Disziplin und Gehorsamkeit fangen in den USA schon bei den ganz Kleinen an. Bruno Ziauddins Sohn bekam davon bereits nach wenigen Tagen Stresssymptome.
Beim ersten Mal war ich irritiert. Hing mir etwas Lustiges zu den Ohren raus? Hatte sich ein Spatz auf mein Haupt gesetzt? War unser deutscher Qualitätskinderwagen (der alsbald mitten auf dem Broadway in die Brüche gehen sollte) – war unsere Babylimousine so over the top, dass die Passanten in der unprätentiösen Atmosphäre der Upper West Side Kicheranfälle bekamen?
Beim zweiten Mal verstand ich: Die Leute, die an uns vorbeigingen, strahlten meinen Sohn an. Einfach so. Alt oder jung, in Eile oder mit Weile, Grossmutter- oder Singletyp. Gut, ich strahle meinen Sohn auch grundlos an. Aber ein fremdes Kind? Mitten in der Rushhour? Ja, die Amerikaner sind sehr, sehr kinderfreundlich, selbst die New Yorker, die im Land der unbegrenzten Freundlichkeiten als die am wenigsten Freundlichen gelten.
Zwängt man sich mit Kleinkind auf dem Arm in die Metro, bietet einem auch die ultimativ abgelöschte Teenagergöre sofort ihren Platz an. Betritt man ein gepflegtes Speiselokal, in dem sich lauter Erwachsene in gedämpftem Ton unterhalten, dann verstaut der Chef de service die Babylimousine, bringt Hochstuhl und Kids Menu und behandelt einen ansonsten: wie normale Gäste. Und all die tollen Spielplätze, Puppentheater, Kindermuseen, Erzähl- und Bastelstunden! So viel selbstverständliche, zugleich unhysterische Kinderfreundlichkeit! Das war anfänglich ein richtiger Schock, zumal ich aus Zürich stamme, Metropole der Kinderphobiker, wo jedes zweite Wohnungsinserat den Vermerk «für Familien ungeeignet» enthält.
Achtung, dieser Text macht jetzt eine Vollbremsung, gefolgt von einem U-Turn. Letztes Jahr wurden in den USA 8000 Kindergartenschüler aus Disziplinargründen vom Unterricht suspendiert. Kindergartenschüler! Viele Schulbezirke im Land haben ihre Aufsichtspflichten an die Polizei und private Sicherheitskräfte delegiert. Diese benutzen vermehrt Taser, Elektroschockpistolen, um Schüler zu «disziplinieren». In Texas brach ein 15-Jähriger nach einem Taser-Einsatz zusammen und ist seither teilinvalid. Er wollte, so zeigt es die Überwachungskamera, auf dem Pausenplatz einen Streit schlichten. Weniger dramatisch, aber im Kern dasselbe Thema: In seiner ersten Krippe entwickelte unser Sohn am dritten Tag Stresssymptome. Er biss sich in den Arm und verkroch sich unter Stühlen. Ruhig jetzt, wisch den Mund ab, putz den Tisch, leg das Buch zurück, nein, nicht die blauen Klötze, bleib an deinem Platz … Der Schwall an Kritik und Befehlen erinnerte an eine Militärakademie oder Hundeschule. Lernziel: Parieren und Funktionieren.
Klar, man findet in New York auch ganz andere, pädagogisch hervorragende Einrichtungen. Wer 30 000 Dollar übrig hat, schickt seinen Dreijährigen in eine Waldorf- oder Montessori-Schule – sofern Eltern und Sprössling die Aufnahmeprüfung bestehen («Wie lautet Ihre Erziehungsphilosophie?»; «Beschreiben Sie Ihren Sohn mit einem Wort»).
Je älter die Kinder, desto extremer werden Leistungsdruck, finanzielle Last und die Jagd nach der «richtigen» Schule. Ein paar Auserwählte schaffen es schliesslich an ein Elitecollege. Wie unsere Babysitterin Tina. Sie versucht, «nach Möglichkeit» am Sonntag nicht zu arbeiten. Nach Studienabschluss wird sie mit 70 000 Dollar Schulden ins Berufsleben starten. «Versagen verboten», sagt Tina. Sie ist 21.
Amerika in einem Satz? Das Beste und Schlechteste im selben Land.