Kolumne aus New York: The Americano Way of Life
- Illustration: Antony Hare
annabelle-Kolumnist Bruno Ziauddin über Latino-Vibes in New York.
Die New Yorker U-Bahn ist 110 Jahre alt und zählt 24 Linien, auf denen 6311 Wagen verkehren. Auch wenn die hiesige Subway verglichen mit der Londoner Tube ein Ausbund an Zuverlässigkeit ist: An einem so grossen Netz wird immer irgendwo herumgewerkelt. Kürzlich hat es unsere Station getroffen. Die Ankündigung, dass die Haltestelle übers Wochenende wegen Gleisarbeiten geschlossen sein werde, hat uns via an die Mauern geheftete A4-Flugblätter erreicht. Auf den Flugblättern stand: No hay servicio de trenes entre 110 Street y 248 Street sábado y domingo.
Auch wenn die Hispanisierung der Vereinigten Staaten allmählich ein alter Hut respektive Sombrero ist: Aus der Nähe miterlebt, ist es eindrücklich, wie fortgeschritten die Entwicklung zu einem Land mit zwei Sprachen und Kulturen ist. Weil Datenjournalismus derzeit en vogue scheint, zücke ich als Erstes ein paar Zahlen: In den USA leben 53 Millionen Latinos. Das sind mehr Menschen, als Spanien Einwohner hat. In New York sind es fast 2.4 Millionen, womit sie die Afroamerikaner als zweitgrösste Bevölkerungsgruppe der Stadt überholt haben. Mitte des Jahrhunderts werden ein Drittel aller US-Bürgerinnen und -Bürger Latinos sein – respektive Hispanics, wie die spanischsprachige Minderheit in diesem so sehr auf sprachliche Korrektheit bedachten Land ebenfalls genannt wird.
Auch mein New Yorker Lebensgefühl wird von den Hispanics in der Nachbarschaft mitgeprägt. Jetzt, wo es heiss und feucht ist, verwandelt sich unser Viertel in eine Art Buena Vista Social Club. Frauen mit Rubensfiguren wogen in hautengen Jeans die Amsterdam Avenue hinunter. Alte Männer auf Klappstühlen blicken den Barken der Sinnlichkeit entspannt nach. Aus den Barbiersalons erschallt die grandiose Stimme von Cheo Feliciano. The one and unico! Frank Sinatra der Karibik! In den Strassen riecht es nach fauligen Früchten und Abgasen. In der Schlange vor dem Taco-Stand wird geplappert, referiert und gestikuliert. Und ich – ich bin der Grösste in der Schlange! In der Schweiz mit 179 Zentimetern noch knapp im Schnitt, im Norden Europas fast ein Zwerg – aber in diesem Teil von Nueva York: Gardemass.
Zwei Klagen nur: Die Servicefreundlichkeit einiger Latinos erinnert an Zürich oder Wolgograd. Und wie hier durch die Strassen geschlichen wird! Ich habe zwar kürzlich New Yorks Fussgänger gelobt, aber das Gehtempo an der Upper West Side entspricht der Fortbewegungsgeschwindigkeit einer satten Anakonda und kann einem, wenn man es ausnahmsweise eilig hat, auf die Nerven gehen.
Ob das tatsächlich an den superrelaxten Latinos im Quartier liegt – tranquilo, tranquilo –, ist nicht erwiesen. Natürlich sind nicht alle so drauf. Ein befreundeter Drehbuchautor nannte meine Vermutung beim gemeinsamen Bier jedenfalls «Bullshit». Der Drehbuchautor ist ein sehr lustiger Typ Anfang dreissig, der soeben eine Filmidee nach Hollywood verkauft hat. Aber wenn es um sprachliche und politische Korrektheiten geht, versteht selbst er keinen Spass. Als ich ihn das nächste Mal zum Biertrinken traf (Brooklyn Lager), habe ich triumphierend mit einer Ausgabe des «Journal of Cross-Cultural Psychology» herumgewedelt. In der Fachzeitschrift war eine Studie zum Gehtempo in verschiedenen Ländern abgedruckt. Die langsamsten Fussgänger finden sich demnach tatsächlich in Mexiko. Wo ich hingegen ein bisschen gestutzt habe: Die Flinksten sind angeblich die Schweizer. ¡Caramba!