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Kidfluencer:innen: Spielst du noch oder rentierst du schon?

Zeitgeist

Kidfluencer:innen: Spielst du noch oder rentierst du schon?

Während andere Kinder im Sandkasten sitzen, setzen sie auf Social Media zweistellige Millionenbeträge um: Kidfluencer:innen. Das Phänomen hat längst auch die Schweiz erreicht. Das alarmiert nicht nur die Moralapostel.

Barbie ist individueller geworden, seit die durchschnittlichen Instagram- Nutzer:innen zuletzt damit gespielt haben dürften: Sie trägt blaue Haare, Regenbogenshirt oder Beinprothese, sitzt nicht mehr nur im Glitzer-Cabrio, sondern manchmal auch im Rollstuhl.

Taytum und Oakley Fisher hingegen, die für einen ihrer 1200 Instagram-Posts damit spielen, sehen im Vergleich dazu ziemlich identisch aus: Die Zwillinge tragen – im Wohnzimmer – Sonnenbrille und die gleichen Kunstlederleggins zu den gleichen Plüschwesten, auf dem Kopf Space Buns wie einst Miley Cyrus und ein Lächeln, als hätten sie sich eben zum ersten Mal selbstständig die Zähne geputzt und wollten die frisch polierten Beisserchen nun den Eltern präsentieren. Der Grund für die Faxen ist allerdings ein anderer, ein Hinweis über dem Post verrät es: «Bezahlte Werbepartnerschaft mit Barbie».

Keine gewöhnlichen Kinder

Taytum und Oakley sind keine gewöhnlichen Sechsjährigen. Sie sind Kinder-Influencer:innen, kurz Kidfluencer: innen. Sie sitzen in ihrem Kinderzimmer im US-amerikanischen Utah, strecken Spielsachen und Süsses in die Kamera und erwirtschaften damit mehr Knete, als sie je modellieren können.

Schon vor vier Jahren, als der Instagram-Account der beiden erst zwei – heute sind es drei – Millionen Follower:innen zählte, brachte ein gesponserter Beitrag darauf zwischen 10 000 und 20 000 Dollar ein; das verriet Vater Kyler Fisher 2019 der «New York Times». Mit einem Werbevideo auf ihrem Youtube-Kanal soll die Familie bis zu 50 000 Dollar verdienen.

Gemeinsam mit ihren jüngeren Geschwistern Halston, Oliver und Cohen gehören Taytum und Oakley damit zu den Stars einer Szene, die Social Media zu ihrem Spielplatz erklärt hat. Und obwohl sie sich dort praktisch täglich austoben, haben sie es laut einem Report der Inf luencer-Marketing- Plattform Captiv8 in besagtem Jahr nicht unter die Top-Kidfluencer: innen geschafft.

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«Sie sitzen im Kinderzimmer und erwirtschaften mehr Knete, als sie je modellieren können»

Einen Platz auf der Liste ergattert haben sich dagegen ihre drei Jahre ältere Cousine Everleigh Rose mit 7.4 und der damals 8-jährige Ryan Kaji mit 25.7 Millionen Follower:innen. Letzterer wurde mit «Ryan Toys Review » berühmt, einem Youtube-Kanal, auf dem er schon als Dreijähriger Spielzeug besprach – respektive bespielte.

Heute gehören auch Lernvideos, wissenschaftliche Experimente und Hoteltests im Disneyland zu seiner Trickkiste. Er war es denn auch, den das Wirtschaftsmagazin «Forbes» von 2018 bis 2020 dreimal in Folge zum bestbezahlten Youtuber der Welt kürte – über alle Altersgruppen hinweg. 2021 reichte es mit 27 Millionen Dollar Jahreseinkommen immerhin noch für Platz 7.

Die Generation Z ansprechen

Wie Taytum, Oakley und ihre Gspänli stehen laut Deutschem Kinderhilfswerk immer mehr Kinder vor der Kamera, um auf Social Media Produkte für Unternehmen wie Barbies Mutterkonzern Mattel oder Disney zu bewerben. Vor Jahrzehnten verhalf Disney Britney Spears und später auch Miley Cyrus zum Durchbruch, indem es die Mädchen via «Disney Channel» über die Bildschirme der Fernsehnationen flimmern liess.

Heute sind es die Kidfluencer:innen – respektive deren Eltern –, die die Produkte des Unternehmens über eigene Kanäle auf die Screens von Abermillionen Handys, Tablets und Laptops in der ganzen Welt beamen und damit Zielgruppen erreichen, die traditionelle Werbemassnahmen laut Captiv8 kaum mehr anzusprechen vermögen: die Generation Z sowie die noch jüngere Generation Alpha, geboren ab 2010.

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«Kooperationen mit Kidfluencer: innen lohnen sich für Brands also allein deshalb, weil Kinder sie so im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Schirm haben»

Zwar untersagen Instagram und Youtube Kindern unter 13 Jahren einen eigenen Account – weswegen im Instagram-Steckbrief von Taytum und Oakley «Managed by mom» stehen muss –, aber unter den mehrheitlich 25- bis 44-Jährigen, die den Kidfluencer: innen laut Captiv8 folgen, dürften sich viele Erziehungsberechtigte befinden, die ihren Kindern die eigenen Smartphones und Tablets gern mal weiterreichen.

Kooperationen mit Kidfluencer:innen lohnen sich für Brands also allein deshalb, weil Kinder sie so im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Schirm haben. Diese aufzufordern, ein Produkt zu kaufen, ist zwar ebenfalls verboten. Das ist aber auch gar nicht nötig; für die Werbewirkung genügt es, Produkte als Entdeckung anzupreisen oder sie zu verlosen.

Social-Media-Plattformen verdienen mit

Bezahlte Werbepartnerschaften sind dabei nicht die einzige Einnahmequelle der kleinen Grossverdiener:innen. Ein zusätzliches Sackgeld von geschätzt 150 000 Franken pro Jahr verdienen die Fishers mit dem Youtube- Partnerprogramm: Wer darin aufgenommen wird, den beteiligt Youtube an den Werbeeinnahmen, die dank der eigenen Videos eingespielt werden.

Wie viele Kidfluencer:innen Teil dieses Programms sind und wie viel Youtube an ihnen verdient, konnte oder wollte die Google-Tochter auf Anfrage nicht beantworten. Angesichts der Summen, die Erstere erwirtschaften, lässt sich Letzteres aber zumindest erahnen. Und so lohnt sich die Zusammenarbeit mit Kidfluencer:innen nicht nur für Brands, sondern auch für Social-Media-Plattformen. Zumal der Markt für Influencer-Marketing laut der Branchenplattform Collabstr unterdessen auf 15 Milliarden Dollar angewachsen sein soll.

«In Nordeuropa ist die Privatsphäre wichtiger als in den USA. Man ist vorsichtiger, vielleicht bescheidener»

Den florierenden Markt haben inzwischen auch Schweizer Eltern für sich und ihre Kinder entdeckt. Anders als Taytum und Oakley haben hierzulande allerdings die wenigsten Sprösslinge eigene Social-Media-Kanäle. Dies dürfte laut Anja Lapcevic, Co-CEO der hiesigen Influencer-Marketing- Agentur Kingfluencers, unter anderem kulturelle Gründe haben.

In Nordeuropa sei Privatsphäre wichtiger als in den USA, betont sie: «Man ist vorsichtiger, vielleicht auch bescheidener. » Für den American Dream hingegen werde alles Mögliche zu Geld gemacht – auch die Schönheit und das Leben der Kinder. «Darum wirst du in Amerika zum Teil gleich mit dem Account geboren.»

Auch in der Schweiz gibt es Kidfluencer:innen

Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Kinder auch hierzulande Produkte auf Social Media anzupreisen helfen – auf dem Account der Mutter, des Vaters oder der Familie. Zum Beispiel Zuria, die Tochter von Fabio Zerzuben: Der Walliser ist einer von rund 150 Müttern und Vätern, die Unternehmen über die Datenbank von Kingfluencers buchen können. Ende 2022 hat er ausserdem den Swiss Influencer Award in der Kategorie Family gewonnen. Gemeinsam mit Unternehmerin und Ex-Bachelorette Frieda Hodel hat Zerzuben zwei Töchter: neben der fünfjährigen Zuria auch die bald zweijährige Kaia.

Dass die beiden Kinder keine eigenen Accounts haben, hat mehrere Gründe. Der Wichtigste: Sie sollen dereinst selbst entscheiden, ob sie den überhaupt wollen. Daneben koste es viel Zeit, einen solchen zu pflegen: «Wenn du dir ausrechnest, wie viele Leute du in der kleinen Schweiz erreichst, was du monetarisieren kannst, dann lohnt sich das gar nicht», so Zerzuben. Auf seinem Kanal waren Zuria und Kaia aber schon in Werbe-Posts zu sehen, spielten etwa Memory für Ifolor, malten Bilder für Ikea.

«Das Geld fliesst in unsere Haushaltskasse. Zuria bekommt jeweils ein Batzeli»

Anders als die Sprösslinge anderer Familien, die von der Social-Media- Präsenz ihrer Kinder tatsächlich leben, müssen Zerzubens Töchter nicht um jeden Preis rentieren: Zerzuben arbeitet ausserdem für eine Techfirma, Frieda Hodel führt ihr eigenes Beauty- Unternehmen. Aber: «Wir haben eine gewisse Vorstellung davon, was wir umsetzen wollen.»

Wohin fliesst das Geld der Kinder?

Ein Schweizer Unternehmen, für das auf Instagram hin und wieder Kinder posieren, ist Dosenbach. Das Schuhhaus betont auf Anfrage, dass die Mütter, mit denen es zusammenarbeitet, «nach eigenem Ermessen entscheiden, wie sie das Kind in ihren Social- Media-Auftritt integrieren». Und weiter: «Es gibt Posts, auf denen nur das Kind zu sehen ist. Aber wir arbeiten mit keiner Mutter, deren Instagram- Account sich ausschliesslich um das Kind dreht. Sie inszeniert wenn immer möglich sich und die Kinder gemeinsam. »

Zwischen 150 und 2500 Franken können Mütter und Väter laut Anja Lapcevic an Aufträgen wie diesen verdienen. Wohin fliesst dieses Geld? Auf das Konto der Eltern? Auf das der Kinder? «Einige Eltern legen ein Sparkonto für ihre Kinder an», weiss Lapcevic. Wie handhabt das Fabio Zerzuben? «Das Geld fliesst in unsere Haushaltskasse, wir kaufen den Kindern damit Kleidung, fliegen in die Ferien.» Und Zuria? «Sie bekommt jeweils ein Batzeli. Das wirft sie in ihr Sparschwein und Ende Jahr bringen wir das Geld zur Bank.»

«Ohne die Mädchen wären wir nicht so weit gekommen»

Ob Kyler und Madison Fisher ihren Zwillingen eigene Konti eröffnet haben, ist nicht bekannt. Einen Youtube- Channel betrieb Papa Kyler schon vor der Geburt seiner Kinder – sein erstes Baby, sozusagen –, klar aber ist: «Ohne die Mädchen wären wir nicht so weit gekommen», wie der Country-Sänger der «New York Times» offenbarte. Und Influencerin und Mama Madison ergänzte in einem Interview mit «LA Weekly»: «Unser Job ist es, Spass zu haben.»

Und das beansprucht ganz schön viel Zeit, schliesslich schaukelt die Familie zwei Handvoll Social-Media- Accounts. Sie müssten sich jeden Tag die kreativsten Dinge ausdenken, betont Madison Fisher. Zum Beispiel ihr Haus – das über ein Kino und mehrere Ankleidezimmer verfügt – in ein Disneyland verwandeln, den Garten mit Seeanstoss in ein Märchenland. Work hard, play hard.

«Ist Kidfluencen im Grunde Kinderarbeit, der Millionen von Menschen Aufmerksamkeit, Daumenhochs und Herzchen schenken?»

Aber ist das noch ein Spiel, wenn die Kinder der Familie diesen Lifestyle erst ermöglichen? Oder ist Kidfluencen im Grunde Kinderarbeit, der Millionen von Menschen Aufmerksamkeit, Daumenhochs und Herzchen schenken? Dieser Ansicht jedenfalls sind Kinderrechtsorganisationen. Das Deutsche Kinderhilfswerk etwa spricht von Kinderarbeit, wenn «Kanalbetreiber: innen der Kinder- und Familienkanäle Geld für ihre Videos erhalten […] und Kinder am Video beteiligt waren».

Gesetzliche Regelungen fehlen

In den meisten Ländern fehlen allerdings gesetzliche Bestimmungen, die sich explizit mit Kidf luencer:innen befassen. Frankreich ist das erste Land, das seine Schutzmassnahmen für Kinderdarsteller:innen und Kindermodels 2021 ausdrücklich auf Kidfluencer: innen ausgeweitet hat. Zwar diskutierte auch Kalifornien eine entsprechende Anpassung des Coogan Acts, verwarf den Gesetzesentwurf aber wieder.

Benannt ist dieser Act nach Jackie Coogan, der an der Seite von Charlie Chaplin zu einem der ersten Kinderstars Hollywoods avancierte. Als er später auf sein Millionenvermögen zugreifen wollte, hatten seine Mutter und sein Stiefvater den Grossteil davon ausgegeben. So schreibt der Coogan Act heute vor, dass alles Geld, das Kinderdarsteller:innen verdienen, ihnen gehört. 85 Prozent davon dürfen die Eltern verwalten – sich zum Wohl des Kindes etwa durchaus ein Haus kaufen –, 15 Prozent fliessen auf ein Treuhandkonto.

«Spezifische Regeln zu Kidfluencer:innen fehlen»

Welche Gesetze schützen die Kinder hierzulande? Das Bundesamt für Sozialversicherungen, federführend bei der Kinder- und Jugendpolitik auf Bundesebene, gibt den Ball auf Anfrage an das Bundesamt für Justiz weiter. Dieses erklärt, dass spezifische Regeln zu Kidfluencer:innen fehlen, und verweist seinerseits an das Staatssekretariat für Wirtschaft, das die Jugendarbeitsschutzverordnung zitiert.

Diese behandelt vergleichbare Tätigkeiten: Jugendliche unter 15 Jahren dürfen unter gewissen Umständen für kulturelle und künstlerische Tätigkeiten beschäftigt werden, ausserdem für Werbung im Bereich Radio, Fernsehen, Film und Foto. Schliesslich verweist es zurück an das Bundesamt für Sozialversicherungen, das feststellt, dass die Bundespolitik das Thema Kidfluencen bisher kaum diskutiert.

Anders die Basler Kinderanwältin Rita Jedelhauser, laut der sich die Jugendarbeitsschutzverordnung auch auf Kidfluencer:innen anwenden lässt. Im Interview erklärt sie, welche Rechte Kindern zustehen.

«Besonders heikel finde ich, dass das Kidfluencen im absolut geschützten Privatbereich des Kindes stattfindet»

annabelle: Rita Jedelhauser, ist Kidfluencen Kinderarbeit?
Rita Jedelhauser: Das Kind würde sagen: «Ich packe Geschenke aus.» Aber auch das ist Arbeit, wenn es ein gewisses Mass überschreitet. Dann müssen Eltern sie den kantonalen Behörden melden. Bei uns diskutiert man das Thema aktuell aber mehr im Rahmen der Persönlichkeitsrechte.

Inwiefern?
Auch Kinder haben ein Recht auf Privatsphäre. Besonders heikel am Kidfluencen finde ich, dass das Kind nicht auswärts modelt und danach nachhause geht – sondern dass es nachhause kommt und die Eltern im Wohnzimmer eine Kamera aufstellen.

Was daran ist besonders heikel?
Es findet im absolut geschützten Privatbereich des Kindes statt, dort, wo es seine Stofftiere hat, sein Bett. Sie würden Eltern davon abraten? Ich möchte nicht sagen, dass es per se schlecht oder verboten ist. Aber: je kleiner das Kind, desto grösser die Schutzpf licht der Eltern. Lohnt sich das für die paar Likes, für das bisschen Geld? Die wenigsten ergattern ja riesige Werbedeals. In jedem Fall sollten Eltern ihre Kinder in solche Entscheidungen einbeziehen.

In einem Beitrag für das Online-Fachmagazin «Jusletter» schreiben Sie, dass Kinder die Folgen einer Veröffentlichung erst mit 14 abschätzen können. Sie früher einzubeziehen, scheint schwierig.
Eltern können mit Vergleichen arbeiten, die Kinder sich vorstellen können. Sich das Internet vorstellen, das schaffen ja nicht mal wir. Aber fragen: «Ist das etwas Tolles für dich, wenn alle auf dem Pausenplatz dieses Bild sehen? Die, die du nett findest, aber auch die, mit denen du Streit hast?»

Die Antwort lautet wohl: Nein.
«Sicher nicht! Ich will nicht, dass Yannick das sieht», ja. Ein Kind hat kein natürliches, intrinsisches Bedürfnis, sich der ganzen Welt zu präsentieren.

Darum scheuen sich einige Eltern vermutlich, überhaupt nachzufragen.
Eben. Und dann geht es nicht mehr um die Interessen des Kindes, sondern um jene der Eltern.

Aber ist es nicht deren gutes Recht, ihr Kind beim Spaghetti-Essen zu fotografieren und nebenbei sein Lätzchen zu bewerben?
Sie dürfen ihr Kind schon fotografieren. Aber das Bild gehört dem Kind – das Recht am eigenen Bild, Artikel 28 ZGB. Eltern dürfen ihr Kind zwar in diesem Recht vertreten, aber nur, solange sie keine anderweitigen Eigeninteressen verfolgen. Es gilt also nicht: mein Kind, mein Recht. Sondern: mein Kind, meine Verantwortung.

«Bei Werbekollaborationen empfehlen wir, die Kinder so einzubinden, dass sie nicht zu erkennen sind»

Trotz des Rechts auf Privatsphäre, das Rita Jedelhauser beschreibt, werden Kinder wie die Fisher-Sprösslinge auch in privaten Situationen gefilmt: Oakley beim Streiten, Taytum im Spital. Und für ein 17-minütiges Youtube- Video mit dem Titel «A Day in the Life of Halston!» begleiten Kyler und Madison Fisher die dreijährige Schwester der Zwillinge zum Turnunterricht, wo sie Purzelbäume schlägt und vom Schwebebalken fällt, bevor sie abends ins Bett purzelt und ihr Vater sie nach dem Beten daran erinnert, dem Publikum goodbye zu sagen – und «subscribe! ».

Aufwachsen in der Öffentlichkeit

Die Fisher-Sprösslinge gehören zur ersten Generation Kinder, die von Influencer: innen grossgezogen werden, für die es quasi Alltag ist, ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder öffentlich zu dokumentieren. So gibt es denn auch Videos, die Halston beim Mittagsschlaf zeigen: Um ihre 4.45 Millionen Abonnent:innen dabei zusehen zu lassen, wie die Kleine – mit dazwischen geschaltetem Werbespot – in ihrem Bettchen vor sich hin brabbelt, haben Kyler und Madison extra eine versteckte Kamera installiert. Eine Dauerwerbesendung aus dem Kinderzimmer. Geld verdienen im Halbschlaf.

Politik und Eltern scheinen rechtliche Rahmenbedingungen derzeit noch kaum zu beschäftigen, ethische Fragen stellen sich gleichwohl. Auch den Agenturen, die an der Social- Media-Präsenz von Kindern mitverdienen. Anja Lapcevic, Co-CEO bei Kingfluencers, die die Frage «Soll Ihre Tochter kidfluencen?» mit einem «Nein» samt Ausrufezeichen beantwortet, sagt: «Wir empfehlen unseren Inf luencer: innen, ihre Kinder bei Werbekollaborationen so einzubinden, dass sie nicht zu erkennen sind.» Für den Babynahrungshersteller Aptamil hat Kingfluencers beispielsweise eine Kampagne umgesetzt, bei der die Influencer:innen ihre eigenen Kinderfotos teilten anstelle der Fotos ihrer Kinder.

«Es gibt Videos von Halston Fisher beim Mittagsschlaf– mit dazwischen geschaltetem Werbespot»

Auf Wunsch von Kund:innen verzichtet auch Fabio Zerzuben darauf, die Gesichter seiner Töchter zu zeigen. Allerdings sei es gar nicht so einfach, ein Kind von hinten zu fotografieren: «Man möchte ihm ja nicht verbieten, sich zu bewegen.»

Für einen Job, so schildert es Zerzuben, spanne er seine Kinder nur wenige Minuten ein: «In dieser Zeit musst du sie spielerisch packen. Ich habe Zuria mal zu früh gesagt, dass wir mit einem Aufbewahrungsmöbel von Ikea DJ spielen. Sie hat sich total gefreut. Als ich das DJPult endlich aufgebaut hatte, hatte sie keine Lust mehr», sagt er und lacht. «Dann brichst du alles ab und versuchst es am nächsten Tag noch mal.»

Die Kinder in die Arbeit einbinden

Dass man es auch kritisch sehen kann, wenn Kinder in die Werbekollaborationen ihrer Eltern eingespannt werden, dessen ist sich Fabio Zerzuben bewusst. Aber grundsätzlich, so meint er: «Wenn sie mal zehn Minuten vor der Kamera stehen und Spass haben … Hey, das ist unser Leben, das gehört dazu. Mir ist viel lieber, wenn ich die Kids einbinden kann in meine Arbeit daheim mit der Kamera oder unterwegs, wenn wir in die Ferien fliegen, im Ausland in einem coolen Hotel übernachten, als wenn du die Kids die ganze Woche nicht siehst, weil du ständig auswärts arbeitest.»

Dass Kindern das Fötelimachen durchaus Spass bereiten kann, daran zweifelt auch Roland Rosenstock nicht. Seiner Ansicht nach allerdings aus den verkehrten Gründen. Rosenstock ist ein auf Medienethik spezialisierter Theologe und Medienpädagoge und einer der wenigen Wissenschafter:innen, die sich im deutschsprachigen Raum aus ethischer Sicht mit Kidfluencer: innen beschäftigen. Er ist Professor an der Universität Greifswald – und wo er forscht, also in Deutschland, werden Kinder mitunter schon ähnlich gezielt als eigene Marke inszeniert wie in den USA.

«Auch Mitschüler:innen und Freunde kommentieren, was sie gut finden und was blöd»

annabelle: Roland Rosenstock, die Ethik kritisiert am Kidfluencen unter anderem den finanziellen Anreiz der Eltern. Angenommen, die sparen das Geld, um dem Kind dereinst ein besseres Leben zu ermöglichen. Heiligt der Zweck die Mittel?
Roland Rosenstock: Es ist natürlich gut, wenn Eltern für die Zukunft der Kinder Geld zurücklegen. Aber dieses Geld sollten sie erarbeiten, nicht die Kinder. Es nützt dem Kind ja nichts, wenn es, wie wir es bei Britney Spears gesehen haben, viel Geld, aber dafür solche psychischen Probleme hat, dass ihm der Vater, der die Probleme mutmasslich mitverantwortet, auch noch als Vormund vorgesetzt wird.

Warum drohen den Kindern denn psychische Probleme?
Weil das Kind, gerade wenn es zum Familieneinkommen beiträgt, die Rolle der Eltern einnimmt und Kindheit nicht mehr so erleben kann, wie wir es uns für Kinder wünschen. Sie wird stattdessen kommerzialisiert. Aber Kindheit ist nicht dazu da, Geld zu verdienen, den Druck des Marktes auszuhalten. Sondern dazu, Körper und Geist zu entwickeln, die eigene Identität.

Und diese Identitätsentwicklung sehen Sie gefährdet?
Wenn das Kind als Marke inszeniert wird, die Öffentlichkeit ein Bild von ihm hat und es sich entsprechend diesem Bild verhält, nicht entsprechend seinem Selbstbild, dann ja. Ausserdem werden die Kinder in den sozialen Netzwerken bewertet, durch Klickzahlen, Kommentare. Für die Schule beurteilen wir das gerade neu, fragen uns: Ist es richtig, vor der 6. Klasse Noten zu geben? Und auch Mitschüler:innen und Freunde kommentieren, was sie gut finden und was blöd, dass sich diese Kinder in der Schule etwa ganz anders verhalten als online.

Das mediale Ich.
Das ein inszeniertes Ich ist. Die Kinder müssen sich sehr früh damit auseinandersetzen. Wer bin ich, wie inszeniere ich mich, wie nehmen andere mich wahr, wie möchte ich wahrgenommen werden? Es stellen sich Fragen zur Identität, die ein Kind noch nicht beantworten kann. Das ist eine Belastung, die eigentlich kinderpsychologisch betreut werden müsste.

«Kindheit ist nicht dazu da, Geld zu verdienen, den Druck des Marktes auszuhalten – sondern dazu, sich zu entwickeln»

Was, wenn das Lob der Mitschüler:innen die Kritik überwiegt?
Lob verstärkt oft Klischees, wie Mädchen und Jungen zu sein haben. Zu viel des Lobes lässt ausserdem intrinsische Motivation verkümmern.

Beeinflusst der frühe Ruhm die Kinder?
Wir gehen davon aus, dass sie bis zu einem gewissen Grad narzisstisch geprägt werden.

Welche positiven Eigenschaften entwickeln Kidfluencer:innen?
Klar, wir sehen selbstbewusste kleine Menschen, die gelernt haben, sich zu inszenieren. Sie sind Profis im Umgang mit Öffentlichkeit. Das bereitet sie gut auf gewisse Berufe vor. Viele Kidfluencer: innen interessieren sich für Mode, Lifestyle, Film.

Ihre Antwort klingt nach einem Aber.
Der berufliche Weg scheint vorgezeichnet. Wenn die Kinder einen anderen einschlagen möchten, müssen sie mit dem ersten brechen. Ähnliches erleben Kinder, die den Familienbetrieb übernehmen sollen, aber nicht wollen.

Zeichnen nicht alle Eltern die Zukunft ihrer Kinder ein Stück weit vor? Nur schon, wenn sie sie in die musikalische Frühförderung schicken, den Sportverein?
Es geht um die Frage der Freiwilligkeit. Wenn ich mich entscheide, mein Hobby aufzugeben, kein Klavier mehr zu üben, dann ist das etwas anderes, als wenn ich zum Familieneinkommen beitrage – dann kann ich nicht von einem Tag auf den anderen beschliessen, dass ich keine Lust mehr habe. Diese Familien können sich ja auch mehr leisten, sie ziehen um, in grössere Häuser. Der Anspruch an das Leben steigt und mit ihm der Druck, diesen Lebensstandard zu halten. Mit Kindern im Leistungssport lassen sich Kidfluencer:innen aus ethischer Perspektive dagegen sehr gut vergleichen.

Inwiefern?
Auch dort haben wir ehrgeizige Eltern, die vielleicht selbst Profisportler:innen werden wollten. Ausserdem ehrgeizige Trainer:innen, eine Teilkommerzialisierung und Medieninszenierung.

«Ein Kind will, dass seine Eltern stolz sind. Es kann aber nur diesen Teil beurteilen und nicht, dass die Eltern das Bild mit 100 000 Leuten teilen»

Eltern würden wohl entgegnen, ihre Kinder machen das freiwillig.
Es macht ihnen vielleicht sogar Spass. Zum einen wegen der Aufmerksamkeit der Eltern: Jedes Kind möchte, dass die Eltern mit ihm spielen. Zum anderen, weil es merkt: Mama und Papa finden es gut, wenn ich das mache. Ein Kind will, dass seine Eltern stolz sind. Es kann aber nur diesen Teil beurteilen und nicht, dass die Eltern das Bild mit 100 000 Leuten teilen, um Geld zu verdienen.

In der Schweiz bewerben die wenigsten Kinder Produkte über eigene Accounts, vielmehr sind sie in Familienkanäle eingebunden. Entschärft das die Situation?
Bei denen ist das grosse Problem, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder schon vor der Geburt auf Ultraschallbildern zeigen. Ausserdem berichten sie auch über das Trockenwerden oder Krankheiten ihrer Kinder, und sei es nur einen Schnupfen. Krankheit und Gesundheit gehören zur Intimsphäre der Kinder und nicht öffentlich diskutiert.

Es existiert in Ihren Augen also keine moderate Form des Kidfluencens?
Nicht im kommerziellen Bereich.

Warum empören sich Menschen eigentlich über Kidf luencer:innen, nicht aber über Kinder in der Fernsehwerbung, die für die genau gleichen Unternehmen werben?
Eltern produzieren in der Regel keine Werbespots. Beim Kidfluencen aber betreiben sie die Kanäle, sind sie die Chef:innen. Der Produktionsdruck ist höher. Und während die Produktion von Fernsehwerbung klare Regeln kennt, kann niemand kontrollieren, was bei den Kidf luencer:innen zuhause passiert.

«Instagram verbietet Bilder von Kleinkindern nur dann, wenn ein nacktes Gesäss oder die Genitalien zu sehen sind»

Eltern, die gleichzeitig Boss sind und Bezugsperson – wo Roland Rosenstock ein Risiko sieht, sieht Fabio Zerzuben eine Chance. «Noch mehr Kontrolle als zuhause kannst du als Eltern gar nicht haben», betont er. «An einem Set hast du Externe, zuhause bist zu hundert Prozent du am Ball. Wenn du das Bild in den eigenen vier Wänden machen kannst, ist das doch viel angenehmer für das Kind, als wenn du mit ihm in ein Studio musst.»

Nur Nacktbilder sind verboten

Wer auf dem Instagram-Account von Taytum und Oakley Fisher bis zum allerersten Bild der beiden nach unten scrollt – hochgeladen am 25. Juni 2016, kurz nach ihrer Geburt –, riskiert einen wunden Daumen. 1242 Posts sind es insgesamt. Und irgendwo weit unten begegnet man einem Bild, das die Zwillinge in der Babybadewanne zeigt. Die Bildunterschrift verrät: Die beiden nehmen ihr «erstes Schaumbad mit den Badeprodukten von @tubbytodd».

Der Schaum bedeckt die Scham der Kinder. Verboten ist das nicht, Instagram verbietet Bilder von Kleinkindern nur dann, wenn ein nacktes Gesäss oder die Genitalien zu sehen sind. Versehen ist die Werbung mit dem Hashtag #babybath – Eltern sollen das Bild bei der Suche nach entsprechender Kaufinspiration finden.

«Auch scheinbar harmlose Darstellungen können Pädophile sexuell interpretieren»

Nur suchen nicht nur unschuldige Mamis und Papis nach diesem Hashtag: Interpol warnt, dass Pädophile Social-Media-Beiträge für ihre Zwecke missbrauchen. Und dafür muss das Sujet noch nicht mal so explizit sein wie jenes mit Taytum und Oakley.

Bilder können missbraucht werden

«Wenn die Kinder Kleidung tragen, ist das weniger problematisch. Aber auch scheinbar harmlose Darstellungen können Pädophile sexuell interpretieren », sagt Serdar Günal Rütsche, Cybercrime- Chef der Kantonspolizei Zürich. Wegen anstössiger Kommentare unter Videos von turnenden Kindern deaktivierte Youtube gemäss «Spiegel» tatsächlich schon vor Jahren die Kommentarfunktion unter den entsprechenden Beiträgen.

Auch wenn laut Günal Rütsche bisher kaum Bilder von Kidfluencer:innen gemeldet wurden – eine von Eltern publizierte Darstellung muss verboten sein, damit die Polizei sie verfolgt – und seiner Fachstelle das Thema entsprechend «weniger unter den Nägeln brennt», appelliert der Cybercrime- Chef an die Erziehungsberechtigten: «Wenn sich ein Pädophiler auf einen Spielplatz setzt und Kinder beobachtet, dann greift die soziale Kontrolle.» Auf Instagram fehle diese Instanz, da könne einer Tausende Bilder herunterladen, ganze Datenbanken erstellen. «Eltern sollten sich fragen, was ihnen mehr wert ist: die Vermarktung eines Produkts oder die Sicherheit ihres Kindes.»

«In der Werbung bleibt das Kind anonym. Auf Social Media aber kennst du seinen Namen, seinen Wohnort»

Bei Kingfluencers ist man sich der hohen Sensibilität des Themas bewusst. Als die Agentur den Badezusatzhersteller Tetesept mit einer Kampagne für Kinderbadeprodukte unterstützte, sollte höchstens ein Händchen mit aufs Bild. Ein Foto von einem Kind in der Badewanne oder nur schon im Badezimmer ist für Chief Influence Officer Anja Lapcevic – anders als für die Eltern von Taytum, Oakley und vieler ihrer Freund:innen – «ein No-Go».

Ähnlich beurteilt Lapcevic Bilder von Kindern in Windeln. Ein solches wünschte sich ein Windelhersteller einst von Fabio Zerzuben. Er lehnte ab. Aber in der Pampers-Werbung tragen die Kinder doch auch nicht mehr? «In der Werbung bleibt das Kind anonym. Auf Social Media aber kennst du seinen Namen, seinen Wohnort, du könntest es jederzeit abfangen», so Lapcevic.

«Einer, der schlechte Absichten hat, interessiert sich sicher weniger für ein Foto, auf dem die ganze Family zu sehen ist.»

Problematisch seien in diesem Zusammenhang auch Ferienfotos, wie sie Familienkanäle gern teilen, wenn die Familien Reisedestinationen testen, ergänzt Ethiker Roland Rosenstock: Weil die Kinder beim Baden nicht viel tragen. Tatsächlich hat auch Fabio Zerzuben schon ein Foto seiner Tochter am Pool veröffentlicht, um Sonnencrème zu promoten – den Bildausschnitt wählte er aber bewusst so, dass kaum Haut und das Kind nicht zu erkennen ist.

Auf problematische Posen verzichten

«Im Gegensatz zu vielen Nichtinfluencer:innen würde ich meine Kinder nie leicht bekleidet oder in einer ungünstigen Pose zeigen, etwa, wenn sie Glace schlecken», so Zerzuben. Und auch nicht allein: «Einer, der schlechte Absichten hat, interessiert sich sicher weniger für ein Foto, auf dem die ganze Family zu sehen ist.» Ob seine Kleinen mal zu den ganz Grossen im Business gehören sollen? «Sie können werden, was sie wollen», sagt Zerzuben. Und lacht: «Gerade ist Zuria aber eher noch in der Phase, in der sie mal Papa heiraten möchte.»

Vor der Geburt schon 200 000 Follower:innen

Und wie steht es um die Kinder von Kyler und Madison Fisher? Für ein Statement war das Paar nicht zu erreichen. Es hat wohl auch einiges zu tun gerade; die 31-jährige Madison hat vor einigen Monaten ihr fünftes Kind geboren. Und wie schon bei den vieren davor wuchs mit der Schwangerschaft nicht nur ihr Bauchumfang, sondern auch ihre Fangemeinde.

Genau wie diejenige des jüngsten Sprösslings: Schon vor seiner Geburt zählte Cohen, so sein Name, rund 200 000 Follower:innen auf Instagram; er rutschte vom mütterlichen Geburtskanal quasi direkt hinein in das Social-Media- Imperium, das seine Eltern und Geschwister geschaffen haben. Ein weiterer Kidfluencer erblickte das Licht der Welt. Und er rentierte schon, lang bevor er spielte.

Dieser Beitrag ist als Bachelorarbeit am Institut für Angewandte Medienwissenschaft an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften entstanden.

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Tehrani-Leu

Danke für den sehr ausführlichen und kritischen Bericht. Für mich ist es traurig zu lesen, dass es Eltern gibt die ihre Kinder ” vermarkten “.

Ich habe noch eine Bitte: Schreiben Sie nicht mehr “Pädophile “, sondern “Pädokriminelle, oder Pädosexuelle”.
Das bringt besser zum Ausdruck, worum es sich handelt….

erika

wer seine kinder so (wie auf dem ersten foto) präsentiert, gehört eingesperrt. das ist himmelschreinder missbrauch! wann wird das endlich verboten? auch in europa??