Jennifer Bosshard zur Fussball-WM: «Ein Boykott bringt wenig»
- Text: Marie Hettich
- Bild: SRF
Journalistin Jennifer Bosshard hat für einen SRF-Dokfilm zur Fussball-WM in Katar recherchiert. Sie sagt: Wer mit dem Finger auf Katar zeigt, zeigt auch auf den Zürichberg.
annabelle: Jennifer Bosshard, Sie haben für das SRF an einem Dokfilm zur Fussball-WM in Katar mitgewirkt. Was hat Sie an dem Thema gereizt?
Jennifer Bosshard: Als Journalistin ist diese Weltmeisterschaft extrem faszinierend: Da gibt es einerseits diese riesengrosse gesellschaftliche Begeisterung für Fussball, andererseits im Falle von Katar diese öffentliche Entrüstung – und dann sind da noch all die offenen Fragen und Unklarheiten. Wie beispielsweise: Wie viele Tote gab es jetzt wirklich auf den WM-Baustellen? Drei? Oder weit über 3000? Ich wurde vom Dok-Team des SRF mit ins Boot geholt – vielleicht auch, weil mein Mann professioneller Fussballer ist. Ich bringe ein Grundverständnis für den Sport mit – und für das Business.
Hatten Sie Bedenken, dass Sie wegen Ihres Mannes nicht kritisch genug an das Thema herangehen können?
Überhaupt nicht. Mein Mann spielt ausserdem in der Super League – er hat mit der Fifa und der Organisatorin der WM also direkt nichts zu tun. Meine Bedenken waren eher, dass es nachher heisst: Ach, jetzt kommt die von «Glanz & Gloria» und will uns etwas über Fussball erzählen.
Und?
Bisher habe ich keine einzige Nachricht dieser Art bekommen.
«Der Fehler liegt im System – und nicht per se bei Katar»
Welche Frage hat Sie persönlich zum Start der Dreharbeiten besonders interessiert?
Ich habe nicht verstanden, wie es ein Land wie Katar geschafft hat, Austragungsort der WM zu werden. Katar hat drei Millionen Einwohner:innen – ist also wirklich klein –, und es gibt kaum eine Fussballtradition. Hinzu kommen Menschenrechtsverletzungen, Sexismus, Homophobie, der höchste CO2-Ausstoss pro Kopf der Welt. Aus westlicher Perspektive läuft dort vieles katastrophal.
Kann der Dokfilm Ihre Frage beantworten?
Ja, ich denke, das ist uns gut gelungen – wir mussten zur Beantwortung der Frage unter anderem auch anschauen, wieso Katar die WM unbedingt zu sich holen wollte. Die Sportoffensive Katars ist eine Überlebensstrategie – die Motivation, solche grossen Sportanlässe austragen zu können, ist dementsprechend enorm. Mittlerweile ist nachgewiesen, dass einige Mitglieder des Fifa-Exekutivkomitees für ihre Katar-Stimme tatsächlich Geld erhielten, auch wenn dies seitens der Fifa immer noch abgestritten wird.
Im Film wird deutlich: Längst nicht der einzige Korruptionsfall.
Genau! Ich habe zum Beispiel mit einer Whistleblowerin gesprochen, die offengelegt hat, dass Australien im Bewerbungsprozess um die WM genauso vorgegangen ist. Der Fehler liegt also im System – und nicht per se bei Katar.
Ist das nicht etwas zu beschwichtigend formuliert?
Vor den Dreharbeiten habe ich die empörte Grundhaltung geteilt, ganz klar. Doch seit ich für den Dokfilm die Gewerkschafterin Rita Schiavi getroffen habe, sehe ich das Ganze etwas differenzierter.
Nämlich?
Schiavi sagt, dass in der WM und der damit verbundenen internationalen Aufmerksamkeit eben genau eine Chance liegt. Katar steht extrem unter Druck, vorwärtszumachen. Und das zeigt auch Wirkung: 2020 wurde beispielsweise das Kafala-System abgeschafft, das Arbeitnehmer:innen quasi zu Leibeigenen machte. Ohne die WM hätte es mit Sicherheit keine solchen Arbeitsrechtsreformen gegeben. Zu argumentieren, dass die grosse internationale Aufmerksamkeit gerade in Katar dazu führt, dass man die WM auch als Hebel für Verbesserungen nutzen kann, finde ich valid. Ob der Wandel nachhaltig ist, muss sich erst noch zeigen, klar. Das ist auch Aufgabe der Gewerkschaften, das zu überprüfen. Und die Medien müssen Katar auch nach der WM im Blick behalten.
«Wer die WM in Katar boykottiert, müsste konsequenterweise den gesamten arabischen Raum meiden»
Also halten Sie nichts von #boycottqatar?
Wer die WM in Katar boykottiert, müsste konsequenterweise den gesamten arabischen Raum meiden. Denn die Aspekte und Werte, die man dort kritisiert, gelten in sämtlichen Ländern, deren Gesetzgebung auf der Scharia beruht. Das heisst konkret: keine Ferien in Dubai, kein Roadtrip durch den Oman, keine Handelsgüter aus der Region. Und frühere WMs hätten auch tabu sein sollen. Es macht einfach keinen Sinn zu sagen: «Ich boykottiere nur Katar. Und alle anderen Fussballweltmeisterschaften waren super.» Was ist etwa mit der WM in Russland vor vier Jahren? Wie es dort um die Menschenrechte steht, sollte uns allen klar sein.
Und die Fifa?
Auch bei der Fifa hat sich seit der WM-Vergabe an Katar und dank internationaler Empörung einiges in der Struktur verändert. Heute entscheidet nicht mehr ein 24-köpfiges Exekutivkomitee über die Vergabe der WM, sondern der Fifa-Kongress mit mehr als 200 Mitgliedern. Aber ja: Wer mit dem Finger auf Katar zeigt, zeigt auch auf den Züriberg. Dort ist das ganze korrupte System entstanden. Die Fifa kratzt es wahrscheinlich wenig, wie viele Leute die WM einschalten werden – die Fernsehrechte, mit denen die Fifa ihr Geld verdient, sind längst verkauft. Ich persönlich denke, ein Boykott zum jetzigen Zeitpunkt bringt wenig – man fühlt sich höchstens selber ein bisschen besser.
Bei Ihnen zu Hause wird die WM also laufen?
Mein Mann wird vielleicht das ein oder andere Spiel schauen. Ich bin kein grosser Fussballfan – mich hat die WM noch nie sonderlich interessiert. Für jemanden wie mich wäre es also sehr easy, sich mit einem Boykott zu brüsten (lacht).
Finden Sie, dass die Fussballbranche mehr Haltung zeigen sollte?
Dass sich viele aktive Spieler nicht zum Thema äussern wollen, ist verständlich. Die WM ist das absolute Karrierehighlight eines Spielers. Sie arbeiten so lange und so hart darauf hin. Ausserdem würden einzelne Spieler das System sowieso kaum verändern können. Da müssten vielmehr die Verbände hinstehen und sagen: Wir machen bei diesem Fifa-Zirkus nicht mehr mit.
Kritisch Fussball konsumieren – geht das?
Man muss sogar, finde ich! Selbst die grössten Fans sollten sich darüber im Klaren sein, in welchem Rahmen die Spiele stattfinden.
Jetzt in der Mediathek: «FIFA schickt Fussball-WM 2022 in die Wüste – Katars Kampf für ein modernes Image». Der 55-minütige Dokfilm mit Jennifer Bosshard (SRF) und Yacine Nemra (RTS) zeigt auf, wie sich Katar die Fussball-Weltmeisterschaft sicherte – und in welchem System dies überhaupt erst möglich wurde. Es sprechen u.a.: Laura Rowitz, Islamwissenschaftlerin und Katar-Experterin der Universität Bern, Korruptionsexpertin Sylvia Schenk und Hansjürg Zumstein, SRF-Journalist und Fifa-Kenner.