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Jede Stimme ist wichtig

Leben

Jede Stimme ist wichtig

  • Text: Kerstin Hasse

Als kleines Mädchen stellte ich mich einmal während eines Familienabendessens auf den Esstisch, beugte mich zu meinem Vater vor, hob den Zeigfinger und sagte zu ihm: «Du bist jetzt ruhig!»

Er hatte es zuvor gewagt meinem älteren Bruder zu widersprechen. Weil mir aber seine Argumentation nicht gefiel, und ich anscheinend schon als Vierjährige recht selbstbewusst war, machte ich meinem Ärger lautstark Luft.

Ich kann mich an diese Episode kaum mehr erinnern, aber meine Eltern erzählen sie gern immer und immer wieder. Mein Vater rezitiert sie oft an Familienfesten – mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Diese kleine Geschichte erklärt, wie ich aufgewachsen bin. Bei uns zuhause war jede Stimme wichtig, wir waren immer eine fünfköpfige Demokratie. Meine Eltern gaben mir und meinen beiden Geschwistern stets das Gefühl, dass unsere Meinung zählt. Meine Schwester und ich wussten, dass uns alle Türen offe standen. Uns kam nie die Idee, dass wir irgendwas nicht machen konnten, weil wir Mädchen waren. Pah! Im Gegenteil!

Deshalb verspürte ich auch lange nicht das Bedürfnis, in der Öffentlichkeit betonen zu müssen, eine Feministin zu sein. Ich wusste ja, dass ich tun kann, was ich will. Das änderte sich erst, als ich erste Erfahrungen in der Arbeitswelt sammelte. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion, die ich moderierte. Ein älterer Politiker, der als Gast auf der Bühne sass, verhielt sich sehr dominant. Ich wusste das bereits vorher, und ich wusste auch, dass ich damit umgehen kann. Bei einer Antwort jedoch – er sagte so was wie «Das müssen Sie nicht so ernst nehmen» – tätschelte er jovial meinen Arm. Er wollte die Diskussion beenden, mich ruhigstellen. Ich kam mir vor wie ein Kleinkind. Ich machte aber nichts, ich lachte einfach und ging über zur nächsten Frage.

Bis heute macht mich diese Szene wütend, bis heute bereue ich, dass ich ihn nicht entlarvt habe. Immer wieder traf ich auf Männer, die glaubten mir als Frau die Welt erklären zu müssen. Diesem Mansplaining hätte ich oft gern ein «Du bist jetzt ruhig!» entgegen gehalten, wie damals meinem Vater. Ich tat es nicht – zumindest nicht immer. Aber ich sollte es öfter tun.