Jemima Kirke: «Ich bin Frau, Künstlerin und Mutter, das sind meine Kategorien»
- Text: Ellie Austin, Übersetzt von Daniel Gerhardt
- Bild: Instagram @jemima_jo_kirke
Von «Girls» bis zur aktuellen Serienadaption von Sally Rooneys Debütroman – Jemima Kirke ist bei der Wahl ihrer Rollen genauso unerschrocken wie als Person.
«Keine Ahnung, warum», sagt Jemima Kirke, «aber irgendwie scheinen mich alle für boho zu halten.» Die britische Schauspielerin kommt gerade von einer Fotosession für das «Telegraph Magazine», bei der sie wieder einmal «jede Menge Blumenmuster» tragen musste, «erdige Farbtöne und flatternde Kleider».
Ihr eigentlicher Stil aber, beteuert Kirke, sei viel minimalistischer. Zu unserer Lunch-Verabredung in einem spärlich beleuchteten New Yorker Bistro trägt sie dann auch einen crèmefarbenen Strickpulli, weite schwarze Hosen und Boots. Die aschblonden Haare hat Kirke zu einem lockeren Dutt zusammengebunden. Ihre goldenen Ohrringe und Ohrstecker passen nicht recht zusammen, ihre Hände und Finger sind mit feingliedrigen Spontan-Tattoos übersät.
«Vielleicht kommt die Sache mit dem Boho-Chic daher, dass ich mal eine Frau gespielt habe, die häufig solche Sachen trug», überlegt Kirke, während sie die Speisekarte studiert. «Aber wer glaubt heute noch, dass eine Schauspielerin im echten Leben genauso ist wie in einer ihrer Rollen?»
Durchstart in der Serie «Girls»
Jemima Kirke denkt natürlich an Jessa Johansson, den impulsiven, chaotischen, selbstvergessenen und durchaus hippiesken Twentysomething, den sie zwischen 2012 und 2017 in der Fernsehserie «Girls» gespielt hat. Die einflussreiche Comedy- und Dramashow handelt von vier Freundinnen, die in ihre New Yorker Tage hineinleben und auf der Suche nach Liebe, Lebenssinn und letztlich sich selbst sind.
Lena Dunham entwickelte die Serie für HBO, spielte selbst eine der Hauptrollen und verschaffte Kirke ihr gerade einmal zweites nennenswertes Schauspiel-Engagement (zuvor hatte sie 2010 in «Tiny Furniture» mitgewirkt, einem weiteren Dunham-Projekt). Der «New Yorker» war begeistert und bezeichnete Kirke als «eine der besten Schauspielerinnen» und einen «der grössten Stars, die es derzeit in Fernsehen und Kino zu sehen gibt».
Fünf Jahre nach dem Ende von «Girls» erscheint die 36-Jährige jedoch genervt von ihrer damaligen Rolle, auf die sie noch heute reduziert wird. «Als ich nach Abschluss der Dreharbeiten für die letzten Folgen nach Hause kam», erinnert sich Kirke, «kam ich mir vor wie eine Schiffbrüchige, die es endlich wieder an Land geschafft hatte. Ich wollte nur noch heulen und auf meiner Couch herumlungern. Und ich war bereit für neue Aufgaben.»
Kirke erzählt solche Geschichten mit rauer Stimme und einer Art transatlantischem Akzent: Sowohl ihren Geburtsort London als auch ihre Heimatstadt New York, in der sie seit 25 Jahren lebt, glaubt man heraushören zu können.
«Die Kinder kommen immer an erster Stelle, dieses Opfer muss ich einfach bringen»
Die Schauspielerin ist wählerischer geworden, wenn es um neue Projekte geht, an Fernsehserien mit unwägbarer Laufzeit ist sie momentan nicht interessiert. Grund dafür sind nicht zuletzt ihre Kinder Rafaella (11) und Memphis (9), um die sie sich gemeinsam mit ihrem Ex-Mann Michael Mosberg, einem ehemaligen Anwalt, kümmert. Die beiden leben im gleichen Viertel von Brooklyn, um ihrem geteilten Sorgerecht nachkommen zu können. Ihr eigenes Haus sei sehr bunt, berichtet Kirke, eingerichtet «im Vierzigerjahre-Stil mit einem pinkfarbenen muschelförmigen Bett mit Samtbezügen».
«Die Kinder kommen immer an erster Stelle», sagt Kirke. «Dieses Opfer muss ich einfach bringen. Man könnte ja meinen, dass es mit den Jahren einfacher würde, sie auch mal für ein paar Monate zu verlassen und irgendwo anders zu drehen. Aber tatsächlich fällt es mir immer schwerer. Ich habe schon so viel von ihrer Kindheit verpasst, und mit jedem neuen Job verpasse ich mehr.»
Das Rollenangebot bei «Conversations with Friends» lehnte Kirke zunächst ab
Ein fortwährender Konflikt, der wieder einmal akut wurde, als Kirke das Angebot erhielt, in einer Serienadaption von Sally Rooneys Debütroman «Conversations with Friends» mitzuspielen. Die Schauspielerin liess das Skript zunächst einmal liegen, weil sie sich gerade in Wales befand und dort neue Folgen der Netflix-Show «Sex Education» drehte.
Weder mit Rooneys Buch war sie vertraut noch mit der anzüglichen BBC-Serie «Normal People», die ebenfalls auf einem Roman der irischen Schriftstellerin basiert und ihre Hauptdarsteller:innen Daisy Edgar-Jones und Paul Mescal im Jahr 2020 zu Stars gemacht hatte.
«Ich war erschöpft und wollte nicht schon wieder Zeit ohne meine Kinder verbringen», sagt Kirke. «Also ignorierte ich die Anfrage zunächst. Später stimmte ich zu, an einem Casting auf Zoom teilzunehmen. Aber erst, nachdem ich mit ‹Sex Education› durch war.»
«Sally Rooney war einfach nicht da, sie hat die Dreharbeiten kein einziges Mal besucht»
Kirke übernahm schliesslich die Rolle von Melissa, einer hochmütigen, aber doch faszinierenden Autorin, die sich in ihrer Ehe mit dem Schauspieler Nick (gespielt von Joe Alwyn) gefangen fühlt. Sowohl im Roman als auch in der Serie wird die Geschichte aus der Perspektive der 21-jährigen Studentin Frances (Alison Oliver) erzählt. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin und einstigen Partnerin Bobbi (Sasha Lane) verstrickt sich Frances in die Eheprobleme von Melissa und Nick.
«Conversations with Friends» wurde zwischen April und Oktober 2021 überwiegend in Irland gedreht. Sally Rooney ist Kirke dort jedoch nicht begegnet, wie die Schauspielerin kurz und bündig erklärt. «Selbst wenn ich meine Figur mit ihr hätte durchsprechen wollen: Sie war einfach nicht da, hat die Dreharbeiten kein einziges Mal besucht.» Lag es vielleicht daran, dass Kirke immer wieder mit ihrer Rolle gefremdelt hat?
«Ich finde die Selbstdisziplin und den Fokus von Rooney wirklich beeindruckend», sagt Kirke, «aber als ich ihr Buch schliesslich gelesen hatte, dachte ich ständig: So schreibt halt eine 22-Jährige über das Eheleben. Das ist überhaupt nicht schlimm, Rooney ist eine tolle Autorin. Aber ich konnte einfach nicht immer nachvollziehen, worauf sie hinauswollte.»
Um dieses Problem zu lösen, griff Kirke selbst zum Stift. Am Set hat sie immer ein Notizbuch dabei, in dem sie Dinge sammelt, die für ihre Rolle hilfreich sein könnten. «Ich habe einfach aufgeschrieben, was mir durch den Kopf ging, solang, bis irgendetwas hängen blieb, was ich mit meiner Figur verbinden konnte. Das funktioniert besser, als wenn ich aus meinen eigenen Erfahrungen und meiner eigenen Ehe schöpfen würde. Darum geht es bei der Schauspielerei nicht.»
«Conversations with Friends» vermittelt ein pessimistisches Bild von Monogamie und Ehealltag. Nick und Melissa leben aneinander vorbei, Frances und Bobbi verlachen die Vorstellung, überhaupt zu heiraten. Eine Hochzeit – das ist für sie etwas Langweiliges und Einschränkendes, etwas, worauf sich nur alte Leute einlassen würden.
Langweiliges Liebesleben?
Alte Leute wie Kirke? Die Schauspielerin lebt derzeit mit dem Musiker Alex Cameron zusammen, den sie bei einem Date aufgegabelt hat, das sie selbst von ihrem Agenten arrangieren liess. Auch in Camerons merkwürdigen Videos ist Kirke bereits aufgetreten, bei einigen davon hat sie selbst Regie geführt. Ihre Ehe mit Mosberg, den sie einst in einer Entzugsklinik kennengelernt hatte, war zuvor nach acht Jahren in die Brüche gegangen.
Kann sich Kirke deshalb mit dem zynischen Ausblick der Serie zu langfristigen Beziehungen anfreunden? Die Schauspielerin kneift die Augen zusammen und überlegt. «Anfreunden wäre zu viel gesagt», erklärt Kirke schliesslich, «aber ich glaube, dass unsere Vorstellungen von ewiger Liebe heute etwas altmodisch sind. Eine Hochzeit kann einfach Teil der eigenen Entwicklung sein. Man ist wahnsinnig verliebt, feiert eine Party und trägt ein teures Kleid. Natürlich verschreibt man sich dabei auch einer anderen Person, aber wenn man sich später verändert und wieder trennen will, ist das auch in Ordnung. Das macht die Ehe nicht zu einer Fehlentscheidung. Meine Freundinnen und Freunde fragen mich das immer wieder vor ihren Hochzeiten: ‹Mache ich gerade einen Fehler?› – Woher soll ich das wissen!» Kirke lacht und zuckt mit den Schultern.
«Die spirituelle Überhöhung der Ehe und unsere Vorstellungen von Zweisamkeit kommen mir einfach überholt vor»
«Wer wirklich heiraten möchte, soll es auch tun. Und wer nicht mehr glücklich damit ist, soll sich scheiden lassen. Was ist daran schlimm? Die spirituelle Überhöhung der Ehe und unsere Vorstellungen von Zweisamkeit kommen mir einfach überholt vor.»
Kirke spricht langsam und wohlüberlegt, wenn sie auf solche Fragen antwortet. Nicht weil sie vorsichtig wäre, sondern weil ihr wirklich daran gelegen scheint, ihre Standpunkte zu erklären, statt sich hinter vorgefertigten, mehrheitsfähigen Ansichten zu verstecken. «Es passt eigentlich gar nicht zu mir, ein Interview wie dieses hier zu geben», sagt sie. «Wir tun so, als unterhielten wir uns ganz normal, aber eigentlich spiele ich schon wieder eine Rolle. Wenn ich also versuche, mich klar auszudrücken, dann tue ich das auch, weil ich mir Klarheit über mich selbst verschaffen will.»
Kirke stochert nun in ihrem Rosenkohl- und Thunfisch-Tatar herum. Vor zwei Tagen hat sie mit einer Paleo-Diät begonnen, um wieder besser auf ihren Körper zu achten. «In den letzten fünf Monaten war ich ganz Mutter und habe mich nur noch um meine Kinder gekümmert», seufzt Kirke. «Natürlich wollte ich damit auch meine langen Abwesenheiten ausgleichen und bin wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen.»
Seit ihrem Durchbruch mit «Girls» haftet Kirke der Ruf einer Partylöwin an, auch wenn diese Zuschreibung höchstens auf die Anfangstage ihrer Karriere zutrifft. Heute sieht sich die Schauspielerin eher als Stubenhockerin, die kein Problem damit hat, auch mal einen Termin oder eine Party sausen zu lassen, um Zeit mit ihren Kindern zu verbringen.
Kirke ist professionell und zuvorkommend, übertreibt es jedoch nicht mit den gespielten Nettigkeiten. Auf die Frage, ob sie heute noch Kontakt zu den anderen Darstellerinnen aus «Girls» habe, antwortet sie mit einem weiteren Schulterzucken. «Eigentlich spreche ich nur noch mit Lena Dunham ab und zu, aber auch von ihr habe ich seit ihrer Hochzeit nichts mehr gehört.» (Dunham ist seit September 2021 mit dem britisch-peruanischen Musiker Luis Felber verheiratet.). Das Thema ist für Kirke damit erledigt.
Die schillernden und kreativen Kirkes
Die Schauspielerin stammt aus einer kunstbeflissenen Familie. Ihre Mutter betrieb einst eine Boutique für Secondhand-Mode im New Yorker West Village, aus der einige jener Outfits stammen, die Carrie Bradshaw in «Sex and the City» trug. Ihr Vater war Schlagzeuger der Rockbands Free und Bad Company. Als sich Kirke mit sieben Jahren für Malerei zu interessieren begann, wandelten ihre Eltern den hauseigenen Weinkeller in ein Atelier um. Ihre Kreativität wurde also von Mutter und Vater gefördert, als Teenager aber fühlte sich Kirke oft mit ihren Problemen allein gelassen. «Ich verüble meinen Eltern das nicht, aber über manche Dinge wollten sie einfach nicht sprechen. Sex zum Beispiel – darauf hat mich niemand vorbereitet.»
«Ich glaube, dass man mit Einmischen seine Kinder versauen kann. Wer ihnen seine Überzeugungen anerzieht, wird dafür sorgen, dass sie keine eigenen Überzeugungen entwickeln»
Mit ihren eigenen Kindern möchte Kirke das anders machen. «Ich will mich nicht um die schwierigen Themen herumdrücken», sagt sie. «Sollte mir etwas Beunruhigendes auffallen, werde ich ihnen sagen, was ich davon halte und wie ich selbst damit umgehen würde. Aber ich will es natürlich auch nicht übertreiben mit der Einmischung. Ich glaube, dass man gerade damit seine Kinder versauen kann. Wer ihnen seine Überzeugungen anerzieht, wird dafür sorgen, dass sie keine eigenen Überzeugungen entwickeln.»
Jemima Kirkes Grossvater mütterlicherseits war der Milliardär und Immobilien-Tycoon Jack Dellal, ein notorischer Spieler, der dafür bekannt war, Häuser und Anwesen in kürzester Zeit zu kaufen und wieder abzustossen. 1987 etwa sicherte er sich das Londoner Bush House für 55 Millionen Pfund. Zwei Jahre später verkaufte er es für 130 Millionen.
Die Familie hat viele schillernde und kreative Charaktere hervorgebracht: Kirkes Cousinen etwa, die Designerin Charlotte Olympia Dellal und das Model Alice Dellal, mit denen die Schauspielerin gut befreundet ist. Kunstaffin sind auch ihre Schwestern: Lola arbeitet als Schauspielerin und Countrymusikerin; für sie hat Kirke mehrere Videos inszeniert (ausserdem spielten die beiden im Film «Untogether»). Domino ist Sängerin und Schauspielerin und hat als Doula unter anderem Amy Schumer durch deren Schwangerschaft begleitet.
Als die Familie von London nach Manhattan übersiedelte, besuchte Jemima Kirke zunächst die für ihre liberalen Lehrpläne bekannte und kunstorientierte Saint Ann’s School in Brooklyn. Dort lernte sie nicht nur Lena Dunham kennen, sondern freundete sich auch mit Model und Schauspielerin Paz de la Huerta («Boardwalk Empire») an.
Nicht auf Schulveranstaltungen sah man die drei zusammen, sondern in Tattoostudios oder Bars, die ihre Fake-IDs akzeptierten. «Das Bistro, in dem wir gerade sitzen, war Anfang der Nullerjahre sogar ein ziemlich cooler Ort», sagt Kirke und lacht. «Hier haben wir uns oft zu Beginn oder am Ende der Nacht zum Trinken getroffen.»
Kirke studierte schliesslich Kunst an der renommierten Rhode Island School of Design, wo sie zwischenzeitlich wegen zu vieler Fehlstunden suspendiert wurde, aber trotzdem ihren Abschluss machte. Ein übergeordnetes Thema für ihre künstlerische Arbeit fand sie erst später, mit einer Reihe von Aquarellporträts, die vornehmlich Frauen zeigten, mit denen Kirke befreundet war, und ihr Vergleiche mit der US-amerikanischen Malerin Alice Neel einbrachten. «In den letzten zwei Jahren bin ich fast gar nicht mehr zum Malen gekommen», sagt sie wehmütig. «Es fehlt mir sehr, aber ich halse mir einfach zu viele Jobs auf.»
Traumata wandeln sich in Aktivismus
Über ihre Erfahrungen als junge Erwachsene spricht die Schauspielerin seit jeher mit bemerkenswerter Offenheit. So ist etwa bekannt, dass sie mit 19 Jahren erstmals eine Entzugsklinik besuchte und mit Anfang zwanzig von einem Drogendealer vergewaltigt wurde. Letzteres machte Kirke erst im Jahr 2018 öffentlich, nachdem die Psychologin Christine Blasey Ford ihrerseits den späteren Supreme-Court-Richter Brett Kavanaugh eines sexuellen Übergriffs beschuldigt hatte.
Ebenfalls mit Anfang zwanzig wurde Kirke von ihrem damaligen Partner schwanger und entschied sich für eine Abtreibung. Um diese bezahlen zu können, liess sie den Eingriff ohne Betäubung durchführen und machte diese Erfahrung später zum Teil einer Kampagne des Center for Reproductive Rights.
Vor einigen Jahren postete Kirke zum Muttertag eine Dankesbotschaft an die Nanny ihrer Kinder auf Instagram. «Danke, dass du mich vor grosser Langeweile bewahrt hast», hiess es darin, «denn es macht mich wirklich fertig, mit Kindern spielen zu müssen.» Mit Bezug auf zahlreiche Kommentare, die den Post als «beschämend» und «traurig» bezeichneten (einige begrüssten auch Kirkes Ehrlichkeit), sagt die Schauspielerin heute: «Ich musste mir wirklich viel Kritik anhören, und ich verstehe das auch. Ich wollte nur der Nanny meiner Kinder für alles danken, was ich nicht selbst leisten kann. Aber da sie schwarz ist, fühlten sich viele an die Rolle als Erzieherin und Betreuerin erinnert, die Sklavinnen einst in reichen weissen Familien ausfüllen mussten.»
Eine gute Figur als Mutter machte Kirke während der Dreharbeiten zu «Conversations with Friends». Einmal sass sie abends mit ihrem Co-Star Joe Alwyn und dessen Partnerin Taylor Swift zusammen und erzählte der Popmusikerin, dass ihre Tochter ein riesiger Fan sei. «Taylor sagte: ‹Lass uns doch mal bei ihr anrufen!›», erinnert sich Kirke. «Ich war zunächst skeptisch und machte mir Sorgen, dass Rafaella vor Schreck sterben würde. Tatsächlich war sie völlig ausser sich und begann zu schluchzen, als wir anriefen. Aber dann schrieb sie mir wenig später eine Nachricht und meinte: ‹Lass es uns noch einmal versuchen.› Sie lachte, sie weinte und hielt sich die Augen zu. Sie wusste einfach nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte.»
Nach dieser Anekdote kommen wir noch einmal auf das Thema Social Media zu sprechen. Wie entscheidet Kirke, worüber sie postet und worüber nicht? Ihre Antwort beginnt mit einem Zitat von F. Scott Fitzgerald: Einen intelligenten Mann, soll der Schriftsteller einmal gesagt haben, erkenne man daran, dass er zwei gegensätzliche Gedanken im Kopf behalten und trotzdem weiter funktionieren könne. «Ich glaube, dass uns genau diese Fähigkeit gerade abhandenkommt», sagt Kirke. «Im Internet und in Zeiten der Cancel Culture scheint niemand mehr zu verstehen, dass es keine Verpflichtung dazu gibt, sich bestimmten Ansichten oder Rollen mit Haut und Haar zu verschreiben.»
«Ich identifiziere mich nicht mit solchen Zuschreibungen, genauso wenig, wie ich mich hetero- oder homosexuell fühle»
Ähnlich offen reagiert Kirke auf die Frage, ob sie sich eher britisch oder US-amerikanisch fühle. «Ich identifiziere mich nicht mit solchen Zuschreibungen, genauso wenig, wie ich mich hetero- oder homosexuell fühle.» Die Schauspielerin überlegt kurz und sagt dann: «Ich bin Frau, Künstlerin und Mutter. Das sind die Kategorien, in denen ich mich wiedererkennen kann.»
Die Veränderungen in der Unterhaltungsbranche findet Kirke nicht immer gut
Obwohl sie sich als Frau mit progressiven Ansichten versteht, hat die Unterhaltungsbranche in den letzten, durch die #MeToo-Bewegung geprägten Jahren auch einige Veränderungen erlebt, die Kirke ratlos zurücklassen. Am Set von «Sex Education» und bei vielen anderen Produktionen gibt es inzwischen sogenannte Intimacy Coordinators, die Schauspieler:innen etwa bei Sexszenen zur Seite stehen sollen. Kirkes Ansichten zu dieser Neuerung sind komplex. «Ich habe bisher nicht mit Intimacy Coordinators zusammengearbeitet», sagt sie und lehnt sich nach vorn. «Mir gefällt aber die Vorstellung, dass Sexszenen von diesen Leuten vorab choreografiert werden. Zu meinen Sexszenen in ‹Girls› gab es damals kaum Regieanweisungen. Sie wurden nicht so minutiös durchgeplant wie die Dialoge, weshalb ich mir manchmal etwas verloren – oder vielleicht eher allein gelassen – vorkam.
Ich kann mir vorstellen, dass sich andere Schauspieler:innen damit unwohl gefühlt haben, aber ich fand es eigentlich immer aufregend. Nicht auf sexuelle Weise, sondern einfach aus Neugierde. Ich wollte wissen, wie sich das anfühlt, nackt vor der Kamera aufzutreten und Sexszenen zu drehen, während irgendwelche Tontechniker:innen und andere Leute von der Crew zuschauen.» Alle Beteiligten eines Drehs sollen sich am Set heute so wohl wie möglich fühlen.
Kirke fragt sich manchmal, ob darunter nicht der künstlerische Wert mancher Projekte leiden könnte. «Das Umfeld ist schon steriler geworden, und alle sind sehr darauf bedacht, sich keine Ausfälle zu erlauben», sagt sie mit einem Anflug von Resignation in der Stimme. «Ich glaube, dass sich Schauspieler:innen nicht immer hundertprozentig wohl fühlen müssen, wenn sie einen Film oder eine Serie drehen. Man sollte es sich nicht zu bequem machen. Aber ich weiss natürlich auch, dass die Grenzen zwischen einem herausfordernden künstlerischen Arbeitsklima und einem toxischen oft fliessend verlaufen. Wir sollten nur aufpassen, dass wir Unbehagen nicht zu einer grundsätzlich negativ behafteten Sache machen.»
«Girls» in der Kritik
Schon während ihrer Laufzeit zwischen 2012 und 2017 hatte die Serie «Girls» nicht nur eine treue Anhängerschaft, sondern auch viele Gegner:innen, deren Kritikpunkte manchmal einleuchtend erschienen (fast alle zentralen Rollen in der Serie waren mit weissen Schauspielerinnen besetzt), manchmal aber auch lächerlich (eine Frau mit Dunhams Körper sollte sich nicht nackt vor der Kamera zeigen). Wie würde die Serie wohl heute aufgenommen, zehn Jahre nach ihrem Start, von einem Publikum, das ein neues Bewusstsein für soziale und gesellschaftliche Fragen entwickelt hat? «Nicht gut», glaubt Kirke. «Lena hat damals ein völlig furchtloses Projekt durchgesetzt. Das wäre heute nicht mehr möglich. Der Druck wäre zu gross, sie würde Angst bekommen.»
«Eine Fortsetzung von ‹Girls›? Klar!», ruft Kirke. Um hinterher zu flüstern: «Wenn die Gage stimmt»
Trotzdem hat Dunham Anfang des Jahres gesagt, dass sie durchaus offen sei für eine Neuauflage von «Girls». Könnte sie dabei auf Kirke zählen? «Klar», ruft die Schauspielerin, um dann hinterher zu flüstern: «Wenn die Gage stimmt. Ich hoffe, dass mich das Publikum nicht wieder so sehr mit meiner Rolle als Jessa gleichsetzen würde, aber ich könnte mir vorstellen, dass auch sie heute zwei Kinder hätte, wahrscheinlich von zwei verschiedenen Männern. Und sie würde die Kinder allein grossziehen, vielleicht mithilfe einer Nanny, die sie allerdings als ihre persönliche Assistentin bezeichnen würde.»
Ein letzter Spruch, Kirke steht auf, wirft ihren Mantel über und erklärt, dass sie jetzt nach Hause müsse, zu einen Termin mit ihrer Haushälterin. Die Schauspielerin mag sich ärgern über Vergleiche mit ihrer bekanntesten Rolle, aber eins hat sie doch mit Jessa gemein: Die Entschlossenheit, immer das zu sagen und zu tun, was sie will – ohne sich auch nur eine Sekunde lang darum zu sorgen, was andere davon halten könnten.