Bruno Ziauddin, unser Mann in New York, schreibt über den Dichtestress im Big Apple.
Jede Zeit, jede Gesellschaft hat ihre Modewörter. In der Schweiz von heute lautet eines dieser Modewörter: Dichtestress. Die Städte wachsen und wachsen, in den Bergen reiht sich Chalet an Chalet, allmorgendlicher Stau auf der A 1, die Lieblingsbeiz ist schon wieder ausgebucht.
Wie der Titel dieser Kolumne nahelegt, werde ich gleich etwas zum Themenkomplex «Dichtestress und New York» sagen. Zuerst jedoch möchte ich dem heimatverbundenen Teil der Leserinnenschaft versichern: Ich finde es immer ein wenig doof, wenn Journalisten oder Schriftsteller ins Ausland ziehen und von dorther verkünden, wie furchtbar beschaulich die Schweiz doch sei. Trotzdem muss ich gestehen: Aus New Yorker Perspektive ist die Vorstellung von dichtegestressten Zürchern, Baslerinnen und Luzernerinnen ein bisschen lächerlich.
Wenn man sich an einem kommunen Dienstagabend den Broadway auf Höhe der 96. Strasse hochpflügt – also in einem Wohnquartier fernab von Times Square und Empire State Building –, sind die Trottoirs so voll wie an der Zürcher Bahnhofstrasse vor Heiligabend. Und für ein Sandwich bei «Absolute Bagels» reiht man sich um die Mittagszeit in eine zwanzig Meter lange Schlange. Jeden Tag, ausser sonntags. Dann ist die Schlange noch länger.
Okay, die Erkenntnis, dass in New York alles grösser und voller ist, ist jetzt nicht hammeroriginell. Interessant aber: Die Menschen scheinen niemals dichtegestresst zu sein. Ich weiss gar nicht, ob man dieses Wort hier kennt. Nehmen wir mein Stammcafé, den Hungarian Pastry Shop. Das Lokal hat die Grösse einer kleineren Vierzimmerwohnung. In Berlin stellen sie in so einen Raum fünf Tische und vier abgewetzte Sofas. Der Hungarian Pastry Shop hat Platz für achtzig Gäste. Weniger als sechzig halten sich selten dort auf. Und von diesen haben neunundfünfzig einen Mac vor sich. Aber das ist ein anderes Thema. Unser Thema ist: dass die Macs auf Tischchen stehen, die 45 mal 45 Zentimeter gross sind (ich habs ausgemessen). Wenn man Pech hat, sitzt man zu zweit an so einer Tisch-Attrappe. Wenn man viel Pech hat, sind die vier nahtlos angrenzenden Plätze links und rechts auch noch besetzt. Dann bildet man eine Tisch-Attrappen- Schicksalsgemeinschaft. Niest einer, werden alle nass.
Dennoch wird gegrüsst und gelächelt, zur Seite gerückt und sorry gesagt, werden Mäntel gereicht und Notizblätter aufgehoben, die dem linkischen Nachbarn auf den Boden gefallen sind. Eine aggressive Hässigkeit, wie sie einem in Zürich entgegenbrandet, wenn man in ein Tram steigt, das ein bisschen voll ist? Undenkbar. Dafür haben die New Yorker den Umgang mit Grossstadtverhältnissen einfach zu lange geübt.
Der letzte Abschnitt gehört Alex, einem aus Kuba stammenden Fitnesstrainer im New York Sports Club an der 80. Strasse. Das ist das Gym, in dem ich meinen Rücken trimmte, bevor ich beim Elite-Hippie anheuerte (annabelle 2/14). Alex ist ein cooler, wirklich netter Typ, der in Brooklyn aufgewachsen ist. Auf sein Äusseres möchte ich nicht näher eingehen, weil ich keine Lust habe, ständig über Männer zu schreiben, die besser aussehen als ich (3/14). Auf alle Fälle hat Alex eine Cousine in Bern, die er vor ein paar Jahren besuchen ging. Als sie ihn fragte, wie ihm Bern gefalle, sagte er: «Wonderful! Und wann fahren wir ins Stadtzentrum?» Die beiden standen auf dem Bundesplatz.
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