annabelle-Reporter Frank Heer besuchte das Haus seiner Kindheit – und fand Löwen und Krokodile
Eine Kollegin meinte kürzlich, ich solle in dieser Kolumne endlich einmal etwas weniger Durchgeknalltes schreiben, etwas nicht so Vollbeknacktes oder total Abgefahrenes. «Einfach mal was ganz Normales», sagte sie. «No problemo», antwortete ich. Titel und Autorenzeile gelangen mir mühelos, danach versiegte der Schreibfluss, und ich starrte ins Leere.
Immer wenn ich an etwas denke, das nicht abgefahren ist, fällt mir Uzwil ein. Uzwil verfügt über die wichtigsten Attraktionen, die den Lebensraum von 12 780 Menschen so normal wie möglich gestalten: Ein Freibad mit 5-Meter-Sprungturm. Naherholungsgebiete, Fabriken, Papeterie-Museum. Verkehrskreisel mit angewandter Kunst. Einen Eishockeyclub, der mal in der NLB war. Einfamilienhausquartiere, Landwirtschaftszonen und einen SVP-Wähleranteil von 39 Prozent. Nichts sprengt den Rahmen des Erwartbaren. Und kein Mensch, der in Uzwil geboren wurde, hat jemals eine Autobiografie verfasst. Das wird bei mir – born and raised in Uzwil – nicht anders sein.
Zufällig lag auf meinem Pult «Das Magazin» des «Tages-Anzeigers». Ich las den ersten Satz von Max Küngs Briefkolumne und tippte ihn zur Hälfte ab. Wenn Sie das jetzt stutzig macht: Aus Spargründen ist Abschreiben unter Journalisten heutzutage ganz normal. Wir kolportieren nicht nur Fake News, wir kolportieren uns auch gegenseitig. So weit, so lustig, doch jetzt wirds spannend: Küng deckt in seiner Kolumne auf, dass die frühere Fernsehmoderatorin und heutige annabelle-Autorin Gülsha Adilji aus Uzwil SG stammt und es der Zufall will, dass auch er, Küng, ein Ur-Uzwiler ist. Danach folgt die Paraphrasierung eines Wikipedia-Eintrags, der die wackere Gemeinde trotz Autobahnanschluss so trostlos wie ein Schlittschuh mit abgerissener Kufe erscheinen lässt. Auch nicht fair, denke ich und steige ins Auto.
Die Fahrt von Zürich nach Uzwil dauert so lange wie das Album «Dream River» von Bill Callahan. Vor dem Nachkriegs-Zweifamilienhaus meiner Kindheit kommt mein Opel Rekord zum Stillstand. Längst leben hier andere Menschen, die Obstbäume vor ihren Fenstern sind verschwunden, die Kuhwiese ist verbaut. Im rechten Hausteil hatten wir gewohnt, im linken Familie W. Frau W. war sehr freundlich und hörte den ganzen Tag klassische Musik. Im Sommer lag sie im Liegestuhl auf der Terrasse und bespielte das Quartier mit Beethoven. Ihr Grossvater war Arzt in Afrika gewesen, darum sah es bei unseren Nachbarn aus wie im naturhistorischen Museum. Gleich beim Eingang stand ein abgesägter Elefantenfuss. Die Wände zierten Speere, Trommeln und Tierhäute. Überall lagen Löwen- und Leopardenfelle, man musste aufpassen, nicht in ihre aufgerissenen Rachen zu stolpern. Spähte man durch die Gardinen in die Gärten, sah man Stachelbeeren und Gartenzwerge. Kinder robbten mit Pfeil und Bogen durch die Büsche, auf dem Rasen zerriss die Katze eine Maus. Mein Freund und ich hatten finnische Dolche. Vor der Garage bauten wir ein Floss, um abzuhauen, die Thur war unser Dream River, auf dem wir bei der ersten Schwelle kenterten.
Ich öffne das Fenster und höre den Fluss. Oder ist es das Rauschen der A 1? Egal. Ich schliesse die Augen und renne über die Wiese zum Obstbaum, der eine gigantische Sumpfzypresse ist. In seinem Geäst bin ich sicher. Ich werfe Birnen auf ein Krokodil, im Quartier brüllt ein Löwe. Das ist Uzwil, denke ich, als ich nachhause fahre. Da komme ich her. Das ist meine Heimat. «And I’m headed home», singe ich mit Bill Callahan.