Politik
Jolanda Spiess-Hegglin über ihr neues Buch: «Ich war Clickbait»
- Text: Stephanie Hess
- Bild: Annick Ramp
Vor zehn Jahren hat das Leben der damaligen Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin eine plötzliche Wende genommen. Im exklusiven Interview über ihr neues Buch blickt sie zurück auf den Hass, der sich über sie ergoss. Auf den Kampf, den sie führt. Und auf ihre eigenen Fehler.
Die Haare hochgesteckt, die hellen Augen schwarz umrandet, sitzt sie in einem Vernehmungsraum der Zuger Polizei. Es ist der 22. Dezember 2014. Sie trägt einen Pulli mit Hirschgeweih-Aufdruck, den sie kurz darauf in die Altkleidersammlung werfen wird. So wie sie alles wegschaffen wird, was sie an diese Zeit erinnert.
Diese Szene stammt aus dem polizeilichen Einvernahme-Video von Jolanda Spiess-Hegglin – das annabelle in voller Länge vorliegt. Es wird zwei Tage nach jener Polit-Feier aufgenommen, nach der die grüne Zuger Kantonsparlamentarierin und Mutter von drei kleinen Kindern ins Bodenlose fiel.
Als sie am Morgen nach der Feier erwacht, hat sie Unterleibsschmerzen und einen unerklärlichen Filmriss von mehreren Stunden. Ihr Verdacht: K.o.-Tropfen. Sie fährt ins Spital, um sich untersuchen zu lassen. In ihrem Intimbereich wird die DNA von zwei Männern gefunden. Das Spital wendet sich an die Polizei, die eine Strafuntersuchung einleitet.
Die Hass-Welle rollt heran
In der darauffolgenden Befragung sagt Jolanda Spiess-Hegglin, damals 34 Jahre alt, Dinge wie: «Ich will niemanden beschuldigen, ich möchte einfach, dass es geklärt wird.» Und auf die Frage, weshalb sie nicht sofort zur Polizei gekommen sei: «Weil ich mir noch Gedanken mache, inwiefern ich Schuld daran habe. Darum stand bei mir nicht die strafrechtliche Frage im Vordergrund, sondern: Wie werde ich damit fertig?» Die eine DNA gehört einem lokalen SVP-Politiker, wie später analysiert wird. Von wem die andere stammt, wird nie herauskommen.
Über ein bis heute ungeklärtes Leck gelangen Informationen an die Boulevard-Zeitung «Blick», die am 24. Dezember titelt: «Hat er sie geschändet?» – dazu Bilder und die vollen Namen von Jolanda Spiess-Hegglin und dem SVP-Politiker.
Damit wird die grösste Medienkampagne der letzten zehn Jahre in der Schweiz losgetreten, eine immense Welle von Hass bricht über Spiess-Hegglin herein. Schnell entsteht ein Narrativ, das sich kaum mehr aufbrechen lässt: Jolanda Spiess-Hegglin und der SVP-Politiker hätten eine Affäre gehabt, die sie nicht habe zugeben wollen, weshalb sie ihn einer Vergewaltigung bezichtigte.
«Es ist mir bewusst, dass ich das in vielen Köpfen gefestigte Bild über mich kaum noch ändern kann»
Wie den Hirschgeweihpulli hat Jolanda Spiess-Hegglin auch jenes Einvernahmevideo weggeschafft, das sie von ihrem damaligen Anwalt nach Abschluss des Falls auf einem Memory-Stick bekommen hatte. Doch die Kiste, in dem sie ihn verstaute, landete nicht auf dem Müll. Jahre später findet sie die Schachtel, deren Deckel sie eigentlich nie mehr hatte öffnen wollen – und damit ihre eigene Geschichte wieder.
Schon mehrfach hatte sie sich überlegt, ein Buch zu schreiben über das, was ihr widerfahren ist. Aber erst dann, nachdem sie im Frühling 2023 dieses Video gesehen hat, habe es sich richtig angefühlt.
«Kein Rachebuch»
Morgen, am 21. November 2024, erscheint im Limmat-Verlag ihr Buch mit dem Titel «Meistgeklickt». Jolanda Spiess-Hegglin beschreibt darin, wie sie die letzten zehn Jahre erlebte. Etwa die Weihnachtstage nach dem ersten «Blick»-Artikel, als sie mit ihrer Familie zum Krippenspiel ging und sich alle Kirchenbesucher:innen nach ihr umdrehten. Wie selbstvergessen die Kinder mit ihren Weihnachtsgeschenken spielten und sie und ihr Mann hinter der verschlossenen Schlafzimmertür zusammenbrachen.
Sie schreibt auch: «Dieses Buch ist kein Rachebuch.» Sie wolle analysieren, erläutern, einordnen und daraus Lehren ziehen. «Es ist mir bewusst, dass ich nach zehn Jahren das in vielen Köpfen gefestigte Bild über mich kaum noch ändern kann. Dennoch ist es mir wichtig, diesen Abschnitt aus meiner Perspektive darzustellen und zu reflektieren.» Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt Jolanda Spiess-Hegglin nicht – nur einen darauf, ihre eigene Geschichte erzählen zu können.
annabelle: Jolanda Spiess-Hegglin, wie war es für Sie, das Einvernahmevideo nach so langer Zeit zu sehen?
Jolanda Spiess-Hegglin: Bevor ich es anschaute, schloss ich die Bürotür ab, setzte meine Kopfhörer auf. Dieses Video sollte nicht mit meinem heutigen Leben in Berührung kommen. Als ich es abspielte, habe ich alles gleichzeitig gefühlt. Danach habe ich geweint. Es ist alles aus mir rausgefallen.
Später kam die Wut, wie Sie im Buch schreiben. Warum?
Mir wäre viel erspart geblieben, hätten all jene, die mir eine Falschbeschuldigung unterjubeln wollten, dieses Video gesehen. Es widerlegt, was mir jahrelang und bis heute in anonymen Online-Kommentaren vorgeworfen wird: Dass ich den Mann einer Vergewaltigung bezichtigt und damit den Fall ins Rollen gebracht habe.
Sie erzählen im Einvernahmevideo detailliert davon, woran Sie sich noch erinnern. Lassen Dinge offen, die Sie aufgrund eines mehrstündigen Filmrisses nicht beantworten können. Sie suchen die Schuld auch bei sich, sagen, dass Sie selbst keine Meldung bei der Polizei gemacht hätten. Wenn man diese einstündige Aufnahme sieht, denkt man, es hätte auch ganz anders kommen können. Ab wann begannen die Dinge schiefzulaufen?
Bereits vor dieser Einvernahme. Das Kantonsspital meldete der Polizei, dass ich mich mit Verdacht auf ein mögliches Sexualdelikt habe untersuchen lassen, ohne dass ich dazu eingewilligt hatte. Das hätte nie passieren dürfen. Ob ich das melde oder nicht, wäre allein meine Entscheidung gewesen. Mit sehr viel Kraft hätte ich mich ab diesem Zeitpunkt wieder aus dem anlaufenden Verfahren herausnehmen können, aber ich kannte damals meine Rechte nicht.
Die Strafverfolgungsbehörden nahmen Ermittlungen auf, doch das Verfahren wurde ereignislos eingestellt. Ein Täter wurde somit weder festgestellt noch verurteilt. Besagter SVP-Politiker zeigte Jolanda Spiess-Hegglin drei Jahre später wegen übler Nachrede, Verleumdung und falscher Anschuldigung an, die beiden einigten sich zu den Ehrverletzungsdelikten schliesslich aussergerichtlich. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren wegen falscher Anschuldigung ein und attestierte Jolanda Spiess-Hegglin später, dass sie davon ausgehen durfte, Opfer einer Straftat geworden zu sein.
Ein Fall, aber kein Täter, bloss ein Opfer, das sich auf Social Media gegen die Berichterstattung und Online-Kommentare vehement zur Wehr setzt – das schien die Schleusen zu öffnen für eine riesige mediale Kampagne.
Im Buch listet Jolanda Spiess-Hegglin zahlreiche Titel der rund 150 Artikel auf, die der «Blick» innert kürzester Zeit über sie schrieb, darunter: «Jetzt wird’s eng für die Zuger Skandal-Politikerin», «Spiess-Hegglin ist ein ausgekochtes Luder», «Spiess-Hegglin lügt!», «Jolanda Heggli zeigt ihr Weggli». Sie schreibt im Buch: «Ich war Clickbait.»
Auch andere Zeitungen, die keine Boulevard-Medien sind, titeln reisserisch: «Das Klageweib» («Tages-Anzeiger») oder «Zuger Affäre vergiftet das Klima zwischen den Geschlechtern» («NZZ am Sonntag»). In tausenden Onlinekommentaren wird Spiess-Hegglin verhöhnt. Sie erhält, so schreibt sie im Buch, vom ersten Artikel an Nachrichten mit Vergewaltigungs- und Morddrohungen.
Seit fast zehn Jahren sind Sie den Kommentaren im Netz ausgesetzt. Wie viele Hassbotschaften haben Sie in dieser Zeit erreicht?
Das ist nicht zählbar. Soweit ich das beurteilen kann: Über Hunderttausend. Ich habe eine Zeitlang von jedem Hasskommentar, den ich über mich gelesen habe, reflexartig einen Screenshot gemacht und brachte diese oft zur Anzeige – ich hatte deshalb ein Handy mit einem gigantischen Speicher. Ich bekam auch sehr viele Briefe.
Wurden Sie auch auf der Strasse angesprochen?
Das ist interessant: Kein einziges Mal! Nur einmal sagte jemand an einem Zmorgenbuffet im Hotel zu mir «Treten Sie endlich zurück!» Das ist ja noch harmlos. Aber ich spüre natürlich die Blicke.
Was, glauben Sie, denken diese Leute?
Einige laufen rot an, wenn sie mich sehen – vor Wut. Anderen ist meine Anwesenheit sichtlich unangenehm. Glücklicherweise werden die Momente häufiger, in denen es zu netten Worten oder spontanen Dankesreden kommt.
Welche Menschen sind es, die sich mit Hassbotschaften bei Ihnen melden?
Das weiss ich inzwischen ziemlich gut. Ich habe ja auch manche von ihnen getroffen. Teilweise vor Gericht, wenn ich ihre Kommentare angezeigt habe. Teilweise bei einem direkten Gespräch. Der Prototyp, der mich nicht ausstehen kann, ist männlich und pensioniert, wohnt auf dem Land, oft im Kanton Zürich oder Aargau, und sympathisiert mit der SVP.
Wie war es, diese Menschen zu treffen?
Viele der Männer zeigten sich über sich selbst erschrocken. Manche sagten mir, ich sei ja ganz anders, als sie dachten. Wenn sie sich entschuldigten, habe ich die Anzeige fast immer zurückgezogen.
«Der Weg, um sowas zu überstehen, ist: Vorwärtsgehen, nicht zurückschauen»
Nach einer ehrlichen Entschuldigung, das schreiben Sie auch im Buch, können Sie sehr vieles verzeihen.
Ja, es gab einen «NZZ»-Journalisten, der hat viele üble Dinge über mich geschrieben. Vor einer Gerichtsverhandlung kam er dann einmal auf mich zu, streckte mir die Hand hin und entschuldigte sich aufrichtig. Und heute kann ich sagen, dass ich wahnsinnig froh bin um die Artikel, die er inzwischen über mich schreibt. Ich glaube, es ist wichtig, dass man verzeihen kann. Ich würde sonst krank werden. Der Weg, um sowas zu überstehen, ist: Vorwärtsgehen, nicht zurückschauen.
Ihnen wurde damals vorgeworfen, dass Sie sich so oft öffentlich äussern. Im Buch schreiben Sie, dass dieser Eindruck trügt.
Zu Beginn habe ich mich viel weniger zu Wort gemeldet als der SVP-Kantonsrat, der in den Fall involviert war. Er hat mehrere Pressekonferenzen abgehalten, ich keine einzige. Ich denke, dieser Eindruck entstand, weil insbesondere am Anfang jeder Artikel über mich mit einem Bild von mir illustriert wurde. Auch weil man über mich schrieb, selbst wenn ich keine Auskunft gab. Und weil man Aussagen als Zitat verwendete, die ich auf Facebook als Antwort auf einen Kommentar verfasst hatte. Später wollte ich viele Dinge richtigstellen. Wie ich auch im Buch schreibe: Schweigen war für mich nie eine Option, obwohl mir alle dazu rieten: Ich solle auswandern, mich zurückziehen. Aber mich nicht zu wehren, hätte für mich bedeutet, mich aufzugeben und all jenen recht zu geben, die falsche Behauptungen über mich in die Welt setzten.
Im Vorwort ihres Buches schreibt Jolanda Spiess-Hegglin: «Unsere Gesellschaft ist es gewohnt, dass insbesondere Frauen sich unsichtbar machen oder unsichtbar gemacht werden, sobald es brenzlig wird – auch wenn ihnen Unrecht geschieht. Wehren sie sich trotzdem, wird ihnen Geltungsdrang oder Provokation unterstellt. Diese Mechanismen wollte ich durchbrechen. Und die Gerichte gaben mir recht. Dieses Recht zu bekommen, hat mich unendlich viel Kraft gekostet.»
«Shitstorms wird es immer wieder geben. Aber ich denke, nicht mehr in dieser Länge und in diesem Ausmass»
Jolanda Spiess-Hegglin hat in den letzten Jahren nicht nur mehrere Dutzend Online-Kommentarschreiber:innen vor Gericht gebracht, sondern auch zwei Männer, die sie lange Zeit stalkten und in einem Blog zahlreiche Beiträge über sie veröffentlichten, darunter ein gefälschtes Interview mit ihrem Ehemann oder Bildmontagen mit pornografischem Inhalt. Ebenso zwei Journalist:innen wegen übler Nachrede oder Verleumdung. Sie erhielt in beiden Fällen recht.
Eines der Urteile ist noch nicht rechtskräftig, es wurde weitergezogen und wird im nächsten Jahr am zuständigen Obergericht verhandelt. Gegen ein Buch, das eine Journalistin über die Ereignisse der Polit-Feier schrieb, reichte Jolanda Spiess-Hegglin eine Klage wegen Persönlichkeitsverletzung ein. Ihr erwachse daraus ein nicht wiedergutzumachender Nachteil. Die Gerichte traten nicht darauf ein, Jolanda Spiess-Hegglin zog den Fall aber weiter. Inzwischen liegt er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Das wohl aufsehenerregendste Verfahren jedoch läuft gerade jetzt, das Urteil wird vor Weihnachten erwartet: Nachdem ein Gericht die Berichterstattung des «Blick» als «schwere Persönlichkeitsverletzung» verurteilt hatte, eine Genugtuung bezahlt werden musste und eine öffentliche Entschuldigung folgte, fordert Jolanda Spiess-Hegglin vom Konzern Ringier, zu dem die Boulevardzeitung gehört, nun das Geld zurück, das mit den Artikeln über sie erwirtschaftet wurde. Gewinnt sie, wird dies eine einschneidende Wirkung in die Boulevardberichterstattung haben und einen Massstab für zukünftige Verfahren setzen – im ganzen deutschsprachigen Raum.
Sie beschreiben im Buch, wie ein Richter in einer Besprechung den Artikel «Jolanda Heggli zeigt ihr Weggli» nur noch «Jolanda Heggli» nannte, weil es, wie es schien, zu unangenehm war, diesen Titel ständig zu wiederholen. Als ich Ihr Buch las, hatte ich oft das Gefühl, in eine vergangene Zeit einzutauchen. Könnte Ihr Fall heute so noch passieren?
Shitstorms wird es immer wieder geben. Aber ich denke, nicht mehr in dieser Länge und in diesem Ausmass. Seit #MeToo solidarisiert sich die Öffentlichkeit schneller. Das Niveau ist nicht mehr so bodenlos. Man hat das bei Sanija Ameti gesehen. Da war es sogar die «Weltwoche», die mit dem Artikel «Free Sanija Ameti» die Reissleine gezogen hat.
Sie schreiben im Buch, dass Sie sich vor dem Vorfall nicht als Feministin bezeichneten. Warum?
Dieses Konzept war damals noch nicht zu mir vorgedrungen. Ich hatte kein genaues Bild davon, was eine Feministin ist.
Und heute würden Sie sich als solche bezeichnen?
Absolut. Aber ich definiere Feminismus vielleicht ein bisschen anders als andere Exponentinnen.
«Vieles ist nun mal nicht schwarz und weiss, und weniger eindeutig, als man es gern hätte»
Wie?
Für mich ist es sehr wichtig, von Gleichheit zu sprechen. Ich finde Aussagen problematisch wie: «Wir wollen nicht bloss ein Stück vom Kuchen, sondern die ganze Bäckerei.» Natürlich kann ich die Überlegungen dahinter nachvollziehen. Ich kann verstehen, dass man es nur gerecht fände. Aber ich glaube, es ist nicht zielführend. Die Reaktion, die folgt, ist umso krasser. Und dann bin ich auch anderer Meinung als einige Feministinnen, wenn es um anonyme Anschuldigungen gegen Männer geht, die weder polizeilich gemeldet wurden noch von der Justiz verfolgt werden konnten.
Sie sprechen vom deutschen Comedian Luke Mockridge, der von seiner Ex-Freundin der Vergewaltigung beschuldigt wurde, ein polizeiliches Verfahren dazu wurde aber eingestellt. Seine Aufführungen in der Schweiz wollte man mit einer Petition «Keine Show für Täter» verhindern. Sie hatten öffentlich erklärt, dass Sie diese nicht unterzeichnen werden.
Die Vorwürfe, die damals gegen ihn erhoben worden sind, reichten nicht aus für eine polizeiliche Untersuchung. Ich verstehe, dass das als betroffene Frau verdammt schwierig ist. Dennoch finde ich es falsch, den Mann trotzdem zum Täter zu erklären. Ich sagte damals einfach: Es gibt einen Rechtsstaat, es gibt eine Unschuldsvermutung. Da habe ich auch von vielen linken Frauen aufs Dach bekommen. Gleichzeitig bin ich weit davon entfernt, Frauen nicht zu glauben, wenn sie von Vorwürfen erzählen. Vieles ist nun mal nicht schwarz und weiss, und weniger eindeutig, als man es gern hätte.
Als Jolanda Spiess-Hegglin, die früher als Journalistin gearbeitet hat, im Herbst 2015 aus dem Zuger Kantonsrat austrat, gründete sie am selben Tag den Verein Netzcourage, der sich gegen Hatespeech im Netz engagiert. Der Verein unterstützt kostenlos Betroffene von digitaler Gewalt und klärt darüber in Workshops und an Tagungen auf.
Heute ist Spiess-Hegglin vor allem in ihrem Projekt Winkelried & Töchter GmbH tätig, das sich der «Shitstormbewältigung, der Vernetzung und dem Reputationsmanagement» widmet, wo sie – wie sie sagt – nicht nur Frauen, «sondern auch Männer begleitet, die beschuldigt worden sind und keine Chance haben, weil der Social-Media-Mob sie einfach platt macht».
Netzcourage wird von Spender:innen finanziert, wurde auch vom Bund unterstützt – und stand von Anfang an unter genauer Beobachtung. Mehrfach empörten sich Politiker:innen oder Medien darüber, dass Netzcourage staatliche Gelder erhält – insbesondere dann, wenn Jolanda Spiess-Hegglin auf Twitter, heute X, angriffige bis aggressive Statements in die Social-Media-Öffentlichkeit schickte.
«Nun, ich bin nicht fehlerlos. Ich finde, man kann auch nicht erwarten, dass ich eine Heilige bin»
Sie schreiben im Buch: «Rückblickend gab es Situationen, in denen ich erst aus Notwehr handelte, doch daraus entwickelten sich Dynamiken, die – mit etwas Abstand betrachtet – klar ausser Kontrolle gerieten. Das bedaure ich.» Was meinen Sie damit?
Ich meine die Dynamiken auf Social Media. Dass ich etwa einen Hashtag etabliert habe wie #HaltdieFresse-Tamedia, der später trendete. Das war nicht sehr anständig und ich finde heute, man könnte solche Dinge anders lösen. Etwa indem man mit den Leuten spricht, statt sich nur zu empören.
Dynamiken entwickelten sich auch in einem Chat, der vor rund eineinhalb Jahren von einer anonymen Quelle den Medien zugespielt wurde. Darin sprachen Sie und verschiedene Frauen darüber, wie gegen die geplante Buchveröffentlichung der Journalistin am besten vorzugehen ist. Dabei fielen auch abschätzige Kommentare. Ihnen wurde vorgeworfen, eine Hetzkampagne gegen die Journalistin zu orchestrieren.
Dieser Chat entstand aus einer Gruppe von Frauen, die sich bei mir gemeldet haben, als sie davon hörten, dass ein weiterer Angriff auf meine Glaubwürdigkeit in Form dieses Buches geplant war. Das war ein privater Chat, ein Safe Space, und keineswegs eine koordinierte, öffentliche Kampagne oder dergleichen. Ich war nicht federführend, aber ich mache mir den Vorwurf, nicht schneller mässigend eingegriffen zu haben. Gegen die Journalistin kam es – vermeintlich aus Solidarität zu mir – auch in anderen Situationen zu digitaler Gewalt, die ich verurteile. Ich habe bereits mehrfach öffentlich mein Bedauern darüber ausgedrückt.
Vielleicht ist es die Empörungslogik von Social Media, aber es scheint auch, dass die Öffentlichkeit sehr interessiert an allem war und ist, was man Ihnen als Fehltritt auslegen kann. Ein Schnauz, den Sie auf ein Bild von «Weltwoche»-Chef Roger Köppel malten und auf Twitter teilten, wurde schnell als Hitlerschnauz bezeichnet. Ein missglücktes, satirisches Meme, das Sie erst likten, dann aber entlikten und sich entschuldigten, führte zu einem empörten Kommentar eines Chefredaktors und schliesslich dazu, dass das Gleichstellungsbüro dem Verein Netzcourage die Gelder strich.
Nun, ich bin nicht fehlerlos. Ich finde, man kann auch nicht erwarten, dass ich eine Heilige bin, nur weil ich einen Verein aufgebaut habe, der Menschen hilft, die im Netz Gewalt erfahren haben. Ausserdem finde ich, es muss möglich sein, dass ich mal Wörter benutze wie «Flachzange». Einfach stets im nicht-justiziablen Bereich und ohne jemanden persönlich zu verletzen.
Sie bestehen auch hier darauf, dass sich die Dinge nicht in Schubladen stecken lassen?
Ich bestehe darauf, zu sein, wie ich bin. Und dass man die Menschen ganz grundsätzlich nicht in Gut und Böse einteilen kann.
«Ich bin austauschbar, es hätte alle treffen können. Wenn man das versteht, kann man wieder leben»
Ihr Leben hat vor zehn Jahren eine schmerzhafte Wende genommen. Im Buch schreiben Sie: «Ich habe gelernt, damit zu leben.» Wie lernt man das?
(überlegt) Indem man es nicht an sich heranlässt. Was auch wichtig war: Dass ich eine Zeitlang alle verleumderischen Kommentare angezeigt habe. Einige wurden verurteilt, mit vielen verglich ich mich oder zog die Anzeige zurück. Heute mache ich das nicht mehr.
Weshalb?
Weil sich mein Blick auf diese Geschehnisse verändert hat. Inzwischen habe ich verinnerlicht, dass das, was man mir antat und bis heute antut, nicht mit mir als Mensch zu tun hat: Ich bin austauschbar, es hätte alle treffen können. Wenn man das versteht, kann man wieder leben.
Fragen Sie sich manchmal, weshalb es gerade Sie getroffen hat?
Diese Frage darf man sich nie stellen, sie macht einen fertig. Solche Geschehnisse wirklich zu verarbeiten, ist sehr schwierig. Ich habe versucht, sie in mein Leben zu integrieren. Das ist mein Rat an alle, die so etwas erleben. An einem Jahrestag habe ich mir eine Lotusblüte auf den Unterarm tätowieren lassen: Lotusblumen können Dreck abperlen lassen, sie wachsen sogar im Schlamm.
Es scheint, Sie verfügen über eine gute psychische Grundkonstitution.
Ja, und das ist purer Zufall. Ich habe sehr stabile Faktoren, eine gute Familie, ein kleines finanzielles Polster, einen engen Freundeskreis. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich daran zerbrochen wäre, wenn ich das nicht gehabt hätte.
Wann ist Ihr Kampf zu Ende?
Mein Mann – der mich auf diesem Weg immer begleitet hat – und ich haben einen gemeinsamen Traum: Wir wollen ins Tessin oder in die Romandie ziehen, um dort Wein zu produzieren, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Sie sind inzwischen in der Oberstufe oder kurz vor dem Studium und gehen ihren Weg sehr selbstsicher. Jetzt aber fühle ich mich noch in der Pflicht. Ich sehe mich in der Schuld all dieser tausenden Menschen, die mich finanziell und emotional dabei unterstützt haben, ein Urteil zur Gewinnherausgabe zu erkämpfen. Das brauche ich, erst dann kann ich ernsthaft darüber nachdenken, wie das Leben danach aussieht.
«Meistgeklickt» von Jolanda Spiess-Hegglin erscheint am 21. November 2024 im Limmat Verlag und kostet ca. 30 Franken.