundschaften, der Solidarität innerhalb der Familie, der Tropfsteinhöhle bei Gadime, der Altstadt von Prizren, ja selbst die Joghurtsauce aus dem Tetrapack hat es ihm angetan. Kosovo ist sein gelobtes Land, Ramaj will hier nicht mehr weg, nie im Leben.

«Ich fühlte mich schon immer so, als wäre ein Teil von mir deutsch.»

Leutrim Zejnullahu hingegen wünscht sich nichts sehnlicher, als auszuwandern. In drei Stunden beginnt seine Abendschicht in Shalas Callcenter, doch jetzt kocht er süssen Tee in Vushtrri, einem Vorort von Pristina, und drückt seine Mutter, die ihm helfen will, liebevoll zurück aufs Sofa. Er ist 23 Jahre alt, ein zierlicher junger Mann, der optisch gut in eine Boygroup passen würde und der nur zufällig den gleichen Nachnamen trägt wie der Unternehmer aus Solothurn. Leutrim Zejnullahu lebt so wie die meisten Menschen in Kosovo: mit wenig Geld auf engstem Raum. Das Bett teilt er sich mit dem älteren Bruder, die Mutter schläft im Wohnzimmer. Er stellt einen Teller mit Lokum auf den Tisch, einer Spezialität, die schmeckt wie Sirup am Stück, im alten Röhrenfernseher läuft Pro 7. Als Kind habe er vier bis fünf Stunden am Tag Trickfilme geschaut, auf Deutsch mit Untertiteln für Hörbehinderte. Als Jugendlicher hat er vom Teletext abgeschrieben, um seine Fremdsprachenkenntnisse weiter zu vertiefen. «Ich fühlte mich schon immer so, als wäre ein Teil von mir deutsch.» Tatsächlich redet Leutrim Zejnullahu ein nahezu perfektes, wenn auch leicht antiquiertes Hochdeutsch, gespickt von Ausdrücken wie «guten Tag die Dame» oder «lieber Himmel».

Alles, was der junge Mann bewundert, alles, wonach er sich schon immer gesehnt hat, bezieht sich auf den deutschen Kulturraum. So wie er fühlt eine ganze Generation. Sie sind aufgewachsen mit Stefan Raab und «Deutschland sucht den Superstar», fiebern für die Schweizer Fussballnati oder kriegen zu Weihnachten Lindor-Kugeln geschenkt. Vor zwei Jahren ging Leutrim Zejnullahus grösster Wunsch in Erfüllung. Gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder kehrte er seinem Land den Rücken. Sie waren nicht die Einzigen: Im Winter 2014 sind Schätzungen zufolge zwischen 50 000 und 100 000 Kosovaren illegal ausgereist, die meisten in den deutschsprachigen Norden. Für Leutrim Zejnullahu waren die sechs Monate in Österreich und Deutschland die beste Zeit seines Lebens. Er berichtet davon wie von einer Kreuzfahrt. 650 Euro hätten sie den Schleppern für die «perfekt organisierte Reise» bezahlt. Sie seien mit dem Bus nach Belgrad gefahren und von dort weiter an die ungarische Grenze. «Ein Roma hat uns zu Fuss zu einem Bach geführt. Wir mussten nur darüberhüpfen, und schon waren wir im Schengenraum.» Mit dem Zug fuhren sie nach Österreich und landeten schliesslich in der Steiermark im Hotel Semmering, einem rosa Haus zwischen grünen Tannen, das zu einem Flüchtlingsheim umfunktioniert wurde: «Saubere Zimmer, nettes Personal, gutes Essen.» Zeit seines Lebens hatte Leutrim Zejnullahu Kosovo nicht verlassen dürfen, dieses für ihn eintönige Binnenland, das viermal kleiner ist als die Schweiz. Nun sah er endlich die Welt, lernte Menschen aus Syrien, Afghanistan und Eritrea kennen, arbeitete in verschiedenen Flüchtlingshei- men als Kindergärtner und Deutschlehrer, tanzte am Fasching zu Michael Jackson und stach den anderen Flüchtlingen Piercings – bis er wieder ausgeschafft und mit einem dreijährigen Einreiseverbot belegt wurde. Es sei eine Mischung aus Abenteuerlust, Perspektivlosigkeit und falschen Versprechungen, die seine Leute ins Ausland zögen, hatte Minister Valon Murati drei Tage zuvor analysiert. Könnten sie ohne Visum ausreisen, würden sie sich kurz im Ausland umschauen, sie würden feststellen, dass man auch andernorts hart für sein Geld arbeiten muss, und wieder zurückkehren. Die Tatsache, dass sich die Kosovaren nicht frei in Europa bewegen dürfen, ist eines der meistdiskutierten Themen im Land. Ausreisen kann nur, wer jemanden im Ausland hat, der finanziell für einen bürgt.

«Kosovo ist ein Gefängnis», sagt Fatos Kryezin, der Cousin von Callcenter-Chefin Drenusha Shala. Er fühlt sich ungerecht behandelt, als Europäer zweiter Klasse. In der Person des 22 Jahre alten Kryezin konzentriert sich die ganze Tragik von Kosovo, diese Zweiteilung der Bevölkerung in Schatzis und Nicht-Schatzis, die Perspektivlosigkeit der Jugend und das Trauma des Kriegs. Obwohl er auf der Oberstufe den besten Abschluss seiner Schule gemacht hatte, ist er arbeitslos und wohnt bei seinen Eltern im Dorf Neperbisht, «das heisst übersetzt ‹durch den Schwanz›», er lacht zynisch. Er geht entlang der verlassenen Hauptstrasse, vorbei an leer stehenden Häusern mit goldenen Säulen und verschnörkelten Balustraden – «Ferienhäuser der Schatzis» – und Backsteinbauten ohne Verputz für diejenigen, die im Land geblieben sind. Kryezin war fünf Jahre alt, als serbische Soldaten vor seinen Augen den Vater verprügelten. Ihr Haus ging in Flammen auf, die über hundert Bücher der Familie sind alle verbrannt. Schätzungen zufolge wurden während des Kriegs 13 000 Menschen umgebracht. Weshalb seine Familie überlebt hat, ist ihm bis heute ein Rätsel. Nur eines ist gewiss: Die Opferrolle ist er seither nicht mehr losgeworden.

Als Kind hat Kryezin in den Sommerferien mit seiner Cousine Drenusha Shala zwischen den Ställen Verstecken gespielt. Er erinnert sich, dass sie stets Kleider trug, die genau passten, während seine entweder zu klein oder zu gross waren. Sie sei hier schon länger nicht mehr vorbeigekommen, aber er nehme ihr das nicht übel, sagt er und knetet seine Hände. «Wichtige Leute wie sie haben eben Besseres zu tun.» Sie arbeite hart, schaffe Arbeitsplätze, ja, sie tue wirklich viel für das Land. Aber manchmal, da fragt sich Kryezin, wo sie heute stünden, wäre er in der Schweiz aufgewachsen und sie in Kosovo. Er schlägt den Kragen seiner Jacke hoch, geht über eine Brücke, dann den Bach entlang. Ein Mädchen treibt mit einem Stecken Kühe vor sich her, irgendwo bellt ein Hund, ein anderer stimmt ein. Kryezin hat aufgehört zu reden und folgt scheinbar ziellos dem schmutzigen Rinnsal. Er erreicht eine Wiese, die den Blick auf die mazedonischen Berge freigibt. Das Grenzgebirge scheint von hier aus zum Greifen nah, als wäre es bloss ein Spaziergang auf die andere Seite.

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