Leben
Kampf gegen Kindersklaverei in Nepal
- Text: Dinah Leuenberger; Fotos: Plan International Schweiz
Mädchen aus armen Verhältnissen werden in Nepal von reichen Familien als Haushälterinnen, sogenannte Kamalari, gehalten. annabelle hat sich mit Urmila Chaudhary, einer ehemaligen Kamalari, getroffen.
Urmila Chaudhary sitzt mir gegenüber, trägt eine blaue, sportliche Jacke, etwas Make Up, die Haare schön frisiert. Sie ist eine gewöhnliche junge Frau, 26 Jahre alt. Nur, dass Urmila keine durchschnittliche junge Frau ist. Mit 6 Jahren wurde die Nepalesin von ihren Eltern fortgeschickt, um als Kamalari für einen reichen Mann zu arbeiten, damit die Eltern ihre Schulden begleichen konnten. Die Tharu, zu denen auch Urmilas Familie gehört, leben als Bauern auf den unteren Stufen der Hierarchie Nepals. Durch die Armut der Eltern sehen sie sich oft gezwungen, ihre Mädchen gegen eine zu niedrige Bezahlung wegzugeben.Je nach Vertrag arbeiten die Mädchen für nur einen Franken Lohn pro Jahr.
Urmila Chaudhary ging nicht zur Schule und arbeitete täglich bis zu 20 Stunden. Doch zerbrochen ist sie daran nicht.
annabelle: Urmila Chaudhary, als Sie sechs Jahre alt waren, sagten Ihnen Ihre Eltern, dass Sie fortan als Kamalari arbeiten müssten.
Urmila Chaudhary: Ich lebte davor ein glückliches Leben mit anderen Kindern. Aber ich empfand es zuerst nicht als schlimm, weggehen zu müssen. Dies war bei den Tharu so üblich; sobald eine Familie zwei Mädchen hatte, wurde mindestens eins weggeschickt. Ich hatte also keine Wahl. Meine Eltern sagten mir, dass ich mit dem Bus in die Hauptstadt Kathmandu fahren würde. Darauf freute ich mich so; ich hatte ja noch nie einen Bus gesehen, ja noch nicht einmal ein Velo. Und mein älterer Bruder versprach mir ein paar neue Schuhe, sobald ich ging. Ich hatte bis da überhaupt noch nie Schuhe besessen! Ich fühlte also vor allem eine grosse Vorfreude. Bald war der Tag gekommen, und mein Bruder begleitete mich zum Bus.
Hatten Sie überhaupt eine Ahnung, was auf Sie zukommen würde?
Nein. Als ich bei der Familie ankam, musste ich immer nur arbeiten. Jeden Tag, bis um Mitternacht. Und am nächsten Tag um vier Uhr wieder aufstehen. Geschlafen habe ich auf dem Boden. Ich musste putzen, kochen. Nur zweimal am Tag habe ich etwas zu essen bekommen, obwohl ich immer Hunger hatte. Ich war so klein, dass ich einen Stuhl brauchte, um an die Kochtöpfe zu kommen. Nach einiger Zeit begriff ich, dass dies nun mein neues Leben sein würde. Ich begann, mir viele Fragen zu stellen. Warum darf ich nicht bei meinen Eltern sein? Warum bin ich hier? Wer bin ich? Manchmal konnte ich die Leute draussen beobachten, sie waren so glücklich, mit ihren Familien. Aber ich hatte keine Familie. Das machte mich wütend. Aber was konnte ich tun?
Sie hatten während der zehn Jahre als Kamalari keinen Kontakt zu Ihrer Familie?
Nein. Allerdings war ich in den zehn Jahren in zwei Familien. Bei der ersten wusste ich, wie es meiner Familie ging. Meine Hausherren informierten mich sporadisch. Dort liessen sie mich auch ab und zu aus dem Haus. Die Familie hatte ein Kind, und ich durfte es zur Schule bringen. In der zweiten Familie erfuhr ich aber nichts mehr von meiner Familie, die Hausherrin kümmerte sich nicht darum, mich zu informieren. Dieses Haus durfte ich auch nie verlassen.
Warum wechselten Sie die Familie?
Die beiden Familien waren miteinander verwandt, und als die eine Tochter heiratete, wurde ich ihr als Kamalari geschenkt.
Wie war Ihre Beziehung zu dieser Frau?
Es gab keine. Ich war ja nur dort, um zu arbeiten. Manchmal wollte ich rausgehen, an die frische Luft. Aber meine Maharani, die Hausherrin, verbot es mir und drohte, die Polizei zu rufen, damit sie mich in eine Zelle sperren können.
Was gab Ihnen die Kraft, weiterzumachen?
Ich hatte einfach keine andere Wahl. Ich hatte ja kein Geld, und meine Familie war zu weit weg. Ich musste einfach dort bleiben.
Wie konnten Sie schliesslich Ihrer Hausherrin entfliehen?
Es gibt eine Organisation, die nennt sich Nepal Youth Foundation (NYF). Sie haben im Jahr 2000 angefangen zu evaluieren, wie viele Tharu-Mädchen als Kamalari arbeiten mussten. So stiessen sie auf meinen Namen. Doch sie konnten mich nicht finden; niemand wusste, wo ich war. Dann passierte ein glücklicher Zufall: Einer meiner älteren Brüder ist gut ausgebildet und politisch aktiv. Ihn sah ich eines Tages im Fernsehen. Er war durch die NYF in die Stadt gekommen, um gegen das Kamaiya-System zu demonstrieren. Das ist ähnlich wie das Kamalari-System, allerdings für Knaben. Ich fragte also meine Hausherrin immer wieder, ob ich nicht zu meinem Bruder dürfe. Zuerst hiess es immer Nein. Ich drohte, in einen Hungerstreik zu treten, aber erst nach langem betteln liess sie mich schliesslich zu ihm. So konnte ich endlich kurz mit ihm sprechen. Er gab mir eine Nummer, die ich wählen sollte, sobald ich nachhause wollte. Es war die Nummer der NYF. Ich rief an, und bald standen sie vor der Tür meiner Hausherrin. Da das Kamalari-System zu diesem Zeitpunkt bereits stark bekämpft wurde durch die NYF, lief meine Befreiung ruhig ab. Die NYF informierte meine Hausherrin und nahm mich mit. So war ich frei und konnte mit meinem Bruder nachhause. Am selben Tag habe ich mir selbst versprochen, alles zu tun, um gegen dieses schreckliche System zu kämpfen. Das war 2007. Damals waren schon viele Kamalari-Mädchen gerettet worden, aber ich wollte mithelfen, bis es gar keine mehr gab. Kein Mädchen in Nepal sollte mehr als Kamalari arbeiten müssen.
Wie fühlte sich die Freiheit an?
Zuerst war es komisch. Durch die Hilfe der NYF konnte ich endlich zur Schule gehen. Ich war zwar viel älter als alle anderen, schon 17. Ich wurde oft verspottet, doch ich ignorierte es einfach. Mein Ziel war, eine gute Ausbildung zu erhalten, um später Anwältin zu werden und noch mehr Macht gegen die Unterdrückung der Mädchen zu haben.
Wie haben Sie schliesslich begonnen, gegen das Kamalari-System zu kämpfen?
Als ich befreit wurde, waren bereits andere Kamalari befreit worden. Wir wollten gemeinsam etwas unternehmen, es gab aber keine richtige Organisation. Mit Hilfe der NYF konnten wir uns schliesslich richtig organisieren, hatten ein Büro, Gebäude für die geretteten Mädchen. Schliesslich gründeten wir das Freed Kamalari Development Forum und konnten auch mit der Regierung diskutieren. Wir organisierten Demonstrationen und verteilten Prospekte, um die Bevölkerung zu sensibilisieren. Endlich, nach vielen Rückschlägen, wurde das Kamalari-System 2013 von der Regierung verboten. Zu viel Druck von aussen, von Organisationen wie der NYF, zwang sie zu diesem Entschluss.
Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie verkündeten, Aktivistin zu werden?
Natürlich waren sie zuerst nicht glücklich. Viele Menschen aus der Nachbarschaft wollten mir verbieten, mich zu engagieren. Weil sie es nicht besser wussten. Denn das ist immer noch das grösste Problem, dass die armen Menschen keine Bildung erhalten und sich keine sichere Existenz aufbauen können. Darum ist unser Kampf so wichtig; alle Mädchen sollen Bildung erhalten, damit sie es ihren Kindern und Verwandten weitergeben können. Nur so können sie der Armut entkommen. Meine Familie hat das inzwischen verstanden und unterstützt mich sehr.
Wie fühlt es sich an, über Ihre Vergangenheit zu reden?
Am Anfang war es schwer für mich, es machte mich traurig. Ich habe nicht verstanden, warum sich die Leute so für meine Vergangenheit interessierten. Ich erinnerte mich nur an alles Schlechte: keine schönen Kleider zu haben, keine Spielsachen. Dass ich nie ein Picknick machen oder auf den Markt gehen konnte. Nicht zu wissen, was Schule ist und was man dort macht. Aber dann wurde ein Artikel über mich veröffentlicht in der Zeitung, und viele Menschen kamen zu mir und wollten mir die Hand schütteln. Sie wollten sich bei mir bedanken für die harte Arbeit, die ich inzwischen leistete, um das Kamalari-System zu bekämpfen. So hat mir schliesslich meine Vergangenheit die Kraft gegeben, mich zu wehren, um nun das Leben führen zu können, das ich will.
Vor uns liegt ein Zeitungsartikel über Ihre Geschichte, mit Ihrem Bild. Was empfinden Sie, wenn Sie das sehen?
Ich bin glücklich. Weil es meine Geschichte erzählt und die Leute so wissen, wer ich bin und warum ich hier bin.
Sind Sie manchmal wütend auf Ihre Eltern, dass sie Sie weggeschickt haben?
Ab und zu. Aber sie hatten halt keine Wahl; sie wussten es nicht besser.
Möchten Sie auch einmal Kinder haben?
Ja, wenn ich mal heirate, dann sicher. Ich denke, es ist wichtig, dass man Kinder hat. Aber im Moment kommt das für mich noch nicht in Frage; der Fokus liegt auf meiner Arbeit.
Das Kamalari-System ist inzwischen verboten, nur noch wenige Mädchen müssen befreit werden. Wofür setzen Sie sich sonst noch ein?
Es gibt viele Baustellen mit der Regierung. Die Budgets für die Ausbildung der Kamalari-Mädchen sind sehr tief. Diese müssen wir erhöhen. Dann gibt es in Nepal Kinderheirat und weiterhin Kinderarbeit. Seit dem Erdbeben zudem viel Kinderhandel. Es gibt noch viel zu tun. Aber mit der Unterstützung der Regierung können wir es schaffen. In Nepal haben wir zum ersten Mal eine Präsidentin und eine Justizministerin. Das zeigt, dass Frauen es mit einer guten Ausbildung weit bringen können. Ich bin zuversichtlich, dass in der Zukunft alle Frauen in Nepal eine gute Ausbildung erhalten.
Was ist das Wertvollste in Ihrem Leben?
Meine Freiheit. Und das will ich für alle Mädchen erreichen. Wenn wir weiterkämpfen, können wir es schaffen!
– Weitere Informationen: nepalyouthfoundation.org und plan.ch
Urmila Chaudhary an einem Treffen ihrer Organisation «Freed Kamalari Developement Forum»
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