Sind Frauen selbst schuld an Lohndiskriminierung? Dieser und weiteren Fragen ist annabelle Online nachgegangen und hat die Feministinnen Kathrin Bertschy und Carmen Schoder zum Gespräch getroffen.
annabelle.ch: Sprechen Sie gern über Geld?
CARMEN SCHODER: Ja. Und ich spreche auch gern über Löhne, weil ich es für wichtig halte.
KATHRIN BERTSCHY: In der Schweiz ist das ja ein Tabuthema. Wir reden hier über vieles sehr offen, aber der Lohn ist weiterhin ein gut gehütetes Geheimnis. Dabei ist das Einkommen auch eine sehr spannende wissenschaftliche Grösse.
Wissen Sie von Ihren Kolleginnen und Kollegen, wie viel sie verdienen?
CARMEN SCHODER: Nein. Ich weiss es von vielen in meinem privaten Umfeld, aber nicht von meinen Arbeitskollegen.
KATHRIN BERTSCHY: Ich weiss von etlichen meiner Berufskolleginnen und -kollegen, wie viel sie verdienen. Zumindest die Grössenordnung. Das ist sicherlich auch eine Frage der Unternehmenskultur und ob es einen persönlich interessiert.
Kathrin Bertschy, Sie haben im Bereich Lohngleichheit geforscht, was haben Sie herausgefunden?
KATHRIN BERTSCHY: In der Bankenwelt zum Beispiel ist es untersagt, über Löhne zu sprechen. Aber gerade in dieser Branche wird die Lohndiskriminierung zwischen Männern und Frauen am stärksten vermutet: Hier beobachtet man die höchsten nicht erklärbaren Unterschiede bei den Löhnen. Seit meinen Forschungsarbeiten spreche ich auch in meinem privaten Umfeld viel mehr über dieses Thema. Transparenz hilft, Lohndiskriminierung abzubauen.
Brauchen wir Aktionstage wie den Equal Pay Day?
CARMEN SCHODER: Ja, unbedingt! Ich stelle immer wieder fest, dass es Leute gibt, die der Meinung sind, Lohnungleichheit gäbe es nicht. Dass es ja eigentlich bereits Pflicht sei, Männer und Frauen gleich zu bezahlen, und dass wir damit in der Schweiz keine Probleme mehr hätten. Der Equal Pay Day ist genau dafür wichtig: um aufzuzeigen, dass es eben noch nicht so ist.
KATHRIN BERTSCHY: Vielen ist auch noch nicht klar, was dieser Tag bedeutet: Nämlich, wie viele Tage Frauen länger arbeiten müssen, um im Schnitt das Entgelt der Männer im Vorjahr zu erzielen. Der Equal Pay Day ist darum ein wichtiger Aktionstag, um auf eine Problematik hinzuweisen, die ja eigentlich sehr komplex ist.
Wo liegen die Gründe für die Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau?
CARMEN SCHODER: Das ist eine sehr grosse Frage. Aus meiner Sicht liegen die wichtigsten Gründe in der Familienpolitik. Frauen zwischen 25 und 40 stellen für potenzielle Arbeitgeber immer noch ein Risiko dar: Sie könnten ja ausfallen, wenn sie Kinder bekommen. Zudem ist es auch heute noch so, dass nach der Geburt eines Kindes vorwiegend die Frauen ihr Arbeitspensum reduzieren, nicht die Männer. Dieser Automatismus stört mich extrem.
KATHRIN BERTSCHY: Problematisch sind auch die veralteten Werthaltungen unserer Gesellschaft. Lohnungleichheit ist auch kulturell verankert: Früher war es überhaupt kein Thema, dass die Frau für die gleiche Arbeit weniger Lohn bekommt, das war normal. Und obwohl wir mittlerweile den Grundsatz gleicher Lohn für gleich Arbeit gesetzlich verankert haben, sieht man in wissenschaftlichen Experimenten, dass die gesellschaftliche Bewertung der Arbeit einer Frau immer noch geringer ausfällt – es wird ihnen weniger Lohn zugestanden als einem Mann mit gleichen Voraussetzungen.
CARMEN SCHODER: Darum ist das Thema Familienzeit so wichtig. Beide Elternteile müssen Anspruch auf Elternurlaub haben, wenn sie ein Kind bekommen. Damit werden Frauen vom Druck des Ausfallrisikos beim Arbeitsgeber entlastet, weil sich die Eltern diese Zeit dann teilen könnten.
KATHRIN BERTSCHY: Genau, hier geht es um die statistische Diskriminierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Diese Diskriminierung trifft alle Frauen, unabhängig davon, ob die Erwerbsreduktion eintrifft oder nicht. Diese kann nur beseitigt werden, wenn beide Geschlechter dieselben Chancen oder Risiken haben, auf dem Arbeitsmarkt auszufallen. Der Staat steht hier in der Verantwortung, das sind ja seine Gesetzgebungen. Und diese beeinflussen unsere gesellschaftliche Entwicklung stark.
Sind wir Frauen selber schuld? Fordern wir zu wenig Lohn?
CARMEN SCHODER: Mädchen werden eher dazu erzogen, gemocht zu werden. Und gemocht wird man nun einmal nicht, wenn man selbstbewusst auftritt und aktiv mehr Lohn fordert. Dann ist man zickig, hochnäsig, aufsässig. Und nicht selbstsicher. Einer Frau werden eher weniger Führungsqualitäten zugesprochen, wenn sie selbstbewusst auftritt. Und hier sehe ich den Konflikt: Man kann den Frauen nicht vorwerfen, schlecht zu verhandeln, und sie dafür bestrafen, wenn sie es tun. Das ist ein strukturelles Problem.
KATHRIN BERTSCHY: Ich denke, es gibt sowohl Männer als auch Frauen, die weniger gut oder besser über Lohnfragen verhandeln.
Wie können staatliche Massnahmen zur Durchsetzung der Lohngleichheit aussehen?
CARMEN SCHODER: Zum Beispiel mithilfe gesetzlich verordneter Lohntransparenz. Ich sehe nicht ein, warum man Jobs nicht mit einem Preisschild versehen sollte. Zum Beispiel in den Stellenanzeigen: Genauso wie man ja für jede Stelle die genauen Anforderungen und Tätigkeiten definieren muss, sollte auch der Lohn offen dargelegt werden müssen.
KATHRIN BERTSCHY: Die Voraussetzungen für Transparenz zu schaffen, ist sehr wichtig. Der Bundesrat schlägt darum vor, dass Unternehmen in Zukunft alle vier Jahre ihre Löhne überprüfen lassen. Es muss ja auch ein Wandel in der Unternehmenskultur stattfinden, eine Sensibilisierung innerhalb der verantwortlichen Positionen.
Seit Januar 2016 müssen Unternehmen dem Bund per Selbsttest beweisen, dass sie die Lohngleichheit einhalten, um einen öffentlichen Auftrag zu erhalten. Ein Schritt in die richtige Richtung?
CARMEN SCHODER: Auf jeden Fall. Aber: Das ist ein Selbsttest. Hier besteht die Gefahr, sich selbst besser einzustufen, weil die Vergleichbarkeit fehlt. Also schreiten wir sicherlich in die richtige Richtung, aber es ist noch nicht genug.
KATHRIN BERTSCHY: Wenn mit Steuergeldern Aufträge bezahlt werden, ist es richtig, dass unsere Verfassungsgrundsätze nicht verletzt werden, ja.
Wie verhalten Sie sich selber in Lohngesprächen?
CARMEN SCHODER: Ich versuche, besonders bei Vorstellungsgesprächen, so gut wie möglich vorbereitet zu sein, gerade was den Lohn angeht. Und ich versuche, meine Forderung möglichst selbstbewusst zu platzieren. Aber das ist immer eine Gratwanderung. Denn ich denke dann schon auch daran, dass ich nicht arrogant wirken möchte.
KATHRIN BERTSCHY: Eine Frage, die viele Frauen in meinem Freundeskreis vor dem ersten Vorstellungsgespräch total bewegt, ist: Wie viel Lohn soll ich fordern? Die Männer hingegen scheinen eher dazu zu tendieren, für sich eine Summe festzusetzen und die dann einfach zu fordern. Ich empfehle, sich vorher so gut wie möglich über Löhne in vergleichbaren Jobs zu informieren und die Forderung dann in der entsprechenden Bandbreite anzusetzen.
Sollen sich Frauen dem Verhalten von Männern anpassen, wenn es um Lohnforderungen geht?
CARMEN SCHODER: Ich finde nicht, dass wir unser Verhalten vermännlichen müssen. Aber es ist wichtig, diese Hürden über Bord zu werfen und in Lohngesprächen offen und bestimmt aufzutreten. Gleichzeitig wird uns Frauen dieses Verhalten angekreidet. Die Lösung liegt in einem gesellschaftlichen Umdenken.
KATHRIN BERTSCHY: Wir müssen einfach offener über diese Themen reden. Es werden ausserdem nicht nur Frauen diskriminiert. Studien zeigen, dass auch kleine Männer eher in eine tiefere Lohnstufe eingeteilt werden als grössere. Es ist wichtig, dass auch die Männer merken, dass unsere Gesellschaft nach Kategorien bewertet, auch was die Löhne angeht, die nichts mit der Leistung oder den Fähigkeiten zu tun haben, und dass das nicht fair ist. Und darum müssen nicht nur die Frauen kämpfen, das wurde lange genug uns überlassen.
Ist Lohngleichheit ein feministisches Anliegen?
CARMEN SCHODER: Es ist ein gesellschaftliches Anliegen. Das müssen die Frauen nicht allein stemmen, wir sind alle davon betroffen.
KATHRIN BERTSCHY: Genau, die Lohnungleichheit wird plötzlich als ein Anliegen von Minderheiten angeschaut, dabei ist es ein wirtschaftliches Problem. Zweiteinkommen sind steuerlich dermassen benachteiligt, dass es sich kaum lohnt, überhaupt noch arbeiten zu gehen. Dazu kommen teure Kita-Plätze und so weiter. Und gerade diese beiden Aspekte betreffen oft Frauen, die dann eher zuhause bleiben bei den Kindern. Damit fallen nicht nur die Erwerbspensen der Frauen weg, die die Wirtschaft ankurbeln könnten. Es bewahrheitet sich auch das befürchtete Szenario der Arbeitgeber: Die Frau fällt tatsächlich aus. Dabei sind die Rahmenbedingungen derart ungünstig, dass sie kaum eine andere Wahl hat.
Wie muss eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen aussehen?
CARMEN SCHODER: Wir müssen diese Thematik nicht nach Männern und Frauen einteilen. Sondern in diejenigen, die das Problem erkannt haben, und in die, die es noch nicht erkannt haben oder nicht erkennen wollen. Diese erste Gruppe muss weiterhin sensibilisieren und Massnahmen ergreifen, insbesondere auch von den Chefetagen aus, die vorwiegend männlich besetzt sind.
KATHRIN BERTSCHY: Natürlich ist das Bewusstsein für die Problematik bei den Frauen viel grösser – weil sie direkt betroffen sind. Und andererseits ist das Thema zuerst aus feministischer Sicht behandelt worden. Es ist wichtig, auch das Bewusstsein der Männer zu schärfen: Die Lohndiskriminierung betrifft nicht nur ihre Töchter, ihre Schwester, sie betrifft auch sie selber – und sie beeinträchtigt die gesellschaftliche Entwicklung.