Leben
Mit Kamera und Charisma: Der New Yorker Fotograf Glenn Glasser
- Text: Christina Duss; Fotos: Yves Bachmann, Glenn Glasser
Der New Yorker Fotograf Glenn Glasser schafft es wie kein Zweiter, Leute in «echten Momenten» zu porträtieren. Wie gelingt ihm das? Bei seinem Familien-Modeshooting für annabelle konnten wirs erahnen.
Gerade als sich Debbie Chenet und Roger Gold so richtig heftig zungenküssten, drückte Glenn Glasser ab. Er sass ganz hinten im Schulbus und hatte die neue Kodak-Kamera – ein Geschenk seiner Mutter – um den Hals gehängt. Er beschloss, die Fotos zu entwickeln, und verteilte sie am nächsten Tag auf dem Pausenplatz. Dafür wurde er vom Rektor suspendiert.
Mittlerweile wird Glenn Glasser nicht mehr fürs Bildermachen bestraft, sondern ziemlich gut bezahlt. Er ist vierzig und ein heiss begehrter Fotograf, seit er das «New York Magazine» mit seinem speziellen Stil zum Kultheftli aller Styler machte. Er ist bekannt für seine Porträtfotografien, schlichte Bilder, meist vor weissem Hintergrund. Was seine Bilder so magisch macht, ist die Tatsache, dass er es immer schafft, einen ganz speziellen Augenblick einzufangen: den Moment, in dem sich die Porträtierten unbeobachtet fühlen. «Das kriegt man hin wie ein Arzt, der ablenkt und gleichzeitig die Spritze setzt», sagt er. In Glenn Glassers Fall heisst das: Er schafft eine Atmosphäre, in der sich die Menschen wohlfühlen und entspannen, denn «echte Momente», davon ist er überzeugt, sind nur dann überhaupt erst möglich. «Die Leute müssen ihren Schutzschild fallen lassen und vergessen, dass sie in einem Studio sind und von 18 Fremden angestarrt werden.»
«Ich bin von Natur aus ziemlich relaxed»
Und so beginnen seine Shootings in der Regel, lange bevor er auf den Auslöser drückt. Dann nämlich, wenn er schon beim ersten Smalltalk blitzschnell Infos über sein Gegenüber sammelt. Man kommt leicht mit ihm ins Gespräch, er ist ein warmherziger, witziger New Yorker, das entspannt augenblicklich. Einer, der gern von seinen schrägen Angewohnheiten erzählt: «Wenn ich nichts zu tun habe, kaufe ich Domains.» Mit solchen Sätzen bringt er die Leute zum Lachen, danach fordert er sie zum verbalen Schlagabtausch heraus, etwa wenn er mitten im Gespräch Wortspiele macht und «vor vielen Ex-Freundinnen» statt «vor vielen Jahren» sagt. Manchmal ist seine Neugierde auch so gross, dass er sein Vis-à-vis unverhohlen ausfragt. «Ich bin von Natur aus ein empathischer Mensch und ziemlich relaxed. Und von mir sind ja auch keine Hirnoperationen gefragt – es geht nur um Fotos.»
Es erstaunt nicht, dass die Menschen, die er abbildet, glücklich aussehen. «Ich mag es, sie in einer positiven Art darzustellen. Das macht high. Ihre positive Ausstrahlung macht auch mich glücklich, ich habe auch etwas davon», sagt er und scheut sich nicht, zur Untermauerung in einem Nebensatz einen Philosophen zu zitieren. Glenn Glasser ist in die Schweiz gekommen, um zwölf Familien zu fotografieren. Mit dem familiären Leben kennt er sich bestens aus. Obwohl er seit 15 Jahren im New Yorker Stadtteil Williamsburg wohnt und, wie sich das für einen erfolgreichen Stadtmenschen gehört, ein Wochenendhaus in Montauk, Long Island, besitzt, ist er nicht nur mit dem Glamour der Grossstadt vertraut, sondern auch mit dem einfachen Leben in einem kleinen Kaff im Westen von Pennsylvania: Sein Vater war Dorfarzt, die Kinder bekamen in der Wildjagd- und Forellensaison jeweils schulfrei. «Wir spielten ständig irgendwo draussen in der Wildnis, und meine Mum schrie einfach ins Freie raus, wenn das Abendessen fertig war. Es gab bei uns keine verschlossenen Türen.»
Vom Medizinstudenten zum Fotografen
Für ihn sei es die natürlichste Sache der Welt, Familien zu fotografieren, mit allem, was zu diesen Konstellationen dazugehöre: Liebe, Wut, Affären, Wünsche und Hoffnungen. Er selbst hat sich zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn einer Familientradition gefügt und studierte in Chicago Medizin, so wie sein Vater und sein Grossvater. Doch dann verliess er die Medical School und die Stadt aus Liebeskummer. «Meinen Erfolg verdanke ich der Tatsache, dass meine Ex mein Herz gebrochen hatte», sagt er sarkastisch. Glasser floh nach New York und begann, sein Portfolio herumzuzeigen, schaffte es, mit Fotografie-Ikonen wie Annie Leibovitz zusammenzuarbeiten, und machte sich einen eigenen Namen.
Jener neugierige Junge, der sich in den Kopf gesetzt hatte, genau das Bild zu kriegen – so wie damals, bei seinem ersten Zungenkussfoto im Schulbus –, scheint er bis heute geblieben zu sein. Beim annabelle-Modeshooting merkt man, dass er sich für Leute interessiert, ganz generell: Für den rothaarigen Jungen, der still am Boden malt. Den Fotoassistenten, den Glasser nach zwei Minuten beim Namen ruft. Er rückt die Familien vor seiner Linse zurecht, überlässt sie dann sich selbst. Und dann beginnen die meisten, so miteinander umzugehen, wie sie das auch sonst tun: Die Grossmutter hebt die Enkelin hinauf und wirbelt sie im Kreis, so lange, bis die Kleine in Schlangenlinien geht. «Ich fotografiere immer so, als wäre das gerade mein letztes Bild», sagt Glenn Glasser. «Man weiss nicht, wann man eine nächste Chance kriegt. Ich fühle mich nicht wohl, wenn mein Name unter einem Bild prangt, hinter dem ich nicht stehen kann.»
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Total unverkrampft: New Yorkerinnen und New Yorker, fotografiert von Glenn Glasser.
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Fotografenkollege Mark Seliger (l.) mit Fred Woodward, Creative Director beim Magazin «GQ».
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