Zeitgeist
Journalistin Shiva Arbabi: «Wir haben das, was im Iran passiert, viel zu lange ignoriert»
- Text: Isabel Gajardo
- Bild: Adrian Portmann
Die schweiz-iranische Radiomoderatorin und Aktivistin Shiva Arbabi hat den iranischen Protestsong «Baraye» auf Deutsch übersetzt und mit zehn Schweizer Musiker:innen aufgenommen. Mit uns sprach sie über das Projekt, die aktuelle Lage im Iran und die Verantwortung der Schweiz.
annabelle: Was hat Sie auf die Idee gebracht, das Projekt «Swiss Artists for Free Iran» ins Leben zu rufen?
Shiva Arbabi: Das Leid, das meine Landsleute seit 44 Jahren im Iran ertragen müssen, ist im Ausland kaum bekannt. Die wenigsten wissen, was los ist. Als die Proteste anfingen, hiess es teilweise sogar aus kulturellen und feministischen Kreisen, das sei eine andere Kultur – und zu weit weg. Wir könnten darum nichts machen. Da habe ich gemerkt, dass viele Menschen in der Schweiz nicht begreifen, dass dieses Land ihnen näher ist, als sie glauben. Daran wollen diese revolutionäre Bewegung und ich etwas ändern.
Sie haben den Song «Baraye» von Shervin Hajipour auf Deutsch übersetzt. Warum genau dieses Lied?
Als der Song 2022 herauskam, ging er sofort viral und wurde zur Hymne der Proteste. Der Text besteht aus lauter Tweets, die von Iraner:innen geschrieben wurden. Shervin hat sie zu einem Lied zusammengesetzt und damit den Menschen aus dem Herzen gesungen. Wir wussten und verstanden ganz genau, was er singt. Ich dachte aber, dass der Song in der Schweiz nichts bewirken kann, wenn die Menschen nicht verstehen, worum es darin geht. Darum wollte ich ihn auf Deutsch übersetzen.
Wie schwer ist Ihnen das gefallen?
Ich wusste lange nicht, ob ich es schaffe. Am Anfang war mir gar nicht bewusst, wie komplex die Aufgabe sein würde. Ich wollte den Text angemessen übersetzen. Es gibt ja auch keinen Refrain, nur Strophen. Ein paar Mal hätte ich fast den Bettel hingeworfen. Aber jedes Mal fand ich, dass es auf Biegen und Brechen irgendwie gehen muss. Während im Iran junge Frauen auf die Strasse gehen, für ihre Menschenrechte kämpfen und für ihre Freiheit sterben müssen, ist dies das mindeste, was ich machen kann. Deshalb bin ich den Schweizer Musiker:innen unglaublich dankbar, dass sie dem Song «Frau, Leben, Freiheit» ihre Stimme gegeben haben.
«Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir jemals wieder zum Leben vor den Protesten zurückkehren werden»
Was kann denn Musik aus der Schweiz für die Menschen im Iran tun?
Ich will die Schweizer Öffentlichkeit mit dem Song aufrütteln. Es ist enorm wichtig, dass wir den Schweizer:innen klarmachen, dass ihr Bild vom Iran nicht der Realität entspricht. Die Mehrheit der Iraner:innen ist kaum mehr religiös, viele Menschen sind sehr gut gebildet und unglaublich modisch gekleidet. Aber die Islamische Republik hat es geschafft, ein verzerrtes Bild zu erzeugen. Es tut mir wahnsinnig weh, wenn ich sehe, wie man die Menschen im Iran einfach ignoriert, und dass die internationale Gemeinschaft nichts unternimmt, um ihnen zu helfen. Sie sollten diese Bewegung ernst nehmen und politisch unterstützen. Denn das, was im Iran passiert, ist auch für uns gefährlich.
Woran denken Sie konkret?
Das iranische Regime finanziert extremistische Organisationen, die dann im Ausland terroristische Aktivitäten ausüben. Das führt zu Krieg und Flüchtlingsströmen nach Europa. Ich will mit dem Song erreichen, dass sich die Leute damit auseinandersetzen, sodass wir zusammen das Thema aufrechterhalten können – und nicht einfach wieder vergessen. Dazu kann ich das Buch «Zwischen den Welten» von Natalie Amiri sehr empfehlen. Die deutsch-iranische Journalistin und Orientalistin erklärt anschaulich, wie sich die politische Situation seit der Revolution 1979 im Iran entwickelt hat.
Wie schätzen Sie die Situation im Iran aktuell ein?
Diese Proteste sind anders als alles, was wir bisher gesehen haben. Frauen gehen ohne Kopftuch auf die Strasse, sie tanzen oder fahren Velo auf der Strasse – das ist alles verboten. Man stelle sich das mal vor, wie diese Frauen ein Leben lang als Geisel genommen werden. Dabei sind die Iraner:innen ein so freiheitsliebendes Volk! Die junge Generation, die Gen Z, will das nicht mehr mitmachen. Ihre Grosseltern haben beides erlebt, die Zeit vor und nach der Revolution. Die Gen Z kennt nur das Leben unter dem Regime. Doch sie sind so westlich orientiert und kommen über VPN und Satelliten mit dem Ausland in Kontakt – sie wollen endlich frei sein. Vor kurzem habe ich einen Post auf Instagram gelesen, der mir extrem weh tut: «Unsere Seelen sind schon gestorben, wir opfern unsere Körper für die Freiheit.» Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir jemals wieder zum Leben vor den Protesten zurückkehren werden.
«Die Menschen haben keine Angst. Sie sind bereit, für ihre Freiheit zu sterben»
Denken Sie, dass die Proteste langfristig etwas verändern können?
Ja, es ist nur eine Frage der Zeit. Solange uns die westlichen Regierungen wie auch die Schweiz nicht unterstützen und ihre Versprechen für Menschenrechte nicht einhalten, werden wir es schwerer haben, aber es gibt kein Zurück. So etwas hat es noch nie gegeben. Noch nie haben Proteste über neun Monate angehalten. Und die Menschen haben keine Angst. Sie sind bereit, für ihre Freiheit zu sterben. Ich weiss nicht, ob ich das könnte.
Wie geht es Ihnen dabei, die Proteste aus der Distanz verfolgen zu müssen?
Am liebsten würde die iranische Diaspora ja sofort in den Iran gehen, um zu kämpfen. Leider ist das nicht möglich. Wir können nur von hier aus laut sein. Ich kenne Leute, deren Familie oder Freund:innen im Iran entführt worden sind. Ich kann von Glück reden, dass ich diese Erfahrung nicht machen musste und eine gewisse Distanz habe. Die Belastung wäre sonst eine ganz andere. Es ist ein Privileg, hier aufgewachsen zu sein. Wenn meine Eltern nicht in die Schweiz gekommen wären, dann wäre ich jetzt im Iran und das Leben unter dem Regime wäre mein Schicksal. Deshalb kann ich nicht einfach passiv bleiben. Ich sehe es als meine Aufgabe und meine Verantwortung, dass ich etwas mache.
Kostet Sie Ihr persönliches Engagement nicht sehr viel Kraft?
Meine Eltern haben mir vieles aus ihrem Leben und von ihrer Flucht lange nicht erzählt. Diese Geschichte mit ihnen aufzuarbeiten und nachzuholen und gleichzeitig noch den Song zu machen, hat sehr viel Kraft gekostet, ja. Vielleicht hat mir das aber auch geholfen – nicht daran zu zerbrechen, sondern die Energie in etwas Kreatives umzuwandeln. Denn für mich war jede Demonstration wie der Gang zu einer Beerdigung. Jedes Mal gedenkt man derer, die gestorben sind, oder die jetzt im Gefängnis sitzen und gefoltert und vergewaltigt werden. Das zu ertragen, war schwer. Der Iran hat in seiner jüngeren Geschichte so viel gelitten: Die islamische Revolution, der Iran-Irak-Krieg. Auf einmal wurde mir bewusst, wie schlimm das war und wie schlimm das auch für meine Eltern gewesen sein musste.
«Das mindeste wäre, dass westliche Staaten nicht mehr mit dem Regime zusammenarbeiten»
Was kann oder muss die offizielle Schweiz denn tun, um den Menschen im Iran zu helfen?
Das mindeste wäre, dass westliche Staaten nicht mehr mit dem Regime zusammenarbeiten. Sie haben Giftgasanschläge auf Schulmädchen verübt sowie über 100 Kinder während der Proteste getötet und niemand hat etwas dagegen unternommen. Ist das gerecht? Der Iran gehört zu den Ländern mit den meisten Hinrichtungen weltweit. Und trotzdem steht das Regime nicht auf der Terrorliste – obwohl wir wissen, welche Verbrechen sie begehen. Deshalb fordern wir, dass westliche Staaten künftig keine Verhandlungen mit dem Regime mehr führen. Seine Diplomat:innen gehören ausgewiesen und die Milliarden im Ausland gehören eingefroren. Die iranischen Machthaber haben Verwandte im Ausland, die ohne Kopftuch herumlaufen und ein Leben in Saus und Braus führen.
Wie geht es mit dem Projekt «Swiss Artists for Free Iran» weiter?
Als Nächstes möchte ich einen Remix des Songs herausbringen. Die Idee dahinter ist, dass ganz viele DJs mitziehen und ihrerseits Remixe des Songs veröffentlichen. Ich möchte die Aufmerksamkeit für das Thema so lang wie möglich aufrechterhalten. Nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs haben viele Medien eine eigene Rubrik dafür eingeführt. Ich wünsche mir, dass es auch eine Rubrik «Iran» gibt. Wir haben das, was im Iran passiert, viel zu lange ignoriert. Damit muss jetzt Schluss sein.
Shiva Arbabi kam 1980 als Fünfjährige mit ihren Eltern in die Schweiz. Seither konnte keiner von ihnen je wieder den Iran besuchen. Die Radiomoderatorin und Gründerin des Internetradios Piratenradio.ch wurde durch das Aufflammen der Proteste im September 2022 politisiert. Sie engagiert sich seither für die internationale Unterstützung der Proteste und den Sturz der Islamischen Republik. Der Song «Frau, Leben, Freiheit» mit Sina, Adrian Stern, Heidi Happy, Tim Freitag, To Athena, Panda Lux, Wolfman, Esmeralda Galda, Reponaut, Nicky B Fly und Lord Kesseli ist im April 2023 erschienen.