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Jolanda Spiess-Hegglin vor Gericht gegen «Blick»: «Vielleicht schaffen wir es, das System zu ändern»

Politik

Jolanda Spiess-Hegglin vor Gericht gegen «Blick»: «Vielleicht schaffen wir es, das System zu ändern»

Die Netzaktivistin und einstige Politikerin Jolanda Spiess-Hegglin hat Ringier wegen diffamierender Berichterstattung und Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte auf Gewinnherausgabe angeklagt. Heute Mittwoch fand am Kantonsgericht in Zug die Hauptverhandlung statt.

Jolanda Spiess-Hegglin kann genau den Tag bestimmen, an dem sie berühmt wurde. Es war der 24. Dezember 2014, als der «Blick» ihr Foto gross auf der Frontseite der Printzeitung druckte und in der Schlagzeile die Frage stellte: «Hat er sie geschändet?»

Die Frage bezieht sich auf die bis heute ungeklärten Ereignisse zwischen Spiess-Hegglin und dem damaligen SVP-Kantonalpräsidenten Markus Hürlimann während der Zuger Landammannfeier vier Tage zuvor. Spiess-Hegglin, damals gerade frisch gewählte grüne Kantonsrätin, sagt, sie könne sich nicht daran erinnern, was nach Mitternacht passierte. Vermutlich habe ihr jemand K.-o.-Tropfen verabreicht, denn sie erwachte Stunden später mit Unterleibsschmerzen im Bett ihres jüngsten Sohns. Alle Anzeichen deuteten auf einen sexuellen Missbrauch hin.

Ein traumatisches Erlebnis. Zeit, das Geschehene zu verarbeiten oder Antworten zu finden, wurde den Spiess-Hegglins jedoch nicht gewährt. «Hat er sie geschändet?» war lediglich der Auftakt einer medialen Kampagne, die der «Blick» von 2014 bis 2016 gegen Spiess-Hegglin und ihre Familie führte.

Insgesamt sollten es rund 150 Artikel werden, veröffentlicht in «Blick», «Blick am Abend» sowie den beiden ergänzenden Webseiten. Die Artikel trugen Titel wie «Rummel ums Rammeln», «Jolanda Heggli zeigt ihr Weggli» oder «Spiess-Hegglin ist ein ausgekochtes Luder!».

Eine exemplarische Auswahl von vier Artikeln hat Spiess-Hegglin nun eingeklagt. Ihr Ziel: den gesamten Gewinn, den der «Blick» mit den diffamierenden Texten über sie gemacht hat, ausbezahlt zu bekommen. Wenn sie gewinnt, wird dies eine einschneidende Wirkung in die Boulevardberichterstattung haben und einen Präzedenzfall für zukünftige Verfahren setzen – im ganzen deutschsprachigen Raum.

Grau. Das ist die Farbe des Morgens vom 30. Oktober 2024, als die Hauptverhandlung zur Gewinnherausgabe im Zuger Strafgericht stattfindet. Die Wolken hängen tief, der Asphalt ist nass vom Regen der Nacht. Neun grelle Lampen scheinen auf die Köpfe der Anwesenden im Gerichtssaal 011. Die Bedeutung des bevorstehenden Urteils lässt sich allein daran schon erkennen, dass die Chiefs des Ringier-Verlags, dem die «Blick»-Gruppe angehört, erstmals persönlich anwesend sind: Steffi Buchli, Chief Content Officer, Johanna Walser, Chief Communication Officer, und Manuel Liatowitsch, Chief Legal Officer.

Es ist das erste Mal, seit dem Beginn der Verhandlungen 2019, dass kein Anwalt vorausgeschickt wird, sondern Jolanda Spiess-Hegglin den Verlagsvertreter:innen direkt in die Augen sehen kann.

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«Die Klage auf Gewinnherausgabe ist weltweit einzigartig»

Die Klage auf Gewinnherausgabe ist weltweit einzigartig. Noch nie hat es jemand so weit geschafft. Der Grund dafür sind nicht die mangelnde Ausdauer der Betroffenen und noch nicht einmal die hohen Gerichtskosten. Es war bisher einfach nicht möglich, nachzuweisen, wie viel Geld ein Verlag mit einem einzelnen Artikel gemacht hat. Jolanda Spiess-Hegglin hat jedoch das Glück, den «Watson»-Gründer und ehemaligen «20 Minuten»-Onlinechef Hansi Voigt auf ihrer Seite zu haben.

Teil von Voigts Kerngeschäft war es um 2015, Werbeerlöse für seine eigenen Seiten zu berechnen. Dafür braucht man im Grunde nur drei Zahlen: die Anzahl Werbeinserate pro Webartikel, den durchschnittlichen Preis, der den Inserierenden verrechnet wurde, sowie die Anzahl Aufrufe des entsprechenden Artikels.

Ein Beispiel: Der eingeklagte Artikel «Alles begann auf der MS Rigi» vom 26. Dezember 2014 wurde über 285’000-mal aufgerufen – die Klickzahlen der Artikel hatte Spiess-Hegglin 2022 gerichtlich erstritten. Hansi Voigt errechnete für diesen einen Artikel einen Gewinn von rund 34’000 Franken.

Die Berichte über Spiess-Hegglin wurden in der «Blick»-Rubrik «Top 5» über 40 Mal erwähnt. Und das erklärt wohl auch, warum der «Blick» so viele Artikel über Jolanda Spiess-Hegglin veröffentlichte: Sie klickte gut.

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«Der Boulevard hat in der Tat Schaden angerichtet»

Für die vier eingeklagten Artikel fordert Spiess-Hegglin eine Summe von über 400’000 Franken. Ringier spricht jedoch von einer «realitätsfremden und völlig faktenfremden Berechnung». Die von Ringier offengelegten Zahlen hätten wohl nicht zum gewünschten Berechnungsergebnis gepasst, weshalb Spiess-Hegglin und ihr Team sich auf eigene, geschätzte Zahlen verliessen. Ein von Ringier in Auftrag gegebenes Gutachten hat ergeben, dass eine Million Sichtkontakte auf blick.ch 4000 Franken eingebracht hätten. Also ein Mehrhundertfaches weniger.

«Der Blick opferte Markus Hürlimanns Unschuldsvermutung und Jolanda Spiess-Hegglins Opferschutz», hält Spiess-Hegglins Anwältin Rena Zulauf in ihrem Plädoyer fest. Die Frage «Hat er sie geschändet?» ist im Grunde falsch gestellt. «Er» ist nicht Markus Hürlimann, sondern der Boulevard. Und der hat in der Tat Schaden angerichtet – wie auch die Justiz bestätigt hat.

2016 rügte der Schweizer Presserat den Ringier-Verlag, dem die «Blick»-Gruppe angehört, Spiess-Hegglins Recht auf Opferschutz sowie ihre Persönlichkeitsrechte missachtet zu haben. Und 2019 bestätigte auch das Zuger Kantonsgericht im Zivilprozess, bei dem Artikel von Heiligabend 2014 habe es sich um einen «krassen Eingriff in die Intimsphäre» gehandelt.

Um Viertel nach zwölf ist die grosse Verhandlung vorbei. Das Urteil wird den beiden Parteien in den nächsten Wochen schriftlich zugestellt. Spiess-Hegglin und Rena Zulauf sind optimistisch. «Es kann nicht sein, dass meine Kinder in einer Welt aufwachsen, wo solche Ungerechtigkeiten akzeptiert werden», begründet Spiess-Hegglin ihre Motivation. «Wir wollen das System ändern. Vielleicht schaffen wir es jetzt.»

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