annabelle-Reporter Frank Heer über Althippies, Drogendealer und aufmunternde Zischlaute.
Am Strassenrand vor dem städtischen Altersheim: Der Greis im Nachthemd sieht aus wie ein Gespenst. Er hat die weissen Haare zu einem Rossschwanz zusammengebunden und klammert sich an einen Infusionsständer. Als ich an ihm vorbeigehe, bittet er mich um Feuer für die Selbstgedrehte, die er hinterm Ohr versteckt hat. Ich schenke ihm mein Feuerzeug mit dem Logo einer Lebensversicherung. Er sagt nicht Danke, sondern Peace! Dann zündet er sich den Joint an.
Hippies im Alter – das hatte ich mir immer irgendwie anders vorgestellt. Durchaus auch denkbar im Selbstversuch: Bauernhaus im Appenzellischen (für Monterey wird meine Pension nicht reichen), Hühner vor dem Küchenfenster, Opel Rekord in der Garage. Lange Jamsessions mit Freunden auf der Veranda. Dazu in Honig eingelegte Magic Mushrooms zu selbst gebackenem Roggenbrot. Und jetzt das: ein Hippie mit Infusionsständer am Strassenrand. Peace my ass!
Ah, Ferien im Süden. Die Kids planschen am Brunnen, die Gattin löffelt Schaum vom Cappuccino, und ich schlendere in Flipflops über die Piazza zum Bancomaten, um Geld für die Pizzas zu holen, welche die Kinder angenagt haben.
Hängt sich dieser Typ an meine Fersen.
«Pst.»
«Hm?»
«Xst.»
«Hä?»
«Smoke?»
«What?»
«Hashish, Weed, Marijuana.»
Früher passierte mir das ja öfter. Aber seit ich bei H&M gesiezt werde, ist das vorbei. Für Drogendealer bin ich ein blinder Fleck geworden. Könnte am Kinderwagen liegen, auch Dealer haben eine Schamgrenze. Doch kaum spazier ich allein über die Piazza, werden mir Zischlaute wie Pfeile aus dem Spuckrohr hinterhergeschossen.
Versuchen wir das mal positiv zu deuten, denke ich, während ich die Euros aus dem Schlitz nehme: Der Dealer hat mich als Kiffer klassifiziert und nicht als vorzeitig Vergreisten. Das ist ja schon mal gut. Hätte auch anders sein können. Dass der mich ansieht und denkt: Ach Gottchen, nein, Spiessern und Rentnern verkaufe ich mein Gras nicht. In seinen Augen bin ich für das Abenteuer Drogen noch zu haben. Vielleicht schwingt ja noch immer ein Jota Rock’n’Roll in meinen Hüften, denke ich, während ich den Dealer durch die Ray-Ban ignoriere und zurück zur Familie flipfloppe.
Später, im Mietwagen, die Kinder schreien, sage ich zu meiner Frau: Lass uns zuhause mal wieder eine wilde Party schmeissen. So wie früher.
Zuhause. Ich suche bei Orell Füssli nach einem Sachbuch namens «Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken». Aus Versehen verirre ich mich in die Abteilung «Psychohygiene» und stehe vor dem Themenschild «50+». Auf den Buchrücken lauern fiese Titel wie «Lust auf 50», «Die besten Jahre» oder «Restlaufzeit». Betrifft mich nicht, denke ich nervös, da bleiben mir noch ein paar Monate. Reflexartig trete ich zurück und pralle gegen ein Regal mit der Anschrift «Tod». Ich stosse einen heiseren Schrei aus und taumle ins Freie. Es regnet gerade in Strömen, während ich entlang der Tramschiene in Richtung See wanke. Als ich am Ufer stehe, atemlos, zerrt eine Möwe an den Gedärmen eines verendeten Fischs. Ich sehe mich um. Wo ist er, der verdammte Dealer? Jetzt, wo ich seine aufmunternden Zischlaute brauchen könnte?!
Frank Heer ist Redaktor bei annabelle. Er schreibt abwechselnd mit Thomas Wernli und Sven Broder übers Mannsein bei einer Frauenzeitschrift und andere Extremsituationen