Bruno Ziauddin pilgerte zum Appartement seines Idols.
Im Winter des Jahres 1989 geriet mein Leben vorübergehend aus den Fugen. Ich studierte damals in London Geschichte und Politik. Als integrationswilliger junger Ausländer passte ich mich den Sitten und Gebräuchen der englischen Kommilitonen an. Das heisst, ich ging jeden Abend ins Pub und trank lauwarmes Bier, bis die Sperrstunde schlug (11 pm).
Dann schenkte mir meine beste Freundin ein Buch. Ein Buch mit 704 Seiten. «Fegefeuer der Eitelkeiten» des amerikanischen Journalisten und Schriftstellers Tom Wolfe. Der Roman porträtiert das New York der Achtzigerjahre unter besonderer Berücksichtigung gieriger Börsenhändler und wurde mit Tom Hanks und Melanie Griffith verfilmt. Der Film ist Schrott (fünf Nominationen für die Goldene Himbeere), und es ehrt den Regisseur, dass er das später selber zugegeben hat. Das Buch ist grandios und einer der Gründe, wieso ich zu schreiben anfing. Fortan mussten meine englischen Freunde ohne mich ins Pub. Ich blieb in meinem WG-Zimmer, legte mich auf meine 90-Zentimeter-Matratze und las. Als ich mit den 704 Seiten durch war, fing ich von vorne an.
25 Jahre später an einem windigen Apriltag. Ich stehe vor einem Art-déco-Gebäude zwischen Central Park und Madison Avenue und schaue zum 14. Stock hoch. Dort befindet sich das Appartement von Tom Wolfe. Wobei ich nicht sicher bin, ob «Appartement» die korrekte Bezeichnung ist für den 12-Zimmer-Palast an einer der teuersten Strassen Manhattans, den er sich dank Millionen verkaufter Bücher leisten konnte. Für alle, die verdrängt haben, was «teuer» im Zusammenhang mit New Yorker Immobilien bedeutet: Derzeit ist in einem Luxusblock, in dem der Popmusiker Sting ein Eigenheim besitzt, eine 11-Zimmer-Wohnung frei. Die Miete beträgt 125 000 Dollar. Im Monat.
Ich stehe also wie ein Groupie vor Tom Wolfes Wohnhaus und blicke auffällig unauffällig nach oben, sodass mich der livrierte Doorman mit den Ausmassen eines Bodyguards auffällig unauffällig im Auge behält. Eine Schar Kinder hopst an mir vorbei zur Steinerschule, die sich gleich nebenan befindet. Ausgerechnet! Wolfes unsentimentaler Blick auf die Abgründe menschlicher (zumeist: männlicher) Geltungssucht und Selbstüberschätzung passt maximal schlecht zu Anthroposophie und Eurythmie.
Was erhoffe ich mir von diesem Haus-Besuch? Dasselbe wie alle Groupies: dass der von mir Verehrte just in dem Moment, da ich vor seinem Heim herumlungere, vor die Tür tritt. Und wie alle Groupies habe ich einen coolen Satz parat, dank dem der Verehrte stutzt, stehen bleibt und den Verehrer auf einen Drink einlädt: «Mister Wolfe, Sie schulden mir einen Gefallen.» – Tom Wolfe (runzelt die Stirn): «Wieso?» – «Sie sind schuld, dass ich Journalist geworden bin.» – Wolfe (lächelt): «Der Beruf ist tatsächlich kein Zuckerschlecken mehr. Überall werden Zeitungen geschlossen und Journalisten entlassen! Zum Glück bin ich 83.» – «Aber Sie schreiben wie 33.» – Wolfe: «Sie sind zu gütig. Gütiger als meine Schriftstellerkollegen John Irving und, Gott hab ihn selig, John Updike, die meine Bücher nie ausstehen konnten.» – «Deren Verrisse treffen mich, als hätten sie mir gegolten.» – Wolfe: «Hier draussen ist es windig. Lassen Sie uns diese erbauliche Konversation bei mir oben weiterführen. Übrigens: You can call me Tom.»
Die Sirene eines Feuerwehrwagens reisst mich aus meinen Tagträumen. Der Bodyguard-Doorman blickt finster zu mir herüber. Ich winke ein Taxi heran, fahre heim und widme mich meiner Kolumne.
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