Work & Cash
Job-Phänomen «Zero Gap»: Wie Talente übersehen werden
- Text: Helene Aecherli
- Bild: Stocksy
Wer einen unkonventionellen Lebenslauf hat, wird selten zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, obwohl Unternehmen händeringend nach Fachkräften suchen. «Der Kampf um Talente ist in der Praxis oft noch nicht angekommen», sagt Executive Search Consultant Melanie Tschugmall.
annabelle: Melanie Tschugmall, es herrscht Fachkräftemangel, zudem sind Querdenken und Kreativität gefragt. Doch ohne perfekten Lebenslauf hat man es schwer auf dem Arbeitsmarkt. Das ist doch ein Paradox.
Melanie Tschugmall: Ja, das sehe ich auch so. Dieses Phänomen hat mittlerweile sogar einen Namen: «Zero Gap». Das heisst, wer nicht haargenau ins Schema passt, fällt beim Rekrutierungsprozess durch die Maschen. Das betrifft gerade Fachleute oder Manager:innen in mittleren Positionen.
Wie erklären Sie sich das?
Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Die Firmen stehen aufgrund der Inflation, der geopolitischen Lage, der Digitalisierung und des Kostendrucks vor grossen Herausforderungen. Ressourcen werden gestrichen oder ins Ausland verlagert. Das wirkt sich natürlich auch auf die HR-Abteilungen beziehungsweise internen Rekrutierungsteams aus, die oft unter hohem Lieferdruck stehen und überlastet sind. Daher sind sie auf ein schnelles Sichten der Bewerbungen angewiesen. Wie stark die HR-Abteilung befähigt ist, auch mal unkonventionelle Personalentscheide zu treffen, hängt von der jeweiligen Unternehmenspolitik ab. Zudem kommt es immer darauf an, wie gut die Bewerber:innen kommunizieren können, dass sie Fähigkeiten haben, die das Grundgerüst abdecken und die auch «transferable Skills» miteinschliessen, die gerade in höheren Positionen oder in einer anderen Branche einen Mehrwert bringen können.
«Grundgerüst», «transferable Sills»: Was bedeuten diese Begriffe?
Ein Beispiel: Eine Malerin kann nie einfach so zur Floristin werden. Dafür fehlen ihr die Fachkenntnisse für den Beruf der Floristin, das Grundgerüst. Aber wenn sie als Malermeisterin Teams geführt, mit Kunden kommuniziert und Offerten geschrieben hat, dann verfügt sie über «transferable Skills». Fähigkeiten, die je nachdem auch für eine Führungsposition in einem Floristen-Geschäft wertvoll sein können. Denn der Punkt ist: Je höher die Position, desto genereller und strategischer sind die Aufgaben. Ein CEO ist in der Regel weniger ein Experte, sondern vielmehr eine Führungsperson. Und für diese Funktion werden transferable Skills und sogenannte Softskills immer wichtiger.
«Der Personalvermittler wird nur bezahlt, wenn er einer Firma ein Profil verkaufen kann, das zu 100 Prozent mit den Anforderungen matcht»
Welches sind die wichtigsten Softskills?
Es gibt eine ganze Liste: Team- und Kritikfähigkeit, soziale Kompetenz, Flexibilität und Stressresistenz, zum Beispiel. Aber auch Lernbereitschaft und analytisches Denkvermögen. Bei Führungspersonen besonders gefragt sind gutes Kommunikationsvermögen und strategische Verhandlungsführung.
Dafür braucht es aber HR-Verantwortliche, die erkennen, wenn Menschen über solche Fähigkeiten oder Talente verfügen, und innerhalb der Firma auch die Macht haben, diese Leute einzustellen.
Natürlich. Die findet man derzeit etwa in der Tech-Industrie. In dieser Branche hat das HR in der Regel eine zentrale Position inne und ist auf Augenhöhe mit der Unternehmensleitung. In sehr traditionellen Betrieben oder in der Verwaltung hingegen stehen die Mitarbeitenden der HR-Abteilung unter Zeitdruck, auch deshalb, weil sie oft fixe Eckpunkte erfüllen müssen. Viele setzen deshalb auf Personalvermittlungsagenturen. Und die wiederum operieren auf Erfolgsbasis. Das heisst, der Personalvermittler wird nur bezahlt, wenn er einer Firma ein Profil verkaufen kann, das zu 100 Prozent mit den Anforderungen matcht. Da haben unkonventionelle Profile kaum Platz.
Bewerbungen geschehen heute vermehrt online, Auswahlverfahren werden immer öfter mithilfe von Künstlicher Intelligenz vollzogen. Wie funktioniert dieser Prozess?
Onlinebewerbungen, sogenanntes «Easy Apply», werden in ein Programm gespiesen, das auf Schlüsselworte, Keywords, reagiert. Solche Keywords betreffen etwa Ausbildung, Berufserfahrung oder Sprachkenntnisse. Passt eine Bewerbung nicht zu diesen Keywords, wird sie aussortiert. Bei der Stellenausschreibung wird häufig nach einem bewährten Muster vorgegangen. Hat zum Beispiel der Bereichsleiter Hans Ueli Muster immer schon A, B und C erfüllt, nimmt das HR bei der Ausschreibung für dieselbe Position A, B und C in die Keywords auf. Das ist der einfachste und effizienteste Weg.
Sind sich Unternehmen bewusst, wie viele potenzielle Talente sie mit solchen Bewerbungsverfahren gar nicht erst sehen?
Firmen wissen zwar, dass es einen «war for talents», einen Kampf um Talente, gibt, aber in der Praxis ist der noch nicht überall angekommen. Das kann im Hinblick auf die Zukunft kritisch werden. Denn wer keine geeigneten Leute hat, kann nicht produzieren, die Firma nicht weiterentwickeln, kann nicht verkaufen. Im Prinzip ist es wie bei der Digitalisierung: Allen ist bewusst, dass die Digitalisierung Realität ist, aber noch lange nicht alle Unternehmen arbeiten daran.
«Um gefunden zu werden, muss man sich und sein Können sichtbar machen»
Wann kommen Executive Search Consultants wie Sie ins Spiel?
Dann, wenn Firmen an einem Punkt sind, an dem sie eine Führungsperson brauchen. Ein Executive Search Consultant sucht dann auch Profile, die nicht Standard sind, also eher links und rechts von der Wiese zu finden sind – nach dem Motto: «Diese Person kommt zwar nicht von eurer Industrie, aber sie hat genau das, was ihr jetzt braucht.» Wir achten immer sehr darauf, dem Kunden diverse Profile zu zeigen, und schaffen es deshalb auch, viele Frauen zu platzieren.
Gerade Mütter sind oft gut ausgebildet, haben aber einen fragmentierten Lebenslauf, sind dafür wiederum top in Organisation, Krisenmanagement und Kommunikation – im Prinzip genau die Kandidatinnen «rechts und links der Wiese», die Sie suchen, oder?
Es kommt sicherlich darauf an, um was für eine Position es sich handelt – und was man selbst sucht. Es muss ja immer für beide Parteien stimmen. Eine 50-Prozent Assistenzstelle ist etwas anderes als eine CEO-Position in einem dynamischen Unternehmen. Wer aber eine grosse Erfahrung in Organisation, Krisenmanagement und Kommunikation hat, verfügt über jene Softskills, die auf Führungsebene relevant sind. Und eben: Um gefunden zu werden, muss man sich und sein Können sichtbar machen.
LinkedIn wird immer wieder als zentrale Plattform für Jobsuchende genannt. Zu Recht?
Ja, Linkedin wird immer wichtiger. Gerade, wenn man auf Jobsuche ist, muss man sichtbar und aktiv sein. Gut ist, vermehrt Artikel zu posten zum Thema, das einen interessiert, oder zur Branche, in die man wechseln will. Zudem ist es ratsam, sich zu erkundigen, welche Hashtags zu den Posts gehören, so dass man sich selbst zu einer Art Marke aufbaut. Mittlerweile gibt es auch Hilfestellungen für Bewerbende, den CV auf der Plattform zu optimieren. So helfen einem zum Beispiel ehemalige Recruiter dabei, die richtigen Keywords zu finden, um etwa in eine Verkaufsposition oder auf den Radar von internationalen Organisationen zu gelangen.
Bitte verraten Sie uns: Was kann man sonst noch tun?
Mir hat es bei der Jobsuche immer geholfen, mich zu fragen: Was sind meine Stärken? Was bringe ich mit? Wohin will ich? Wie will ich mich präsentieren? Worin bin ich gut? Und: Was mache ich gern? Denn ich kann auch in einem Bereich richtig gut sein, den ich nicht besonders mag. Diesen Aspekt sollte man nicht ignorieren. Darüber hinaus kann es sich lohnen, sein Profil mit einem Coach zu erarbeiten. Und klar, letztlich braucht es auch Glück und das richtige Timing.
«Das HR muss Teil der Unternehmensstrategie sein»
Wie hoch ist das Risiko für eine Firma, jemanden einzustellen, der keinen gradlinigen Lebenslauf hat?
Dazu haben wir leider keine Erfahrungswerte. Grundsätzlich kommt es auf die Person an, die einstellt: Denkt sie eher in Chancen und Möglichkeiten oder in Risiken? Ist sie offen, etwas Neues zu wagen? Und wie stark kann sie intern vertreten, dass die Firma nun genau diese Person braucht? Ich selbst habe in meiner Laufbahn immer wieder Chef:innen gehabt, die mich bewusst wegen meiner Kenntnisse aus dem Tech-, Sales- und Consultingbereich eingestellt haben. Die Fähigkeiten, die ich dann für den neuen Job brauchte, wurden mir beigebracht. Das sahen meine Vorgesetzten als Investition ins Wachstum des Unternehmens.
Wie sehr kann gerade ein höheres Alter ein Vorteil sein für Bewerbungen?
Sagen wir es so: In Führungsfunktionen, wie wir sie besetzten, braucht es oft einen gewissen Erfahrungsgrad, und den erhält man manchmal, nicht immer, auch durch eine längere Karriere.
Wo gilt es anzusetzen, um dem «Zero Gap»-System entgegenzuwirken?
In erster Linie bei der Stärkung der HR-Abteilung, der «Human Resources». Ein HR soll nicht einfach eine Servicedienststelle sein, sondern eine Institution, die versteht, was das Unternehmen braucht, und auf die der Verwaltungsrat auch hört. Gerade in einer Zeit, in der Attraktivität eines Unternehmens und – damit verbunden – die Zufriedenheit der Mitarbeitenden immer wichtiger werden, muss das HR Teil der Unternehmensstrategie sein. Es soll Raum haben, Lebensläufe zu lesen und auch etwa mal auf LinkedIn nach unkonventionellen Keywords zu suchen, und nicht nur auf Künstliche Intelligenz ausweichen müssen. Kurz, es gilt, den Menschen wieder vermehrt in den Prozess einzubringen und die Technologie, wo sinnvoll, zu nutzen, aber ihr nicht blind zu vertrauen.
Melanie Tschugmall, 36, ist Executive Search Consultant bei Ganci Partners in Zürich. Bei ihrem «nicht linearen» Werdegang hat ihr immer die Einstellung geholfen, dazulernen zu wollen.