Wies Bratby berät Frauen bei Lohnverhandlungen. In einer fünfteiligen Serie deckt sie für uns Karrieremythen auf. Lesen Sie hier den zweiten Beitrag.
Mythos Nummer 2: «Sie verlieren nur ein wenig Geld, wenn Sie Ihren Lohn nicht verhandeln.»
Meine Damen, was halten Sie davon, über Ihren Wert zu verhandeln? Sehen Sie seit meiner letzten Kolumne möglicherweise ein, dass diese Verhandlungen tatsächlich die Beziehung zu Ihrer Chefin verbessern können? Gut! Denn sie sind wichtig.
Sie denken sich vielleicht: «Sicher, es würde nicht schaden, noch ein paar Hundert Franken mehr im Monat zu verdienen. Ich könnte etwas auf die Seite legen, mal ein neues Paar Schuhe kaufen – aber das wird mein Leben nicht verändern. Und dieser Betrag ist den Stress nicht wert, eine Lohnverhandlung anzuzetteln.» Ich verstehe, dass Sie so denken. Als Frauen sind wir nicht dazu erzogen worden, für uns selbst einzustehen. So kann sich das Verlassen unserer Komfortzonen – um es vorsichtig auszudrücken – einschüchternd anfühlen. Aber: Wenn Sie Ihr Gehalt nicht verhandeln, verpassen Sie viel mehr als nur ein paar hundert Franken im Monat. Denn die paar Hundert Franken summieren sich sehr schnell, besonders wenn man die Zinseszinsen berücksichtigt.
Nehmen wir das Beispiel von Bob und Bella, zwei fiktive Figuren. Tun wir so, als wären sie beide 30 Jahre alt. Beiden wird ein identischer Job im selben Unternehmen für 100 000 Franken im Jahr angeboten.
Bella ist mit dem Angebot zufrieden (oder wagt es nicht, mehr zu verlangen) und akzeptiert es, ohne zu verhandeln. Bob hingegen weiss, dass man bei Stellenangeboten fast immer mindestens fünf Prozent mehr bekommen kann, als beim ersten Angebot (und dass die Personalabteilung von Ihnen erwartet, dass Sie verhandeln). Also bittet er um fünf Prozent mehr und bekommt sie auch. Die Frage hat ihn fünf Minuten mehr gekostet, keine grosse Sache.
Nun stellen wir uns vor, dass sowohl Bella als auch Bob in den nächsten 30 Jahren weiterhin in diesem Unternehmen arbeiten und dabei identische jährliche Steigerungen von vier Prozent erzielen. Am Ende der 30 Jahre wird es einen Unterschied von fast 300 000 Franken in ihrem jeweiligen Verdienst geben – nur wegen eines fünf-minütigen Gesprächs.
Nehmen wir nun ein viel realistischeres Szenario, in dem Bob und Bella nicht 30 Jahre lang in derselben Firma in der gleichen Rolle arbeiten, sondern alle fünf Jahre wechseln. Jedes Mal verhandelt Bob, denn aufgrund seines anfänglichen Erfolgs liebt er es und er erzielt immer bessere Ergebnisse. Bella zögert immer noch. Sie hat es nie versucht, hat nie Erfolg gehabt und deshalb findet sie es unangenehm, nach dem zu fragen, was sie eigentlich wert wäre. Sie bekommt jeweils nur die routinemässigen fünf Prozent als Steigerung, die ihr angeboten werden, um den Sprung in ein neues Unternehmen oder eine neue Rolle zu schaffen.
Jetzt liegt die Differenz des lebenslangen Einkommens bei mehr als drei Millionen Franken!
Und das alles ist darauf zurückzuführen, wie Bob und Bella über Verhandlungen denken: Bob hat Freude daran. Bella möchte lieber nicht über Geld sprechen, weil sie nicht glaubt, dass es wichtig ist und weil sie nicht daran glaubt, dass es den Stress wert ist.
Aber nicht nur der finanzielle Verlust wäre zu Bellas Nachteil, sondern auch das Fehlen des Respekts, der sich einstellt, wenn man seinen Wert kennt und diesen effektiv kommuniziert. Denn wer für sich selbst einsteht, tut dies auch für das Unternehmen. Und das hat einen Einfluss auf die eigene Zukunft, wenn es beispielsweise um Projekte, Beförderungen und andere tolle Karrieremöglichkeiten geht. Sie werden nicht an die verteilt, die es am meisten verdienen, sondern an die, die danach fragen!
Wies Bratby leitet Women In Negotiation, ein Coaching-Unternehmen, das sich darauf spezialisiert hat, Frauen in Unternehmen beizubringen, ihre Karriere und ihren Lohn zu verhandeln. Weitere Infos hier