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Kolumne aus New York: Die Sehnsucht nach Provinzialität

Kolumne aus New York: Die Sehnsucht nach Provinzialität

  • Text: Bruno Ziauddin; Illustration: Antony Hare

Bruno Ziauddin über die Sehnsucht der New Yorker Einwohner nach Provinzialität und wie in einer Grossstadt doch jeder jeden kennt.

Vor ein paar Wochen kam meine Frau aufgelöst nachhause. iPhone verloren! Ich fluchte innerlich («diese zerstreuten Akademikerinnen»), liess mir aber nichts anmerken. Stattdessen meldete sich mein innerer Firefighter zum Dienst: allzeit zur Stelle, wenn es brennt. Während sie durch die Wohnung tigerte, wählte ich ihre Nummer. Sogleich nahm ein Unbekannter ab. Ich: «Falls Sie soeben das iPhone meiner Frau gefunden haben, wird sie Ihnen auf immer dankbar sein.» Er: «Es lag im Morningside Park in der Wiese. Mein Sohn spielt hier Baseball.»

Ist das nicht grossartig? In New York ein Handy verloren und keine halbe Stunde später zurückerhalten. Es stellte sich heraus, dass der Mann im selben Gebäude wohnt wie ein Schweizer Bekannter von uns. Was für ein Zufall in einer Stadt mit 8.3 Millionen Einwohnern! Dachte ich damals. Mittlerweile halte ich solche Dinge fast für normal.

In gewisser Weise scheint New York, zumindest Manhattan, wie eine Kleinstadt zu funktionieren. Ein Krippengefährte unseres Sohns stammt aus Rom. Unsere Vermieterin ebenfalls. Klar, die beiden Familien kennen sich. Am Gartenfest einer Unikollegin meiner Frau: Was macht denn unser Nachbar aus dem dritten Stock hier? Oder nehmen wir meinen lieben Bekannten Noam. Ein kluger, gut aussehender Single Anfang vierzig. Allerdings auf der Woody-Allen-Neurotiker-Skala ziemlich weit oben angesiedelt. Seine Ex-Freundin warf ihm zwei Dinge vor: a) dass er nur einen Stuhl besitzt, b) dass er die Pralinen, die er ihr zum Valentinstag geschenkt hatte, gleich selber ass. Am Tag vor seinem jüngsten Date war er bei seinem Onkel zu Besuch. Der Onkel: Aha, du bist morgen mit Soundso zum Dinner verabredet – die Tochter eines Nachbarn, wie sich herausstellte. Das Dinner war übrigens ein Reinfall. Vielleicht hätte Noam seiner Begleiterin nicht erzählen sollen, dass er sich gerne eine Pistole kaufen würde, um ab und zu in einem Schiesskeller herumzuballern.

Dass sich hier bisweilen alle zu kennen scheinen, ist das eine. Die Themen, die die Bewohner der Greatest City on Earth umtreiben, das andere: Alec Baldwin ist mit dem Velo falsch durch eine Einbahnstrasse gefahren! Der Bürgermeister erlaubt Frettchen als Haustiere! Selbst das gibt es in New York: Petitionen gegen den Bau von Hochhäusern. Seit vielen Wochen heiss diskutiert: Soll man die Pferdekutschen im Central Park abschaffen (Tierschutz) oder beibehalten (Tradition)? Auch in unserer Krippe werden einschneidende Innovationen erwogen, wie uns die Leiterin stolz verriet: Vielleicht werde demnächst ein männlicher Praktikant eingestellt! Natürlich keinesfalls zum Windelnwechseln. Wir ersparten ihr den Hinweis, dass es in Europa sogar männliche Hebammen gibt.

Nicht alles an Grossstädten ist grossstädtisch. Oder «fortschrittlich». Viele New Yorker spotten zwar über Orte wie San Francisco («Ist das überhaupt eine Stadt?»), wünschen sich aber ein wenig mehr Beschaulichkeit. Sie suchen das Übersichtliche und Beständige. Nachbarschaftliches Miteinander, herzige Marktstände, Kaffeekränzchen in der Quartierbuchhandlung, Nostalgie. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ihr Alltag schroff und beschwerlich genug ist. Zudem von ständigen Veränderungen geprägt – man freundet sich mit einem netten Menschen an, drei Monate später ist er wieder weg.

In Zürich und Basel fürchtet man nichts so sehr wie das Prädikat «provinziell». Die wahre Grossstadt aber erkennt man an ihrer Sehnsucht nach Provinzialität.

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