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Kommentar: Wie sollen Betroffene über Rassismus sprechen?

Zeitgeist

Kommentar: Wie sollen Betroffene über Rassismus sprechen?

Sachlich, emotional, distanziert oder doch persönlich? Unsere Solidarität darf nicht davon abhängen, ob uns gefällt, wie sich betroffene Menschen über Rassismus äussern, schreibt Alice Hasters.

Diskussionen um strukturelle Diskriminierung sind nicht einfach. Es ist ein komplexes und emotionales Thema. Wir stecken nämlich alle mit drin – als Privilegierte oder/und Diskriminierte. Doch auch wenn es noch eine ganze Menge mehr zu sagen, zu grübeln und zu lernen gibt, breitet sich der Widerstand dagegen immer mehr aus. Wo sich anfangs noch vorwiegend weisse, ältere, wohlhabende Männer lauthals gegen diese Diskurse wehrten, schmeissen immer mehr Menschen das Handtuch, die sich vor nicht allzu langer Zeit noch solidarisch zeigten.

Mir kommt vor, als wäre 2022 das Jahr, in dem vermehrt weisse Frauen und einige Women of Color öffentlich sagen, dass sie keinen Bock mehr haben, woke, politisch korrekt oder links zu sein. Ihnen sei das alles zu anstrengend. Schuld daran seien allerdings nicht etwa die stahlharten patriarchalen, rassistischen, trans-, behinderten- und queerfeindlichen Strukturen – sondern die Betroffenen und wie sie über ihre Diskriminierung sprechen würden. Der Vorwurf an sie: Ihnen ginge es um den Selbstzweck und nicht um gesellschaftlichen Fortschritt.

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«Wenn ich mit einem Text über Rassismus beauftragt werde, bekomme ich mindestens eine von zwei Anweisungen: Nicht zu kompliziert und ohne erhobenen Zeigefinger, bitte»

Jedes Mal, wenn ich solche Aussagen lese oder höre, frage ich mich persönlich: Wie können, sollten und dürfen Menschen über Rassismus sprechen? Vor allem Schwarze Frauen? Denn sie werden oft als diejenigen benannt, die über Rassismus sprechen. Darin steckt eine problematische Verallgemeinerung, die Schwarze weibliche Stimmen homogenisiert und andere Stimmen ignoriert.

Nervosität liegt in der Luft

Seit einigen Jahren schreibe ich über Rassismus. Wenn ich mit einem Text beauftragt werde, bekomme ich seitens der Redaktion meistens mindestens eine von zwei Anweisungen: Nicht zu kompliziert und ohne erhobenen Zeigefinger, bitte. Denn auch wenn das Thema viele Menschen zu interessieren scheint, bleibt nach wie vor die Angst, dass eine Unterhaltung darüber Leser:innen schnell abschrecken würde, sie könnten das Abo kündigen.

Eine gewisse Nervosität liegt in der Luft – vor allem, wenn nicht-weisse Menschen sprechen. Was also tun, wenn man möchte, dass sich Menschen wirklich mit der Sache auseinandersetzen? Versuchen das Thema so anschaulich und interessant wie möglich zu machen. Wie macht man das? Durch konkrete Beispiele. Denn jede:r Journalist:in weiss: Sachliche Inhalte bleiben eher hängen, wenn sie mit einer emotionalen Geschichte einhergehen. Und wer niemanden in den nächsten Shitstorm schicken möchte, erzählt lieber von sich als von anderen.

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«Der Vorwurf steht im Raum, Anekdoten würden zu einem strukturellen Problem aufgeblasen werden – wenn doch eigentlich Menschen versuchen, dadurch ein strukturelles Problem verständlicher zu machen»

Dieser Ansatz erwies sich lange als erfolgreich. Die Menschen hörten zu. Doch was passierte dann? Eine ziemliche Verdrehung. Wo es noch vor kurzem noch hiess: Das Thema Rassismus sei zu kompliziert, bitte einfacherer und zugänglicher, kommen jetzt Stimmen, die sagen: Das ist zu emotional, zu banal.

Anekdoten dienen nicht der Beweisführung

Der Vorwurf steht im Raum, Anekdoten würden zu einem strukturellen Problem aufgeblasen werden – wenn doch eigentlich Menschen versuchen, ein strukturelles Problem durch Anekdoten verständlicher zu machen. Denn es handelt sich dabei um Beispiele und nicht um die Beweisführung dafür, dass Rassismus existiert. Denn das sollte klar sein.

Berichtet man distanziert über das Thema, scheint es auch nicht zu funktionieren: Äussere ich mich beispielsweise zu Polizeigewalt, kommt die Nachfrage: Haben Sie schon einmal negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht? Wenn ich verneine, wird das als ein Beweis gewertet, dass das Problem nicht existieren würde – unabhängig davon, wie viele Statistiken ich vorher zitiert habe. (Von denen es übrigens nicht so viele gibt, weil die Forschung zu Rassismus gerne blockiert wird – Grüsse gehen raus an Horst Seehofer.)

Unterschiedliche Rollen und antirassistische Ansätze

Wenn wir immer noch darüber diskutieren, ob es sich bei Rassismus um ein echtes Problem handelt, oder um ein Ausgedachtes, was nur dem Bücherverkauf dienen soll – dann fange ich auch an daran zu zweifeln, was das alles bringen soll.

Wenn wir ganzen Gruppen, ganzen Kämpfen sofort die Solidarität und das Interesse entziehen, weil uns nicht gefällt, was eine Person in einem Interview gesagt hat – dann haben wir nicht verstanden, worum es eigentlich geht. Darum, Strukturen aufzubrechen, die dafür verantwortlich sind, dass von Diskriminierung betroffene Personen nicht die gleichen Chancen bekommen. Darum, dass Diskriminierung Menschenleben kostet und das nicht hinnehmbar ist.

«Keine:r der Betroffenen muss sich dafür entschuldigen, wütend, witzig, traurig, emotional geladen oder komplett abgebrüht über Rassismus zu sprechen»

Meines Erachtens sind die haarsträubende Inkompetenz und die mangelnde Diversität in Redaktionen für den frustrierenden Stand des Rassismus-Diskurs zum grossen Teil verantwortlich. Journalist:innen unterscheiden oft nicht, wer Expert:in ist, wer Betroffene, wer beides ist. Wer Aktivist:in ist, mit konkreten Forderungen; wer Pädagog:in, mit Interesse für Erziehung und Aufklärung; wer Akademiker:in, wer Autor:in, wer Künstler:in. Und dass zusätzlich zu diesen Rollen auch noch unterschiedliche antirassistische Ansätze und Schwerpunkte kommen.

Ein Spektrum von Perspektiven

Mir ist bewusst, dass es in einigen Redaktionen viele gute Journalist:innen gibt, die gerne etwas ändern würden. Sie wissen jedoch noch besser als ich, wie zermürbend der Apparat ist, in dem sie sich befinden. Viele Kolleg:innen scheinen immer noch zu glauben, dass es bei Rassismus reichen würde, auf Twitter zu recherchieren, die ersten drei Google-Treffer anzuklicken und zusätzlich noch jemanden im Sinne der «Ausgewogenheit» zu befragen, der sagt, Rassismus sei ein Hirngespinst.

Es ist die Aufgabe von Journalist:innen, den öffentlichen Diskurs einzuordnen und zu gestalten. Den richtigen Personen die richtigen Fragen zu stellen und ein Spektrum von Perspektiven abzubilden. Keine:r der Betroffenen muss sich dafür entschuldigen, wütend, witzig, traurig, emotional geladen oder komplett abgebrüht über Rassismus zu sprechen.

Wie dürfen betroffene Menschen über Rassismus sprechen? Wie auch immer sie wollen. Solidarität sollte immer gegeben sein.

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Gülay

Wunderschön wieder auf den Punkt gebracht m. Schön, dass es dich gibt ❤️