Leben
Kommunikationsexpertin Miriam Meckel: Gegen die digitale Versklavung
- Interview: Sven Broder Bild: Claude Stahel
Wer ständig erreichbar ist, versklavt sich selbst. Nur: Wie bleiben wir frei im wuchernden digitalen Dickicht des Büroalltags? Kommunikationsexpertin Miriam Meckel zeigt Strategien auf und hält zu diesem Thema auch einen Vortrag am diesjährigen annabelle Business Talk.
Wer ständig erreichbar ist, versklavt sich selbst. Nur: Wie bleiben wir frei im wuchernden digitalen Dickicht des Büroalltags? Kommunikationsexpertin Miriam Meckel zeigt Strategien auf.
ANNABELLE: Miriam Meckel, wann waren Sie letztmals tanzen?
MIRIAM MECKEL: Am vergangenen Samstag. Warum fragen Sie?
Auf Ihrer Homepage legen Sie mit Ihrer Lebenspartnerin, der Moderatorin Anne Will, im Elfenkostüm eine heisse Sohle aufs Parkett. Der Clip läuft unter der Rubrik Pipifax. Ist Tanzen Pipifax? (Hier der Link zum Tanz)
Im Gegenteil. Ich bin ja Rheinländerin. Und Rheinländer sind die einzigen Menschen auf dieser Welt, die – schmerzfrei und ohne komplett betrunken zu sein – eine Polonaise machen können. Tanzen ist ein grosses Glück.
Ein Glück, das unter Beschuss steht, wie Sie in einem Buch schreiben: «Angegriffen von Moralisten, die sich der Arbeits- und Leistungsmoral mehr verpflichtet fühlen als der Moral eines erfüllten Lebens.»
Das Glück ist heute sogar dem doppelten Angriff ausgesetzt. Erstens sollte es am besten gar nicht da sein, weil es nur vom Arbeiten abhält. Zweitens gibt es selbst beim Glück mittlerweile Konventionen: Es gibt das gesellschaftlich anerkannte Glück. Und es gibt das gesellschaftlich weniger anerkannte Glück, zum Beispiel das Faulenzen.
Sie bezeichnen Handy, E-Mail und Internet als digitale Zeitdiebe und Hausbesetzer, die unser Leben ungefragt erobern. Als Verteidigungsstrategie postulieren Sie «das Glück der Unerreichbarkeit». Wie sieht es denn konkret aus, dieses Glück?
Es klingt paradox: Das Glück der Unerreichbarkeit liegt in der dadurch entstehenden Erreichbarkeit. Wenn ich alles abschalte, bin ich für etwas oder für jemanden wirklich da. Diese Momente sind selten geworden, weil ständig irgendwo etwas klingelt, bimmelt, surrt.
Maschinen sind da mittlerweile ziemlich selbstständig: Kommt ein Mail rein, blinkt der Computer, ist morgen Kehrichtabfuhr, heult das Smartphone auf.
Das Leben ist rasant geworden, Zeit und Raum sind knapp. Wir sind gezwungen, immer mehr parallel zu erledigen. Und das, was auch noch getan werden muss, muss auf sich aufmerksam machen. Das tun diese Geräte: Sie versuchen sich in einen Moment unserer Aufmerksamkeitsspanne zu schleichen, mit einem Piepen, das uns sagt: Hey, hier müsstest du mal kurz. Doch wenn ich ständig noch eben mal kurz muss, bin ich dauernd im Alarmzustand. Wer ständig auf Stand-by ist, kommt nie zur Ruhe.
Und ist nicht wirklich effizienter.
Es ist mittlerweile belegt, dass wir Menschen langsamer werden und mehr Fehler machen, wenn wir versuchen, alles gleichzeitig zu machen. Multitasking ist ein Mythos.
Mehr Freizeit haben uns die Maschinen auch nicht geschenkt.
Leider nein. Der technische und finanzielle Aufwand, mit dem wir das Berufs- und Alltagsleben beschleunigen, steht in keinem Verhältnis zu dem, was wir damit tatsächlich erreichen. Wir beschleunigen quasi im Hamsterrad.
Gleichwohl lechzen wir am Computer nach dem blinkenden Brief: endlich ein E-Mail, endlich Ablenkung!
Sich zu konzentrieren, kostet Kraft. Deshalb switchen wir gern zur vermeintlich leichteren Aufgabe. Aber damit betrügen wir uns nur selber. Wer konzentriert arbeitet, nicht abgelenkt wird und sich auch nicht selber ständig ablenkt, kriegt Dinge viel schneller abgearbeitet. Meine beste Zeit ist morgens zwischen sechs und zehn Uhr, also bevor es richtig losgeht am Institut.
Es macht also auch betriebswirtschaftlich Sinn, den Mitarbeitenden Zeiten der Unerreichbarkeit zuzugestehen.
Sagen wir besser: Erreichbarkeitszeiten zu definieren. Das Wort «Unerreichbarkeit» macht viele Chefs nervös (lacht). Die Firma Intel macht das mit dem E-Mail-free-Friday. Die Beratungsgesellschaft Booz Allen Hamilton hat für die ganze Führungsmannschaft ein Blackberry-Verbot am Wochenende herausgegeben.
Auf jeden Reiz hat eine Reaktion zu erfolgen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Ich kontrolliere den Reiz, schalte alle Warnsignale aus am Computer. Oder ich kontrolliere meine Reaktion. Was ist klüger?
Früher habe ich versucht, den Reiz zu kontrollieren. Inzwischen bin ich radikaler: Ich kontrolliere meine Reaktion – und ignoriere einen Grossteil der E-Mails.
Damit ist die Sache meist nicht erledigt.
Im Sommer war ich drei Wochen auf einer Finca. Kein Internet, kein Mail, nichts. Zurück im Büro, meldete der Abwesenheitsassistent: Sie haben 3846 E-Mails erhalten. Ich dachte: Gehts noch! Und schob alle in den Papierkorb.
Was passierte?
Gerade mal drei Menschen meldeten sich nochmals. Alles andere hatte sich entweder zeitlich erledigt oder war offensichtlich nicht wichtig.
Sie telefonieren auch nicht mehr, oder?
Nur noch selten. Das Telefon ist ein fieser Eindringling. Ein Anruf platzt fast immer in eine Situation, in der man gerade mit was anderem beschäftigt ist – und gern ungestört gewesen wäre. Aber das darf man dann so nicht sagen, also lügt man: Sorry, der Akku war gerade leer.
Just zwei Jahre nach Ihrem Buch «Das Glück der Unerreichbarkeit» erlitten Sie ein Burnout. In einem Interview erklärten Sie diesen Widerspruch später mit einem «blinden Fleck». Was meinten Sie damit?
Der Begriff stammt aus der Kommunikationstheorie: Wenn ich die Welt beobachte, kann ich mich nicht gleichzeitig in der Welt beobachten. Ist doch verrückt: Ich habe im Buch alles toll analysiert, aber die eigenen Warnzeichen habe ich übersehen – oder ich wollte sie nicht wahrhaben. Allerdings hatte ich damals auch einige anstrengende Jobs hinter mir.
Zudem starb Ihre Mutter, kurz nachdem Sie Ihre Stelle als Professorin in St. Gallen angetreten hatten.
Ja. Ich flog fast täglich nach Deutschland und zurück. Das alles halten Sie auf Dauer nicht aus. Irgendwann macht es: buff!
Sie postulieren das Recht auf Musse. Das steht im Gegensatz zu einer anderen Forderung der Zeit: An die Arbeit, Alte Welt! Vor den Toren stehen die Chinesen, die Inder …
Aber ist die Lebensform und Kultur, die ökonomisch das höchste Wachstum produziert, auch die, an der wir uns orientieren wollen? Es geht auch anders: Menschen, die sich ausruhen und vertieft einem Gedanken nachgehen können, sind kreativer. Google etwa, eines der weltweit erfolgreichsten Unternehmen, gestattet den Mitarbeitern, zwanzig Prozent der persönlichen Wochenarbeitszeit für eigene Projekte einzusetzen.
Gleichwohl sind Sie kein Fan der viel zitierten Work-Life-Balance. Warum?
Mir ist das Modell zu mechanisch: Wir haben da zwei Blöcke, die stellen wir auf eine Waage, und alles muss schön ausgeglichen sein. Es gibt aber auch Arbeit, die Spass macht. Zudem nutzen viele Menschen die angebliche Life-Zeit nur, um daraus Kraft zu schöpfen für das Wesentliche: die Arbeit. Von Work-Life-Balance kann da nicht die Rede sein. Die Arbeit ist zum Leben da – nicht umgekehrt.
Mit Anne Will pflegen Sie seit Jahren eine Fernbeziehung. Ein Grossteil Ihrer Kommunikation dürfte sich um die eher unsinnliche, weil rein organisatorische Frage drehen: Wann können wir uns sehen?
Stimmt. Und das hat eine Zeit lang auch nicht gut geklappt. Heute planen wir ein halbes Jahr im Voraus – und blocken unsere gemeinsamen Zeiten frei. Gnadenlos.
Sie sagten mal, würde das Leben ewig dauern, würden die Menschen in eine tiefe Lethargie verfallen. Ist das Ihr Antrieb, das Wissen, dass Sie endlich sind?
Das mag mitschwingen, aber nicht in der Form, dass ich jetzt dieses oder jenes erreicht haben muss im Leben. Lustig ist ja, dass ich das, was ich wirklich mit Leidenschaft beruflich machen wollte, nicht hingekriegt habe. Als Korrespondentin nach China oder Hongkong zu gehen. Hat leider nicht geklappt.
Sie studierten Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Sinologie, Politikwissenschaft und Jura. Sie waren die jüngste Professorin Deutschlands, Fernsehmoderatorin, Staatssekretärin in Nordrhein-Westfalen. Heute sind Sie Professorin an der Uni St. Gallen. Wenn ich mir dazu die Liste Ihrer Publikationen anschaue, frage ich mich: Du meine Güte, was habe ich Zeit verplempert im Leben …
Ach was.
Als ich mit 27 Vater wurde, bekam ich oft zu hören: Na dann, tschüss Karriere!
Das meinte ich am Anfang mit: Auch das Glück ist konformistisch geworden. Ich weiss ja nicht, ob Ihr Kind geplant war oder nicht, geht mich auch nichts an, aber …
… Sie wollen fragen, ob mich die Kinder glücklich machen. Die Antwort ist: Ja!
Sehen Sie! Also warum hätten Sie das aufsparen sollen. Das ist doch Irrsinn! Was, wenn Sie mit 45 Jahren Kinder haben wollten, aber mit 40 tödlich verunfallen?
Und doch, Ihre Karriere beeindruckt.
Wenn man am Ende seiner Zeit zurückblickt, fragt man sich nicht: Wie viele tolle Artikel habe ich publiziert? Sondern: War ich glücklich, und in welchen Momenten habe ich das wirklich gespürt? An den Abend mit Anne zum Beispiel, als dieser ulkige Elfentanz entstand, erinnere ich mich, als wäre er gestern gewesen.
Sie haben einen guten Job in St. Gallen.
Den hätte ich vielleicht auch mit der Hälfte meiner Publikationen bekommen. Die andere Hälfte habe ich geglaubt, machen zu müssen.
Warum?
Die ist zu jung, die ist eine Frau – irgendwas ist doch immer falsch, wenn man wie ich als junge Frau Karriere macht. Mich haben all diese Vorurteile angestachelt. Aber will man alles richtig machen, alles hinkriegen, kann einen das schon irgendwann überfordern. Sieht man sich nur noch als Funktion – hier Problem, da Problemlösung –, dann gibts eben nichts Zweckfreies mehr
im Leben.
Dann ist kein Platz mehr für Pipifax.
Genau, aber im Leben muss immer Zeit sein für Pipifax.
Miriam Meckel: Gegen die digitale Versklavung
Miriam Meckel ist Professorin für Corporate Communication, Direktorin am Institut für Medien und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen sowie Faculty Associate am Berkman Center der Harvard University und Beraterin für strategische Kommunikation. Ihre Bücher «Das Glück der Unerreichbarkeit» und «Brief an mein Leben», in dem sie offen über ihr Burnout schrieb, waren Bestseller. 2011 ist ihr jüngstes Buch «Next» erschienen: die düstere Vision einer Zukunft, in der das menschliche Verhalten vollständig berechenbar ist und sich das Individuum in der digitalen Welt auflöst.