Weltweit leben 700 Millionen Frauen, die als Minderjährige verheiratet wurden. Dies zeigt eine neue Studie des Kinderhilfswerks Save the Children. Obwohl das Bewusstsein für geschlechterspezifische Diskriminierung und ihrer Konsequenzen noch nie so hoch war wie heute, fehlt es vielerorts an politischem Willen, gegen Kinderheiraten vorzugehen. Das ist beschämend. Trotzdem: Es gibt Hoffnung.
Die Zahlen sind schockierend: Weltweit gibt es insgesamt 700 Millionen Frauen, die vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet wurden. Jede Dritte von ihnen ist bei ihrer Hochzeit unter 15, manche gar kaum älter als 10. Setzt sich dieser Trend fort, und damit ist aufgrund der schnell wachsenden globalen Bevölkerungszahlen zu rechnen, wird die Anzahl der Frauen, die als Minderjährige verheiratet werden, bis ins Jahr 2030 auf 950 Millionen ansteigen, bis 2050 gar auf 1.2 Milliarden – ein Siebtel der heutigen Weltbevölkerung. Dies zeigt ein Bericht des Kinderhilfswerks Save the Children, der zum diesjährigen Weltmädchentag veröffentlicht wurde. Und die Liste der Länder, in denen Kinderheiraten (18 Prozent davon betreffen Jungen) zum Alltag gehören, ist lang: Kinder werden in Afghanistan, Indien und Pakistan verheiratet, in Bangladesch, Somalia, Mali, Madagaskar, im Südsudan, Jemen und in Niger, in Brasilien, Guatemala oder Haiti. Kinderehen kommen aber auch in Georgien vor, in der Türkei oder der Ukraine.
Die Zahlen und die Länge der Länderliste sind beschämend: Kann es sein, dass heute, im Jahr 2016, in einer Zeit, da das Bewusstsein für geschlechterspezifische Diskriminierung endlich so hoch ist, dass sexistische Äusserungen von Präsidentschaftskandidaten und anderen Würdenträgern gesellschaftlich geächtet werden, die Zahl der Kinderehen nicht zurückgeht, ja nicht einmal stagniert, sondern zunimmt? Kann es sein, dass heute, im Jahr 2016, noch immer 8-jährige Mädchen aufgrund schwerer Verletzungen im Genitalbereich nach ihrer Hochzeitsnacht verbluten, weil sie von ihrem viel älteren Ehemann vergewaltigt wurden? Kann es sein, dass heute, im Jahr 2016, konservative Kräfte immer wieder Vorstösse blockieren, die das Mindestheiratsalter von Mädchen auf 18 festlegen und gesetzlich verankern wollen, und ihr «leider nein» mit kulturellen und religiösen Argumenten begründen können? Kann es sein?
Es ist so. Dies, obwohl jede einzelne Frühverheiratung, man weiss es längst, verheerende Folgen hat für jedes einzelne betroffene Mädchen: So ist die Sterberate bei 10- bis 14-jährigen Schwangeren fünfmal, jene bei 15- bis 19-jährigen doppelt so hoch, wie bei Frauen über 20. Zudem bedeutet eine frühe Ehe oftmals, dass das Mädchen nicht mehr in die Schule darf und stattdessen als billige Arbeitskraft gehalten wird. Selbst wenn es weiterhin die Schule besuchen könnte, scheitert dies daran, dass in den betroffenen Ländern kaum Schulen für verheiratete Mädchen existieren. Die Konsequenzen für die jeweiligen Länder, auch das weiss man längst, liegen auf der Hand: Wird das Potential eines Grossteils der weiblichen Bevölkerung beschnitten, behindert dies die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft. Der Teufelskreis aus Armut, Analphabetismus und Gewalt dreht sich weiter, und Eltern, die in dieser Spirale gefangen sind, werden kaum eine andere Lösung sehen, als ihre Töchter in die Ehe zu verkaufen. Weil sie sich eine sichere Zukunft für sie wünschen. Oder um Schulden zu begleichen. Oder um das Haushaltseinkommen aufzubessern. Oder um sicherzustellen, dass das Mädchen seine Jungfräulichkeit nicht im unehelichen Zustand verliert und dadurch Schande über seine Familie oder seinen Clan bringt. Aus diesen Gründen grassieren Kinderehen gerade auch in den Flüchtlingscamps in Jordanien, im Libanon, im Irak und in der Türkei. Tendenz steigend. Auch hier.
Unlängst hat sich die internationale Gemeinschaft in ihren Nachhaltigkeitszielen, den sogenannten Sustainable Development Goals dazu verpflichtet, die Frühverheiratung bis 2030 zu eliminieren. Das ist gut und zwingend. Doch es ist eine Herkulesaufgabe. Denn es gilt dabei nicht nur, das toxische Geflecht aus Tradition, Patriarchat, Religion und Stammesstrukturen zu durchbrechen, die die treibenden Kräfte hinter Kinderehen sind, sondern auch gegen das Label Soft Issue anzukämpfen, das sogenannten Frauenangelegenheiten hartnäckig anhaftet, wodurch sie jegliche politische Dringlichkeit verlieren.
Denn obwohl geschlechterspezifische Gewalt und Diskriminierung (hierzu zählt etwa auch die Genitalverstümmelung von Mädchen und sexualisierte Gewalt) immer wieder angeprangert werden, wirklich getan wird kaum etwas dagegen, und wenn, dann nur zögerlich. Seit Jahrzehnten rufen Fachleute, einflussreiche NGOs, ja selbst höchste Uno-Gremien Regierungen, Behörden und Konfliktparteien aller Couleur dazu auf, Frauen zu schützen, ihre Grundrechte zu stärken. Doch um aus den Soft Issues Hard Issues zu machen, fehlt es an Geld, zu schwach ist der Druck auf Regierungen, Rechenschaft über die Umsetzung abzulegen, es mangelt an Interesse. Wohl auch deshalb, weil man sich gerade in Zeiten von Konflikten mit «wichtigeren» Dingen auseinandersetzen will als mit «Frauenangelegenheiten». Nicht umsonst heisst es oft: «Zuerst der Frieden, dann die Frauen.» «Frauenangelegenheiten», wie eben die gesetzliche Verankerung und konsequente Umsetzung des Mindestheiratsalters 18, sind denn oft das Erste, das in (noch immer meist männlich dominierten) Friedensverhandlungen von der Liste gestrichen wird, wenn es darum geht, die gegnerische Seite für Kompromisse zu gewinnen oder politische Allianzen zu schmieden. Man will sein Gegenüber schliesslich nicht mit Frauensachen in Verlegenheit bringen. Die Rechte von Frauen gelten als „the low hanging fruit“. Die lassen sich jederzeit für jeden Zweck am leichtesten pflücken.
Dabei ist längst bekannt, dass Frieden und Stabilität nur dann gedeihen können, wenn Frauen und Männer die gleichen Chancen und Rechte haben und das wirtschaftliche, politische und soziale Leben aktiv und gleichberechtigt mitgestalten können. Mehr noch, die rechtliche, wirtschaftliche und politische Stärkung von Frauen gilt als zentrale Massnahme in der Prävention von Extremismus und Terrorismus. «In Zeiten, da Terrorgruppen die Unterwerfung von Frauen zuoberst auf ihre Agenda setzen», sagte Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon, «müssen wir die führende Rolle von Frauen und die bedingungslose Umsetzung der Menschenrechte zuoberst auf der unseren haben.» Dies tatsächlich zu tun, würde aber die jeweiligen Regierungen in die Pflicht nehmen; würde bedeuten, die eigene Wirtschaft herauszufordern, allen voran Militärausgaben und Rüstungsexporte in einem anderen Licht zu betrachten, ihren Sinn kritisch zu hinterfragen, die Gelder anders einzusetzen. Denn Sicherheit ist nicht nur militärisch zu verstehen, sondern auch als eine soziale und wirtschaftliche Herausforderung. Aber auch das weiss man längst. Was auf dem internationalen Parkett der Big Player fehlt, sind Führungspersonen mit Wissen, Weitsicht, Willen und Mut.
Nun heisst dies nicht, dass solche Figuren gar nicht existieren. Es gibt sie, aber es sind Einzelmasken, weit abseits des internationalen Parketts; Individuen, die oft ihr Leben riskieren, um ihre Gesellschaft vorwärtszubringen. Eine davon ist Theresa Kachindamoto, Bürgermeisterin des Distrikts Dedza im südostafrikanischen Land Malawi, sie ist Oberhaupt über gut 900 000 Menschen. Bis 2012 wurde gemäss Uno in Malawi über die Hälfte der Mädchen vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet, vor einem Jahr ist das Mindestheiratsalter 18 zwar gesetzlich verankert worden, doch tat dies der Praxis der Frühverheiratung kaum Abbruch. Theresa Kachindamoto hatte es satt, 12-jährige Mädchen mit Babys im Arm auf den Strassen zu sehen, und machte kurzen Prozess: Kraft ihres Amts lässt sie die Ehen annullieren und schickt die Mädchen und die Jungen in die Schule zurück, bezahlt ihr Schulgeld nicht selten aus eigener Tasche. Gleichzeitig arbeitet sie mit Müttergruppen, mit Lehrern und religiösen Führern, um sie über die verheerenden Folgen von Kinderehen aufzuklären. Über 850 Eheschliessungen hat sie in den vergangenen drei Jahren rückgängig gemacht. Männliche Beamte, die sich weigerten, die Annullation der Ehen zu unterzeichnen, enthob sie so lange ihres Amts, bis sie taten, wie ihnen befohlen war. Theresa Kachindamoto wird für ihre harte Hand gefeiert, gleichzeitig aber auch gehasst. Eltern und Gemeindemitglieder stellen sich gegen sie, sie erhält Todesdrohungen. Das aber beeindruckt die Bürgermeisterin wenig. «Sobald die Mädchen eine gute Bildung haben», wird sie auf inhabitots.com zitiert, «können sie sein und haben, was sie wollen.»
Es sind solche kleine Big Player, die Hoffnung machen.