Kolumne aus New York: Sesam oder Mohn?
- Text: Bruno Ziauddin; Illustration: Antony Hare
annabelle-Kolumnist Bruno Ziauddin ist in die Schweiz zurück gekehrt. New York hat bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Eines Morgens Anfang Mai zwitscherten die Vögel auf der Feuerleiter irgendwie anders. Nach einem brutalen Winter hatte nun der endlos lange Sommer begonnen. (In der Schweiz ist sogar das Wetter ein Kompromiss.) Mein Sohn kletterte vergnügt in den Kinderwagen, um sich den Broadway hinunter zur Krippe stossen zu lassen. Bei der 97. Strasse, wo es selbst die ungeduldigsten New Yorker kaum je bei Rot über die Kreuzung schaffen, tippte mir jemand auf die Schulter. Es war Dan, blendend gelaunt. (Zu Recht blendend gelaunt, wie sich herausstellte.) Lachend und blödelnd schoben wir unsere Kinderwagen zur Krippe, wo Girly meinen Sohn zur Begrüssung abknutschte.
Auf dem Rückweg dachte ich über meine Freundschaft zu Dan nach. Am Vorabend war es definitiv geworden: Sein erster Hollywoodfilm würde zustande kommen und Natalie Portman die Hauptrolle spielen. Warum, fragte ich mich, verabredete sich so einer mit mir zum Bier? An meinen Kontakten zur helvetischen Kleinkunstszene konnte es nicht liegen. Aber vielleicht daran, dass Dan, wie so viele hier, erst vor kurzem nach New York gezogen war und die Stadt bald wieder verlassen würde. Kein in Zement gegossener Bekanntenkreis, dafür Platz für Neues. Und wohl auch daran: «Was machst du beruflich?» ist hier nicht die erste, sondern bestenfalls die 27. Frage, die man stellt. Wie wichtig jemand ist, ist privat nicht so wichtig.
«Bruno!» Schon wieder tippte mir jemand auf die Schulter – Irwin, ein pensionierter Operntenor, schenkte mir ein makelloses Bühnenlächeln. Warum? Einfach so. Hundert Meter später, auf der Höhe des Hauses, in dem George Gershwin gelebt hatte, krächzte eine Stimme: «Was macht dein Roman?» Die schrullige Karen führte ihren adipösen Dackel Gassi. Ich begann zu grinsen, als hätte ich einen Sack Haschguetsli verschluckt: Hatte hier jemand eine versteckte Kamera aufgestellt? Alles inszeniert! In Wirklichkeit gibt es gar keine Stadt, in der die Einwohner so nett zueinander sind!
In der Eingangshalle unseres Wohnhauses fuhr mich der leicht verrückte Doorman an: «Bruno! Ihr dürft nicht fort. Ich besorge euch Jobs und eine Wohnung.» Dann raunte er: «Ich habe Beziehungen zur Uno.» Vor dem Lift blickte ich gedankenverloren auf das Mitteilungsbrett. Inmitten von Verlautbarungen der erbarmungslosen NYC-Bürokratie hing ein selbst gemalter Zettel: «Happy Birthday, dear Sara.» Tränen schossen mir in die Augen. Sara ist eine liebenswerte, surreal grossherzige und einschüchternd kluge Schriftstellerin Ende zwanzig. Sie ist schwer krank. Jemand im Haus – elf Stockwerke, 108 Wohnungen – wollte die Mitbewohner daran erinnern: Hey, Chemotherapie hin oder her – Sara lebt.
In meinem Jahr in New York, das nun zu Ende ist, habe ich mehr Gesten der Menschlichkeit und Zivilität erlebt als in einem halben Zürcher Leben. Grossstädtische Grandezza, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Ein Vater und sein Sohn treten aus dem Bagelshop auf die Strasse. Ein Obdachloser wirft einen sehnsüchtigen Blick auf die Einkaufstasche. Die Situation sofort erfassend, fragt der Vater: «Möchten Sie auch einen?» Obdachloser: «Oh ja, gern!» Vater: «Sesam oder Mohn?»
New York! Atemberaubende Skyline, unübertroffene Pärke, eine konkurrenzlose Dichte an Talent und Ideen (jeder zweite Strassenmusiker wäre in der Schweiz ein Star), die klügste Tageszeitung der Welt, die schönsten Feuerwehrautos, die coolsten Restaurants … Doch das Beste an New York, das sind die New Yorker.
Mit diesem Text endet die Kolumne. Abschiedsgrüsse werden erbeten an: [email protected]