«Künstlerinnen haben in der Schweiz aufgeholt»
- Interview: Viviane Stadelmann; Foto: Alicia Zinn, Pexels
Früher waren Frauen in der Kunst vor allem an einem Ort präsent – als Motiv auf dem Bild, häufig nackt. Wieso? Und wie hat sich die Situation bis heute entwickelt? Wir haben Linda Schädler, Leiterin der Graphischen Sammlung ETH Zürich, gefragt.
Schaut man sich in Museen um, scheint es, als waren Frauen in der Kunst von der Antike bis zur Moderne besonders an einem Ort auffindbar: auf einem Gemälde, von Männern gemalt – häufig nackt.
Die Frau war lange Zeit tatsächlich vor allem als Motiv in der Kunst präsent und selten als Künstlerin. Oft war die Frau die Vertreterin einer Göttin, was eine gute Möglichkeit war, um sie nackt darzustellen, ohne anstössig zu wirken. Auch im häuslichen Umfeld wurde die Frau häufig gemalt.
Entsprach das Bild der Frau in der Kunst also vor allem dem des Mannes?
Es herrschte damals ein grundsätzlich anderes Verständnis vor, in welcher soziologischen Sphäre sich eine Frau bewegt und in welcher der Mann. In diesem Sinn ja, es war eine Geisteshaltung, die nicht hinterfragt wurde. Aber es gab Ausnahmeerscheinungen.
Wer waren die Ausnahmen?
Im 18. Jahrhundert zum Beispiel Angelika Kaufmann und Mary Moser, zwei Schweizerinnen, die gar Gründungsmitglieder der Royal Academy of Arts in London waren und in der Kunst wichtige Positionen einnahmen. Auf dem Gruppenbild von Johann Zoffany, das alle Gründungsmitglieder zeigt, kommen beide jedoch nur als Bild im Bild vor – denn die Szene zeigt die Künstler mit einem männlichen Aktmodell, und am Aktzeichnen durften Frauen aus moralischen Gründen nicht teilnehmen.
Wie konnten sie sich behaupten?
Entscheidend war, ob einem der Zugang zur künstlerischen Tätigkeit gewährt wurde und aus welcher Familie man stammte. Beide hatten Väter, die sie sehr gefördert hatten. Kaufmann war für ihre Porträts international bekannt, Moser wurde vom Publikum für ihre Blumenstillleben geschätzt. In der Fachwelt galt aber ein Stillleben als niedere Gattung. Die angesehenste Gattung, die Historienmalerei, blieb wiederum Männern vorbehalten.
Hinter vielen berühmten Künstlern standen oft Frauen, die selber Malerinnen waren. Hinderte der Begriff der Muse die Frauen daran, öffentlich vor die Leinwand zu treten?
Ich glaube nicht, dass dies nur mit dem Begriff der Frau als Muse zu tun hatte. Es war aber tatsächlich so, dass es diese persönlichen und für die Frau ungünstigen Konstellationen häufig gab, besonders etwas später an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Schülerin und Geliebte von Auguste Rodin zum Beispiel, Camille Claudel, musste aufgrund seiner Dominanz stark im Hintergrund bleiben und konnte wenig eigenen Erfolg verzeichnen. Im Allgemeinen war es für die Frauen grundsätzlich schwieriger, als Künstlerin anerkannt zu werden.
Wann hat sich die Rolle der Frau in der Kunst gewandelt?
Entscheidend für die Entwicklung der Frauen in der Kunst war die Möglichkeit, an einer Kunstakademie oder Kunsthochschule ein Studium absolvieren zu können. In Frankreich beispielsweise wurden die Frauen erst 1897 an der École des Beaux-Arts für ein Kunststudium zugelassen.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz war es noch später der Fall: Hier gab es die Schweizerische Gesellschaft der Maler und Bildhauer. Ferdinand Hodler war bis 1918 deren Präsident und stemmte sich sehr dagegen, Frauen aufzunehmen. Zugelassen wurden sie schliesslich erst 1972. Das ging einigen zu lang: 1902 hatten Frauen in Lausanne beschlossen, eine eigene Schweizerische Gesellschaft der bildenden Künstlerinnen zu gründen.
Wie hat die männliche Dominanz in der Kunstgeschichte die heutige Rolle der Künstlerin geprägt?
Männer waren lange Zeit die grossen Namen in der Kunst und konnten deshalb ihre Vorherrschaft behaupten. Aber in den 70er-Jahren hat sich dank des Feminismus diesbezüglich viel getan, als sich die Frauen gegen die Dominanz der Künstler aufzulehnen begannen. Kunsthistorikerin Linda Nochlin beispielsweise sorgte für Aufsehen, als sie 1971 ihren Essay mit dem Titel «Why have there been no great Women Artists?» veröffentlichte. Nach den 68er-Aufständen erwachte das Verständnis für Gender und somit die Einsicht, dass man nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziales Geschlecht ist, geknüpft an soziologische Strukturen mit ökonomischen Bedingungen. Gerade mit Nochlin gab es eine Verschiebung des Blickwinkels und man thematisierte auch, wen die Museen ausstellten, allen voran Aktivistinnen die Guerilla-Girls in den 80ern.
«Do women have to be naked to get into the Met. Museum?», fragten die Guerilla-Girls 1989. Im Met zählten sie in den Ausstellungen der Modernen Kunst die Werke von Künstlerinnen – es waren weniger als fünf Prozent. Im Gegenzug zeigten 85 Prozent der Sujets nackte Frauen. Schaut man sich berühmte zeitgenössische Performancekünstlerinnen wie Marina Abramovic an, sind auch diese häufig nackt und gehen nicht gerade zimperlich mit ihrem Körper um. Muss die Kunst von Frauen so extrem sein, um sich freizumachen von der Fremdbestimmung?
Jede Künstlerin hat eine andere Herangehensweise, deswegen finde ich es schwierig, zu verallgemeinern. Aber Performancekünstlerinnen wie etwa Valie Export oder Marina Abramovic nutzen ihren Körper schon seit den 1970er-Jahren ganz klar auch als politischen Körper, und solche Positionen sind für die Anerkennung von Künstlerinnen sehr wichtig gewesen. Welche Botschaft sie vermitteln, ist aber von Künstlerin zu Künstlerin unterschiedlich.
Zwängen sich Frauen nach der grossen Befreiungswelle der 70er-Jahre mit ihrem Bestreben, sich heute feministischen Themen in der Kunst zu widmen, auch selbst wieder in ein Korsett?
Was mir auffällt, ist ein neues Selbstbewusstsein der Künstlerinnen. Schaut man sich zum Beispiel Pipilotti Rist an, ist ihre Kunst eine wichtige Position für die Frauen, aber damit stellt sie sich keinesfalls in ein Abseits. Sie ist international für ihre Kunst anerkannt und nicht, weil sie als Frau feministische Themen anschnitt. Dennoch ist es immer noch sehr wichtig, ein Bewusstsein für das Geschlechterverhältnis in der aktuellen Kunstszene zu haben. Denn wenn man in einem Museum durch eine Sammlung läuft, werden auch heute noch mehr Künstler als Künstlerinnen ausgestellt – leider auch in der Gegenwartskunst.
Sie sprechen an, dass in zeitgenössischen Museen, international und national, Werke von Künstlerinnen noch stark unterrepräsentiert sind. Das sieht man auch bei institutionellen Sammlungseinkäufen. Man sollte meinen, dass die Kunstbranche progressiver ist als andere Berufssparten.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kunstbranche eine lange Tradition hat, deren Einfluss auch heute noch spürbar ist. Ein Museum mit einer Sammlung hat seine Geschichte, die üblicherweise von Künstlern geprägt ist. Daher ist es wichtig, dass man sich beim Sammeln, Fördern und Ausstellen dieses Phänomens bewusst ist und gute Künstlerinnen genauso selbstverständlich präsentiert wie gute Künstler. Dies hängt meiner Meinung nach auch mit der Einstellung der Museumsleitung zusammen, die entscheiden, was gekauft und gezeigt wird.
Um in der Kunstszene erfolgreich zu sein, muss man sich im Kunstmarkt behaupten. Wie schneiden da Künstlerinnen ab?
Der Kunstmarkt ist ebenfalls noch eher männerdominiert, Künstler erzielen im Schnitt höhere Preise. In der Schweiz haben die Frauen aber erfreulicherweise aufgeholt. Unter den Top Twenty der wichtigsten zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler sind gemäss Bilanz Rating 2018 neun Frauen dabei, unter anderem Pipilotti Rist, Silvia Bächli und Sylvie Fleury.
Diese Ratings der Kunstszene beziehen sich auch auf den Marktwert, eine undurchschaubare Grösse. Wie setzt sich dieser zusammen?
Der Marktwert hängt damit zusammen, wie oft jemand ausgestellt wird, als wie relevant Expertinnen und Experten die Arbeit betrachten, wie häufig sie rezipiert wird, ob in den Zeitungen darüber geschrieben wird, ob es Sammlerinnen und Sammler gibt, die anfangen, Werke zu erwerben – das alles beeinflusst den Marktwert. Die Visibilität macht viel aus – und ob das Werk den Zeitgeist trifft.
Was ist gerade Zeitgeist?
Auffällig ist eine neue Ernsthaftigkeit. Es gibt viele junge Kunstschaffende, die politische Themen aufgreifen, die kritisch sind und sich vom Nihilistischen der 90er-Jahre entfernen. Zudem erlebt Textilkunst überraschenderweise ein Revival.
Welche jungen Schweizer Künstlerinnen finden Sie zurzeit besonders spannend?
Da gibt einige! Zum Beispiel Lena Maria Thüring mit ihren Videoarbeiten, in denen sie familiäre oder grundsätzlich soziale Konstellationen thematisiert, dann auch Mai-Thu Perret, die unter anderem in einem Langzeitprojekt eine fiktive Parallelgesellschaft einer Frauenkommune entwickelte oder Shirana Shahbazi mit ihren Fotografien, die sie übrigens seit neustem auch zu Teppichen knüpfen lässt.
– Am Dienstag, 23.10.2018, 18:30 – 19:30 findet die Diskussionsrunde «Im Fokus – Geld, Gender, Lebenskunst? Ein Dialog über die Zeiten hinweg» mit Dr. Linda Schädler und Prof. Dr. Hildegard Keller an der ETH Zürich statt.
Aktuelle Ausstellung: Ratings der berühmtesten Kunstschaffenden machen regelmässig die Runde. Doch wie entstehen und entstanden solche Listen und damit ein Kanon, in dem die Wichtigkeit von einzelnen Positionen definiert wird? Damit beschäftigt sich «Relax (chiarenza & hauser & co) – was wollen wir behalten? (what do we want to keep?)» in der Graphischen Sammlung noch bis am 28. Oktober.