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Kommentar zu geschlechtsspezifischer Gewalt: Ich bin eine Drecksschlampe, weil ich existiere

Zeitgeist

Kommentar zu geschlechtsspezifischer Gewalt: Ich bin eine Drecksschlampe, weil ich existiere

Dass Frauen oft nicht einmal in Ruhe aufs Tram warten oder die Strasse überqueren können, ohne von Männern belästigt oder bedrängt zu werden, macht unsere Autorin Vanja Kadic wütend. Ein Kommentar zu geschlechtsspezifischer Gewalt im öffentlichen Raum.

Ich hatte noch nicht einmal einen Kaffee getrunken, als ich neulich auf meinem Arbeitsweg von einem fremden Mann beschimpft wurde. An der Haltestelle wartete ich auf mein Tram und scrollte durch meinen Instagram-Feed, als besagter Herr um die 50 sich deutlich zu nahe vor mich stellte und mit mir meine «Handysucht», wie er es nannte, diskutieren wollte.

Ich ignorierte ihn und schaute weiter auf mein Telefon. Er äffte mich für die Nutzung des Handys lauthals nach – und setzte, wieder viel zu nah vor mir, erneut zum Monolog an. Nachdem ich ihm laut sagte, dass ich nicht mit ihm sprechen wolle und er mich bitte in Ruhe lassen möge, lehnte er sich noch näher zu mir und beschimpfte mich als «Drecksschlampe».

Zwei Wochen später war ich eine «Fotze» und «fett»

Zwei Wochen später passierte mir eine ähnliche Situation. Am HB in Zürich rammte mich ein Mann dermassen mit seiner Schulter, dass er mich dabei fast umhaute – und zwar mit voller Absicht. Dies, um mich danach unter anderem als «Fotze» oder, der Klassiker, als «fett» zu beschimpfen, die «halt aufpassen» müsse. Erschrocken, zitternd und schäumend vor Wut ging ich weiter und musste mich zusammenreissen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Sexualisierte Übergriffe wie Catcalling oder blöde Anmachen auf dem nächtlichen Nachhauseweg bin ich mir im öffentlichen Raum, wie wohl fast alle Frauen, gewohnt. Aber diese Angriffe am helllichten Tag von diesen zwei aggressiven Männern erschütterten mein Vertrauen in eine gewisse Sicherheit, die ich bislang auf Zürichs Strassen hatte.

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«Seit ich angefangen habe, mir meinen Raum nicht wegnehmen zu lassen, kassiere ich überhaupt erst solche Anfeindungen von Männern»

LGBTQIA+-Personen und POC dürften, angesichts der Angriffe, die sie im öffentlichen Raum tagtäglich so erleben, nun nur müde lächeln. Dass andere Menschen noch viel häufiger und schlimmer angegriffen werden, ist mir bewusst. Gleichzeitig erfüllten mich diese beiden Erfahrungen mit unglaublich grosser Wut. Auf diese beiden Männer. Und auf das System, in dem wir leben. Vor allem aber brachten mich diese Situationen ins Grübeln – denn sie sind Beispiele für ein massives strukturelles Problem.

Mikroaggressionen im Alltag

Dieses zeigt sich schon mit Mikroaggressionen im Alltag: Viele Männer nehmen extrem viel Raum ein, und mehr als notwendig. Mit Manspreading im ÖV zum Beispiel. Oder indem es beim Entgegenlaufen auf der Strasse nicht sie sind, die ausweichen. Indem sie laut sind. Oder uns sexistische oder abwertende Sprüche hinterherrufen.

Es ist schon lustig: Vor ein paar Monaten habe ich angefangen, auf solche Situationen zu achten. Und meinen Raum zu verteidigen. Drückt ein Typ im Bus sein Bein gegen meins, drücke ich nun meist zurück. Rast ein Mann auf dem Trottoir auf gerader Linie auf mich zu, weiche ich nicht mehr automatisch wie eine ängstliche Maus aus. Seit ich angefangen habe, mir meinen Raum nicht mehr wegnehmen zu lassen, kassiere ich gefühlt aber auch überhaupt erst solche Anfeindungen von Männern. Offenbar ist auf dem Trottoir oder im Bus nicht genug Platz für uns alle da.

Wäre mir das als weisser Cis-Hetero Mann passiert?

Ich frage mich: Wie kann es sein, dass man als Frau* nicht in Ruhe aufs Tram warten oder am Bahnhof zum Gleis gehen kann, ohne übel beschimpft zu werden? Man kann jetzt behaupten, dass das irgendwelche beliebige Arschlöcher waren, die es halt manchmal so gibt. Nur frage ich mich, ob mir diese Situationen so passiert wären, wenn ich ein weisser Cis-Hetero Mann wäre. Und bin überzeugt davon, dass dem nicht so wäre. So tippten auch die fünf, sechs Männer, die neben mir an der Tramstation standen, genau wie ich, auf ihren Smartphones herum. Nur wurde, im Gegensatz zu mir, keiner dieser Typen für seinen Handykonsum beschimpft oder bedrängt. (Und nein, gesagt oder geholfen hat in diesem Moment übrigens keiner von ihnen.)

Es ist scheinbar völlig normal, dass mir am HB ein fremder Mann «Fotze» hinterherruft und sich niemand umdreht. Das finde ich krass. Spreche ich mit FLINTA über solche Situationen, reagieren sie mit Verständnis, mit Wut, können die Hilflosigkeit oder Angst, die man in solchen Momenten empfindet, nachfühlen und erzählen oft von eigenen Erfahrungen. So war ich überrascht von den erschreckend vielen Nachrichten, die ich von Frauen und/oder queeren Personen erhielt, die Ähnliches erlebt haben, nachdem ich meine Erfahrung von der Tramhaltestelle bei Instagram teilte.

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«Ich bin unfassbar müde. Ich habe keine Geduld mehr, zu beschwichtigen, dass natürlich nicht alle Männer gemeint sind, zu erklären, zu sensibilisieren, zu bitten»

Von Männern selbst ernte ich bei solchen Themen übrigens oft nur ein Achselzucken oder Desinteresse. Meistens kommt als Allererstes der Vorwurf, dass wir Frauen aufhören sollen, alle Männer zu «verallgemeinern» und, im Sinne von #NotAllMen, in einen Topf zu schmeissen. Ich bin unfassbar müde. Ich habe keine Geduld mehr, zu beschwichtigen, dass natürlich nicht alle Männer gemeint sind, zu erklären, zu sensibilisieren, zu bitten – um echte Solidarität, um Hilfe in solchen Situationen, um den Willen, unser frauenverachtendes System aktiv zu ändern. Dabei sind wir darauf angewiesen, denn alleine schaffen wir es nicht.

Es ist traurige Realität, dass Frauen und Mädchen tagtäglich angegriffen, belästigt und bedrängt werden und übergriffiges Verhalten erleben. Und im schlimmsten Fall aufgrund ihres Geschlechts sterben. Bei Tiktok wird in diesem Zusammenhang aktuell ein Fall diskutiert, der sich vor wenigen Monaten in Torontos ÖVs ereignete: Ende Juni wurde die 28-jährige Nyima Dolma auf ihrem Arbeitsweg von einem Mann im Bus angezündet und verstarb an ihren Verletzungen. Man gehe von einem Hassverbrechen aus, schreibt «The Guardian».

Frauen sind regelmässigen Belästigungen ausgesetzt

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) veröffentlichte im März 2022 die Kurzstudie «Frauen im öffentlichen Raum: Gleichberechtigte und sichere Nutzung des öffentlichen Raums». Darin wird festgehalten, dass die Nutzung des öffentlichen Raums in der Praxis mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden sei, wie verschiedene Untersuchungen zeigen: Gemäss einer ETH-Jahresstudie von 2018 zur Sicherheit würden sich «Männer im öffentlichen Raum überdurchschnittlich und signifikant sicherer als Frauen» fühlen (Männer: 88%, Frauen: 77%).

In einer Umfrage der Stadt Lausanne gaben 72 Prozent der befragten Frauen zwischen 16 und 25 Jahren an, innerhalb von zwölf Monaten zumindest einmal auf der Strasse belästigt worden zu sein. 32 Prozent der belästigten Frauen gaben in der Umfrage an, Männer hätten sie gegen ihren Willen berührt, und 42 Prozent berichteten, Männer seien ihnen gefolgt. Auch andere Umfragen ergeben ein ähnliches Resultat: Frauen sind regelmässigen und zahlreichen Belästigungen ausgesetzt und oft finden diese im öffentlichen Raum statt. Gemäss einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstituts GFS Bern wurde jede zweite Frau bereits in der Öffentlichkeit bedrängt.

Frauen sind massiv häufiger von sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum betroffen als Männer. Spannend: Was die nicht sexualisierte Gewalt angeht, sind Männer häufiger Opfer als Frauen – allerdings seien vor allem junge Frauen inzwischen immer öfter auch mit solcher Gewalt konfrontiert. So nahmen die Fälle von Gewalt im öffentlichen Raum gegen Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren gemäss einer Statistik der SUVA zwischen 1995 und 2014 um 181 Prozent (!) zu.

Unsere Gesellschaft erlaubt es, Frauen zu hassen

Bei dieser geschlechtsspezifischen Gewalt handelt es sich um einen Ausdruck der ungleichen Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern: Wir sprechen nicht von einzelnen Personen, die aus Impuls handeln und sich übergriffig verhalten, sondern von Angriffen, die stattfinden können, weil unsere Gesellschaft es erlaubt, Frauen zu hassen.

Wir leben in einer Zeit, in der ein offen frauenhassender Social-Media-Star wie Andrew Tate mit Aussagen wie «Frauen sind das Eigentum von Männern» Millionen von Jungs und Männern beeinflusst. Seine Reichweite ist immens: Tate (4,6 Mio. Insta-Follower) wurde im Juli mehr gegoogelt als Kim Kardashian und Donald Trump zusammen. Diese Popularität macht mir Angst.

Keine Menschen, sondern Objekte

Es fühlt sich an, als wären wir für diese Männer keine Menschen, sondern Objekte, an denen man sich mal eben kurz auf offener Strasse abreagieren kann. Einfach, weil wir existieren. Solange solche Angriffe passieren, solange wir in einem dermassen frauenverachtenden Klima leben, muss sich kein Mann über Kritik wundern. Ich wünsche mir, dass diese Diskussion nicht nur von den Betroffenen geführt wird, sondern dass alle Männer aktiv mitmachen und sich einsetzen – indem sie zum Beispiel mit ihren Freund:innen darüber sprechen, Verantwortung übernehmen und in solchen Situationen eingreifen.

Man wirft heute jungen Frauen gerne vor, überempfindlich und wahnsinnig fordernd zu sein. Dass sich ihr Feminismus nur um vermeintlich unnötige Diskussionen zu Themen wie Gendersternchen dreht und sie sich vor allem darauf fokussieren, es in die Teppichetage eines Konzerns zu schaffen. Dabei ist das, was wir wollen, einfach das Minimum. Es wäre beispielsweise schon mal cool, die Unversehrtheit eines Mannes zu haben, wenn es darum geht, unbehelligt zur Arbeit zu fahren, aufs Tram zu warten, die Strasse zu überqueren, nach dem Barbesuch nach Hause zu laufen – schlicht: in Ruhe zu existieren.

Du willst mit jemandem sprechen? Informationen und Hilfsangebote findest du hier:

Opferhilfe Schweiz

143 – Die Dargebotene Hand

BIF – Beratungsstelle für Frauen

Frauenhäuser in der Schweiz

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Franziska

Ich musste beim Lesen des Artikels heulen, da er so viele schlechte Erinnerungen geweckt hat. Als Grauhaarige und dadurch unsichtbar gewordene Frau, passieren mir solche Situationen heute selten. Aber Angst, Ohnmacht und Wut waren in jungen Jahren ständige Begleiterinnen, wenn ich mich im öffentlichen Raum bewegt habe. Dass die Vorfälle neuerdings bei helllichtem Tag passieren, zeigt eine dramatische Entwicklung auf. Und Männer wollen und können das offensichtlich nicht glauben.

Gast

Nachdem der Feminismus jahrelang auf die 95% anständigen Männer eingeprügelt hat („killallmen“ etc), verstehe ich dass diese Männer keinen Bock mehr haben sich mit den Feministinnen und ihren Anliegen zu solidarisieren. Feministinnen haben Männern mit ihren Benachteiligungen (Zugang zu Bildung, Rentenalter, Suizide, Anlaufstellen für gewaltbetroffene Männer etc) seit jeher deutlich die kalte Schulter gezeigt. So kämpft halt jetzt jeder alleine. Seis so.